Bergpredigt – von der Zukunft in der Gegenwart

AutorIn: Georg Schaar

Es ist ein mühsamer Morgen. Das Töchterlein ist wohl schlecht aus der Nacht gekommen. Nichts ist recht, das Frühstück nicht, die sparsamen, beruhigenden Worte nicht, die Morgenwäsche schon gar nicht. Irgendetwas drückt … Ein Blick des Vaters aus dem Fenster bringt ein wenig Erleichterung: Zum Glück ist das Wetter nicht schlecht, da kann die Kleine ins Freie. Dort ist sie dann doch meistens gerne. Gesagt, getan: die Schmuddel-Kleider für draußen liegen in der Garderobe und sind rasch angezogen, trotz mangelnder Mithilfe. Nun ab in den Garten! – Beim Hinausgehen wird das Protestgegrummel schon leiser. Ein gurrender Täuberich auf dem Garagendach lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, und der Vater kann sich nach einer kurzen Weile unbemerkt in die Wohnung zurückbegeben, um die liegengebliebenen Arbeiten zu erledigen. Mal sehen, was aus alledem werden wird …

 

Ein unauffälliger Blick nach einer halben Stunde zeigt eine veränderte Situation: In einem kleinen Winkel im hinteren Teil des Gartens ist die lehmige Erde seit einiger Zeit etwas gelockert. Vor ein paar Tagen ist dort im Spiel eine kleine Grube entstanden. Ein kurzer Regenguss gestern hat die Erde feucht erhalten. Nebendran liegt ein Haufen Zweige vom Baumschnitt im Winter, schon klein geschnitten, um bei nächster Gelegenheit verbrannt zu werden. Zwischen Erdgrube und Reisighaufen hockt das Mädchen und hat Stöckchen in einem Karree aufrecht in die Erde gesteckt. Die schmalen Zwischenräume sind mit sorgsam gekneteten Erdkügelchen verstopft. Wände sind entstanden. Und gerade in diesem Augenblick wird wohl das Dach angefangen, das Dach über dem Haus – denn ein Haus wird es, ohne Zweifel, was da entsteht. Leider sind die Stöckchen nicht gerade, die dafür zur Hand sind. Es liegen zwar schon genügend auf der Öffnung. Aber nun soll auch da mit Hilfe der Erdkügelchen alles verschlossen werden – denn was wäre das für ein Dach mit großen Löchern zum Himmel?! Dumm nur, dass die gebogenen Stöckchen sich immer wegdrehen, wenn das Gewicht eines Erdkügelchens auf ihnen zu lasten beginnt. – Mit größter Aufmerksamkeit schaut das Töchterlein auf seine Hände: Die linke fasst vorsichtig das widerspenstige Zweiglein und hält es in seiner Lage fest, während die rechte ein größeres Kügelchen so andrückt, dass es zwischen dem gehaltenen und dem Nachbarstöckchen haften bleibt. So kann es gehen …

 

Die Welt ringsum ist versunken. Die Zeit scheint im hingebungsvollen Tun einen Augenblick stillzustehen. Die Hände sind schon geschickt und finden allmählich die richtigen Griffe, während die Seele mit größter Aufmerksamkeit in ihrem Tun aufgeht. Über allem liegt eine Stimmung, die schwer zu benennen ist: ernst oder heiter? Oder beides zusammen? Das leise Knirschen der väterlichen Schritte auf dem Gartenweg wird nicht wahrgenommen. Erst durch ein Räuspern löst sich der magische Moment auf, das Töchterlein schaut hoch, ein freudiger Glanz überfliegt das Gesicht: »Guck mal, Papa …«

 

Ist es das, was wir Seligkeit nennen können? Dieses Aufgehen im Augenblick, wo tätiges Hervorbringen und Entgegennehmen – hier z.B. die Bedingungen des Materials und der physischen Gesetzmäßigkeiten – zusammengehen? Wo Vergangenheit und Zukunft nicht geschieden sind, sondern einer großen Gegenwart angehören? Wo »schon können« und »erst noch zu lernen haben« sich in einem stetigen Vorgang zu durchdringen beginnen? Wo die leidige Trennung zwischen innen und außen, ich und du – Himmel und Erde für einen Wimpernschlag aufgehoben ist?  – Ja, auch zwischen Himmel und Erde! Ich versuche mir für einen Augenblick vorzustellen, was das für eine Himmelswelt ist, in der schaffendes Empfangen waltet, wo Erdenfähigkeiten in Himmelsbedingungen einbezogen werden. Auf alle Fälle keine Verhältnisse wie in Tom Sawyers Vorstellungen: gelangweiltes Schlürfen von Nektar und Ambrosia sowie Klimpern auf der Harfe, weil sonst nichts passiert …

 

Mir scheint, dass wir als Kinder alle einmal damit begabt waren. Solche Augenblicke gehören zum stillen Glanz jeder Kindheit hinzu, der ja erstaunlicherweise auch in hoch problematischen Verhältnissen zu finden ist. Und wenn die Kindheit endet: gibt es das nicht mehr? Die mehr oder weniger deutliche Trauer, wenn mit der Pubertät das Kindheitsparadies verloren geht, kennt neben der Vorfreude auf Selbständigkeit in irgendeiner Form wohl jeder. Allmählich aber beginnt das Verlorene sich neu zu erschließen – allerdings mit einem ganz anderen Zugang! Denn während es in der Kindheit vor allem darum ging, beim Eintauchen in diesen Zustand nicht von irgendeiner Seite gestört zu werden – weder von der eigenen Leiblichkeit noch von der Umgebung – braucht es jetzt eine bewusste Hinwendung, eine willentliche Suche danach. Das Schöne ist, dass es keine Lebensbereiche, keine Aufgaben gibt, wo das nicht möglich wäre. Man vergegenwärtige sich eigene Erfahrungen oder die anderer Menschen: Es kann dem Chirurgen bei einer Operation genauso ergehen wie einem, der hingebungsvoll Räume putzt. Es kann während einer herausfordernden Bergtour eintreten wie auch in der Bewältigung eines anspruchsvollen geistigen Problems, im Aufführungsaugenblick einer Musik, wo der Spieler demütig erlebt, dass »es spielt« – wie auch im Aufgehen in einer handwerklichen Arbeit. Wer einmal »über sich hinausgewachsen ist« und eintreten durfte in diesen besonderen Raum, trägt auf immer eine Sehnsucht danach in sich und wird versuchen, ihm wieder nahezukommen. Dabei zeigt sich, dass es dafür förderliche – und hinderliche Bedingungen gibt: Förderlich ist die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit überhaupt einer Sache ungeteilt zuwenden zu können, sich zu konzentrieren. Darüber hinaus hilft es, schon einige Schritte auf dem Weg in das betreffende Lebensgebiet hineingegangen zu sein, sprich ein Minimum an Können. Und schließlich die Bereitschaft, sich wirklich mit allen zur Verfügung stehenden Kräften für den Augenblick einzusetzen. In einem bequemen Erschlaffen bleibt das ersehnte Ziel sehr fern.

 

Das alles ist gezielt und bewusst zu schaffen. Merkwürdigerweise wachsen mit den Anstrengungen aber auch die Hinderungen, gleichgültig, ob sie aus dem eigenen Inneren emporwachsen oder sich aus dem Umkreis einstellen. Zu allererst ist die Illusion zu überwinden, ich könnte den Zustand des seligen Aufgehens im Augenblick »machen«, ihn mit Können, Anstrengung oder irgendwelchen Tricks erzwingen. Er stellt sich zu gegebener Zeit ein – und bis dahin stehe ich in Bezug auf seinen Eintritt immer »arm« da, egal, wieviel Vorarbeit schon geleistet wurde. Diese Demut fällt nie leicht, schon gar nicht, wenn man schon »viel« zu bieten hat.

 

Eine weitere Schwierigkeit ist das Hängen an Ergebnissen, an dem, was schon geworden ist: Es ist doch schön, was alles entsteht, gleichviel, ob es vorgefunden oder selbst erzeugt ist. Ich kann es anschauen, das (Selbst)Bewusstsein kann sich darauf abstützen – und so ein wenig stolz darf man ja wohl auch darauf sein!? Wenn es nun aber zerbricht, das Gewordene, wenn es unwiederbringlich schwindet, verloren- oder kaputtgeht: was bleibt dann noch anderes als abgrundtiefe Trauer? – Wie anders ist aber das Erleben in der selbstvergessenen Gegenwart! Alles Bestehende muss nicht unverändert bleiben, sondern kann ergriffen, in neue Zusammenhänge gestellt, aufgelöst und – gewandelt werden. Im Nachklang solcher Erfahrungen beschleicht mich die Ahnung, dass es da eine wunderbare Wandlungskraft in der Welt gibt, an der ich für einen Augenblick Anteil hatte.

 

Als ob das beides aber nicht schon anspruchsvoll genug wäre, stellen sich mir im Weiteren auch noch alle die seelischen »Unruhestifter« aus dem eigenen Inneren entgegen, die sich so schnell bemerkbar machen, wenn es nicht so läuft wie gewünscht: die Ungeduld, wenn das angestrebte Ziel, verflixt und zugenäht, immer noch nicht erreicht ist; der Zorn über den x-ten missglückten Versuch steigt mächtig auf, der Hunger nach Anerkennung, die Enttäuschung über fehlende Entfaltungsmöglichkeiten … Jeder mag die Liste beliebig ergänzen. Ihnen allen ist zu eigen, dass sie sich vehement bemerkbar machen – und hinderlich dabei sind, wenn es gilt, restlos in einem zeitvergessenen Tätigsein aufzugehen. Die oben beschriebene Stimmung des Kindes ist wohl die geeignete Grundlage dafür, dass immer neue, menschliche Gestaltungen entstehen. »Selig die Sanftmütigen …« – Ja, was ist eigentlich mit der Bergpredigt, über die doch eigentlich gesprochen respektive geschrieben werden sollte?

 

Dem einen oder anderen mag schon leise der Verdacht gekommen sein, dass seit Beginn nichts anderes Thema war, abgesehen davon, dass hinter den drei bisher beschriebenen Hinderungen die drei ersten »Begnadungen« der Bergpredigt leuchten: »Selig, die arm sind vor Gott …«, »Selig, die Trauer tragen …«, »Selig die Sanftmütigen …« – Hier möchte ich innehalten und die weiteren Seligpreisungen offenlassen. Haben wir zu einem solch wunderbaren, aber wie so oft im religiösen Bereich auch etwas abgenutzten Wortlaut wie »Selig sind …« als Erwachsene einen Erlebnis- und Erfahrungszugang, der gedankliche Verständnisbemühungen nicht voraussetzt oder ausschließt, sondern anregt? Die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten von »makarioi« weisen darauf hin, dass eine von verschiedenen Seiten zu beschreibende Wirklichkeit gemeint ist: »Geisterfüllt sind …« oder »Begnadet sind …« zum Beispiel. Es ist eben mit unseren sprachlichen Möglichkeiten so schwer, etwas zu beschreiben, was Schaffen und Empfangen gleichermaßen einschließt. Aber vielleicht ist aus dem bisher Gesagten deutlich geworden, dass mit dem »Selig …«, »Begnadet …«, »Geisterfüllt …« etwas gemeint ist, was nicht in ferner, unerreichbarer Zukunft liegt, sondern sich zart, aber wirkmächtig immer wieder in die Gegenwart hereinschenkt. Als kostbare »Anfangsgabe« durften wir als Kinder darin eintauchen. Erwachsen geworden wird es zu einer Entwicklungsaufgabe, die Bedingungen für das »Hineintreten in die gegenwärtige Zukunft« tätig hervorzubringen.

 

Nimmt es wunder, dass der Christus am Beginn des Selbständigwerdens der Menschheit seinen Jüngern in keimkräftigen Worten in die Seelen schreibt, wie das Gottesreich in Zukunft mit und unter den Menschen wachsen kann? Es überrascht mich nicht, dass in den neun Seligpreisungen die Erlebnisse des Verlustes oder zumindest des »Noch nicht …« zum Ausgangspunkt gemacht werden. Denn das Kindheitsparadies der Menschheit hat seine Pforten unwiederbringlich geschlossen – und was bleibt, ist zunächst Entbehrung, die den Keim der Sehnsucht nach dem Verlorenen in sich trägt. Aus dieser Sehnsucht, immer wieder gemischt mit der Vorfreude auf echte Selbständigkeit, wächst die bewusste Hinwendung, die willentliche Suche danach. Es ist völlig klar, dass noch niemand auf diesem Felde auf Dauer Vollendetes vorzuweisen hat. Und es ist ebenso klar, dass die kurzen Augenblicke, in denen die Verbindung von Hervorbringen und Empfangen gelingt, erste, bescheidene Anfänge sind. Da darf noch viel wachsen, wenn es weltenweit werden will. Aber eben: in jedem Augenblick, in dem die Sehnsucht danach sich im Herzen zu regen beginnt und Aktivitäten anregt, ist ja die Zukunft schon leise gegenwärtig, fängt das Himmelreich schon an, den Menschen zu gehören. Begnadet sind, die im Verlust, in der Sehnsucht, im Tätig­sein entdecken, dass sie – unendliche – Entwicklungsmöglichkeiten haben. Das wäre doch was für werdende Jünger ...