Krise – welche Fortschritte hat sie uns gebracht?

AutorIn: Kaori Mogi

Vor zehn Jahren, am 11. März 2011, bebte die japanische Erde. Es war die sogenannte Fukushima-Katastrophe, von der mehrere große Erdbeben und Tsunami ausgingen – und eine der größten Strahlenkatastrophen seit Tschernobyl 1986 im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi folgte. Seitdem sind nun schon zehn Jahre vergangen. Hat diese Katastrophe das Land Japan verändert und die Japaner etwas Neues gelehrt? Wer im September 2019 einen Zeitungsartikel darüber in Deutschland gelesen hat, kann davon enttäuscht sein. Denn dort stand: »Fukushima – keiner ist schuldig« und »Wegen der Atomkatastrophe vor acht Jahren muss keiner der Verantwortlichen ins Gefängnis. Der Tsunami sei nicht vorherzusagen gewesen, so die Richter.« Der Artikel berichtet von diesem Ergebnis des Gerichtsverfahrens, obwohl seit damals viele Todesopfer zu beklagen sind, tausende und abertausende Menschen wegen der Kernschmelze in allen drei Reaktoren aus ihrer Heimat fliehen mussten und zum Teil die Umgebung der Reaktoren immer noch wegen der hohen radioaktiven Strahlung unbewohnbar sind usw. Trotz der wissenschaftlich nachgewiesenen Prognose einer möglichen Tsunami-Gefahr im Jahr 2008 hatte der Kraftwerksbetreiber Tepco nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen. Diese Verfehlung durch den Staat und die Kraftwerksbetreiber hatten mehrere Gerichte festgestellt. Trotzdem muss keiner die Verantwortung tragen und wird zu konkreten Entschädigungen für die von der Katastrophe betroffenen Bürger verpflichtet.1 Schlussendlich ist immer noch weder die Situation wirklich aufgeklärt worden, noch wurde der Impuls zum Atomausstieg in Japan von der Regierung aufrecht erhalten. Hat die Gesellschaft keinen Wandel genommen?

 

Als sich im März 2020 die sogenannte Corona-Pandemie in Deutschland und in der Welt ausbreitete, begegnete mir immer wieder die folgende Aussage von einzelnen Japanerinnen und Japanern: »Es ist wie in der Zeit von Fukushima.« Sie sind diejenigen, die durch die Fukushima-Katastrophe ihr Leben ganz anders führen mussten oder anders zu führen begannen. Damals herrschte in Japan eine große Unsicherheit vor der Zukunft – denn es hätten ja weitere, schwerere Erdbeben folgen und daraus weitere Atomunfälle und die Verseuchung von Luft, Wasser und Erde kommen können. Außer den gesundheitlichen Sorgen und Ängsten traten besorgniserregende Veränderungen der Regierungsgesetze auf, die massiven negativen Einfluss auf unser Leben nehmen könnten, und vieles mehr.

Die Aussage der Japanerinnen und Japaner endete aber nicht mit der Sorge, sondern es folgte sinngemäß ungefähr: »Was ich damals (bei der Fukushima-Katastrophe) nicht konnte, kann ich aber in dieser Pandemie-Krise anders tun. Ich weiß, dass mir trotz der unmöglichen Situation dennoch vieles möglich werden kann, wenn ich will.« Ein Freund von mir, der in unmittelbarer Umgebung von der durch die Fukushima-Katastrophe betroffenen Präfektur Iwate wohnt, erzählte mir neulich, dass manche Menschen aus dieser Gegend eine Formulierung seit der Kata­stro­phe immer wieder auf die Lippen bringen: »Vor Fukushima war ich …«, »… nach Fukushima aber …« Die Menschen haben begonnen, über ihr bisheriges Leben selber nachzudenken und sich konkret zu entschließen, aus sich heraus das Leben anders zu gestalten oder ihm einen anderen Sinn zu geben.

Durch die unermüdlichen Bemühungen und die Ausdauer der Bürgerinitiativen von Betroffenen wurde Ende September 2020 durch ein Urteil des Oberlandesgerichts Sendai/Iwate festgelegt, dass sich der Staat und die Firma Tepco gegenüber dem Leid mehrerer Tausend Bürger verantworten müssen. Zwar haben der Staat und die Firma Tepco Berufung gegen den Beschluss des Gerichts eingelegt, sodass die endgültige Entscheidung noch aussteht, aber es ist diesbezüglich eine wichtige Wende für mehrere Verfahren eingetreten, sodass die Schwachen nicht weiter von der Macht der Starken zum Schweigen gebracht werden können.2

Es macht mir Hoffnung, dass sich jeder Mensch – von seinem Platz auf der Erde aus – trotz alledem suchend und fragend bemühen kann, als einzelner Mensch aus seinem Leben Sinnvolles und Fruchtbares hervorzubringen. Und so kann ich mich fragen: Was werde ich in fünf oder zehn Jahren sagen können; »Vor der Corona-Pandemie war ich…«, »… nach der Corona-Pandemie aber …«.

 

---

1  WAZ, 20. September 2019, Nr. 219, Panorama

 

https://genpatsu.tokyo-np.co.jp/page/detail/1696#
(leider nur auf
Japanisch lesbar)