Osiris und Isis heute | oder: Die Wiederbelebung von Natur und Himmel

AutorIn: Tom Ravetz

Ein Freund, der in einem kleinen Dorf aufgewachsen war, erzählte mir, wie unerträglich das für ihn war. Jeder kannte das Geschäft des anderen! Um wie viel Uhr man mit wem abends nach Hause kam; wer sich einen Auslandsurlaub gönnte und wessen Kinder in alten Schuhen zur Schule gingen. Er freute sich darüber, jetzt anonym in der Großstadt zu leben, wo ihn die Menschen in Ruhe ließen. In der Kulturentwicklung der Menschheit waren es die Großstädte, wo Menschen die Freiheit fühlten, innovativ zu werden und neue Formen zu erfinden, sowohl im Wirtschaftsleben als auch im Rechts- und im Kulturleben.

So ähnlich ging es wohl den Menschen in der alten Welt. Man braucht nicht lange im Homer zu lesen, bis einem aufgeht, wie dörflich sich der heutige Mensch unter den himmlischen Wesenheiten fühlen würde. Und bei Heraklit liest man: Das All ist erfüllt von Geist- und Seelenwesen.

Wir leben heute eindeutig nicht mehr in dieser Welt. Es gehört zu den großen Wendungen in der Kulturgeschichte der Menschheit, dass dieses Gefühl der Nachbarschaft mit göttlichen Wesen nach und nach geschwunden ist. Wie bei allen solchen Wendungen, handelt es sich dabei um einen Prozess und nicht um einen Augenblick. Doch man kann ein »Danach« feststellen, und zwar in der Gestalt von Hamlet. In der Krise seiner Entscheidung darüber, was er tun soll, kommt er in den Zustand, den auch wir aktuell noch durchmachen:

»Ich habe seit kurzem – ich weiß nicht, wodurch – alle meine Munterkeit eingebüßt, meine gewohnten Übungen aufgegeben, und es steht in der Tat so übel um meine Gemütslage, dass die Erde, dieser treffliche Bau, mir nur ein kahles Vorgebirge scheint; seht ihr, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackre umwölbende Firmament, dies majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kommt es mir doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube?« (2. Akt, 2. Szene)

Hamlets Schilderung wird der Bewusstseinsart, in der auch wir noch leben, gerecht. Er beschreibt den Verlust von zwei Seiten: Die Natur ist nicht mehr beseelt, und der Himmel ist leer. Das ist nicht einfach nur eine Tatsachenschilderung, denn unser Bewusstsein von der Welt hat die Eigenschaft, diese so zu verwandeln, bis sie so ist, wie wir sie uns vorstellen. Das ist inzwischen beinah Konsens geworden, insofern es unsere Haltung zur Natur betrifft: das selbst­auf­erlegte Exil des modernen Menschen lässt ihn die Natur als ein Objekt ansehen, das er ausbeuten darf und soll, im Sinne der kapitalistischen Marktwirtschaft.

Die Künstlerin Dominique Mazeaud zeigte schon im letzten Jahrhundert, wie weit die daraus folgende Verwüstung der Natur vorangeschritten ist. Sie hatte sich nämlich vorgenommen, ein Kunstprojekt aus den Gegenständen zu machen, die sie im Müll des Rio Grande sammelte. In ihrem Tagebuch reflektiert sie ihr Tun. Es erscheint als ein Akt der Verwandlung:

»19. November 1987. Ich finde einen Stein, der von der Morgensonne aufgewärmt worden ist, und welcher der angemessene Ort für mein Anfangsgebet ist. ... Ja, ich sehe das, was ich tue, als eine Art Gebet.

Ich hebe vom Fluss / eine Dose auf / Und dann noch eine / Ich gleiche einem Verehrer / Der unzählige Rosenkränze zählt.

2. Dezember: Warum ist das Wasser in allen Religionen solch ein heiliges Symbol? Wie lange dauert es noch, bis wir die Not unserer Wässer einsehen? Wie viele tote Fische, die im Rhein sterben ... Wann werden wir unsere Krankheit des Getrenntseins umwenden?

20. Juli 1988: Noch mal zwei große Säcke, die ich kaum zum Müll bringen konnte. Ich zähle die gar nicht mehr. Ich kündige meine ›Kunst für die Erde‹ nicht mehr in der Zeitung an. ... Ganz alleine am Fluss, bete ich und hebe ich auf, hebe auf und bete. Mit wem könnte ich davon sprechen, was ich hier sehe? Ich empfinde leise den Schmerz; ich weiß ja, dass auch ich einst unbewusst war. Ich habe auch gemerkt, dass ich aufgehört habe, die sogenannten Schätze des Flusses zu sammeln ...«

Die amerikanische Künstlerin und Kunsthistorikerin Suzi Gablik, die sich in ihrem Buch The Reenchantment of Art Mazeauds Projekt widmet, schreibt dazu: »Ein Freund von mir, ein Autor, sieht Mazeauds Projekt als eine Verwandlung des alten Mythos von Isis, der Königin Ägyptens. Der menschliche Müll, den sie sammelt, entspricht den zerstückelten Teilen des ermordeten Osiris … Durch ihre Angst und ihre Sorge lässt Mazeaud den Leib des Osiris auferstehen und sichert dadurch die neue Fruchtbarkeit des Pflanzenlebens am Fluss. Heute ist Sorge-Tragen kein Luxus mehr, hat der Dalai Lama einmal gesagt. Es ist eine Frage des Überlebens … Der neue Mythos unserer Zeit, der erst allmählich entsteht, scheint der Mythos der Empathie zu sein – der Fähigkeit, das Erleben eines anderen zu teilen, der Fähigkeit, im Bewusstsein unseres Miteinander-Verwobenseins zu leben. Dies ist auch die grundlegende Vision der Ökologie.«

Wie bezeichnend, dass eine Ahnung für die tieferen Dimensionen der Krise gerade da aufleuchtet, wo sich die Künstlerin mit der Verantwortungslosigkeit der Menschen auseinandersetzt.

Die andere Seite von Hamlets Krise – das schwindende Bewusstsein der Gegenwart himmlischer Wesenheiten – wird als Ursache unserer gegenwärtigen Kulturkrise weniger beachtet. Nur religiös-konservativ geneigte Stimmen predigen den Verlust der alten Werte und ermahnen die Menschheit zur Buße in Kirche oder Moschee. Die Ergebnisse einer solchen Rückkehr zeigen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen von den Menschen ein äußerer Gehorsam verlangt werden kann. Doch kann man sich fragen, wenn nicht von Papst oder Ayatollah, wie denn sonst werden die Quellen der Kultur, die immer schon aus Tempel und Kirche flossen, sich aufs Neue öffnen?

In einem Weihnachtsvortrag vom 24. Dezember 19201 schilderte Rudolf Steiner, dass die Haltung der Menschen zum Sternenhimmel die Göttin Isis getötet hat, dadurch nämlich, dass wir ihr lebendiges Wesen, das in den Sternen wirkt, als nichts anderes ansehen denn als ein kosmisches Uhrwerk. Wenn wir uns hingegen in bewusster Selbstverantwortung mit der Vorstellung des beseelten Himmels beschäftigen, nähen wir das Gewand der Isis wieder zusammen und tragen zu ihrer Auferstehung bei. Solch ein Verhältnis klingt als Unterton in den Episteln der Menschenweihehandlung mit. Zu Advent leuchtet in der Aura, die den Abendhimmel umspannt, das Weltenwort auf. Zu Johanni wird unser Augenmerk auf das Wirken der Gottheit in den Lichtesfluten des Hochsommers gerichtet. Insofern könnten wir unseren Besuch in der Menschenweihehandlung auch als Isis-Dienst erleben.

Vielleicht besteht sogar die Chance, dass wir mit denjenigen, die sich leidenschaftlich für die Auferstehung von Osiris einsetzen, gemeinsame Sache machen, wenn wir Interesse an ihrem Anliegen zeigen. Schließlich wird die Herausforderung der Menschheit, die sich selbst ins Exil geschickt hat, nicht nur von der einen Seite gelöst.