Es müsste doch auch ohne Krise gehen, oder?!

AutorIn: Christward Kröner

Krisen gehören zum Leben. Das ist eine Binsenweisheit. Und da, wo es so aussieht, als wäre es ein krisenfreies Leben, muss man oft nur etwas genauer hinschauen. Wie oft wird berichtet, dass sehr erfolgreiche Menschen, die in irgend einem Bereich glänzen und seit Jahren im öffentlichen Leben stehen, sich »outen« und davon erzählen, dass sie – manchmal schon seit langer Zeit – z.B. unter Depressionen oder Abhängigkeiten leiden, die ihnen das Leben zu einer Dauer-Krise machen. Dann ist die Überraschung oft groß, weil alle sich von der so strahlenden Fassade haben täuschen lassen.

Die Selbst- und die Fremdwahrnehmung kann also ganz erheblich differieren. Aber auch die Selbstwahrnehmung kann lange von Verdrängung und einem »Nicht-wahr-haben-Wollen« geprägt sein. Indem ich mich an Illusionen klammere, meine Vorstellungen für realer nehme als die Wirklichkeit oder auf eine Veränderung und Erleichterung hoffe, die ohne mein Zutun wie von außen auf mich zukommt und alles »wieder gut« werden lässt.

Wie kann ich, als Betroffener, bemerken, dass ich auf eine Krise zusteuere? Vielleicht fühle ich mich ganz auf der »sicheren Seite«, lebe in der Stimmung: Mir kann nichts wirklich Heftiges passieren, ich habe doch alles soweit im Griff. Und doch können da Lebensbereiche sein, die mich belasten, in denen es stockt, die kräftezehrend sind, die dringend angeschaut und in Bewegung gebracht werden müssten. Habe ich den Willen zu einer schonungslosen Bestandsaufnahme?

Es ist erstaunlich, wie oft wir bereit sind, schmerzhafte oder unbefriedigende Zustände lange auszuhalten in der Annahme und Hoffnung, sie würden sich schon von alleine bessern. Das tun sie in der Regel aber nicht. So kommt es dann früher oder später dazu, dass die Krise ausbricht, sichtbar wird, die Fassade nicht länger aufrechterhalten werden kann, ein längeres Durchwursteln oder »weiter so« einfach nicht mehr möglich ist. Oft – aber nicht immer – »hilft« uns dabei unser Leib, indem er eine Krankheit ausbildet, der wir nicht ausweichen können und die uns unerbittlich die Frage stellt, was wir an unserem Leben und unserer Lebensführung ändern können, wollen oder müssen.

Spätestens hier ergibt sich die Chance zum Perspektivwechsel: Waren es vorher »die Umstände«, andere Menschen, »das System«, die ich verantwortlich gemacht habe dafür, dass es mir schlecht ging, so stelle ich jetzt fest: ich selbst habe die Umstände miterzeugt, die anderen in ihrer vielleicht destruktiven Art gewähren lassen, das System durch mein »Funktionieren« gestützt.

Die Krise konfrontiert mich zuallererst mit mir selbst. Das ist schmerzhaft. Die Illusionen zerplatzen. Es war einfacher, die Ursachen um mich herum, außerhalb meiner selbst zu suchen. Doch solange ich das tue, bin ich gefangen in der Opferrolle. Dieses Gefangensein lähmt mich, nimmt mir Kraft, macht mich immer unfähiger, etwas zu tun, was die Situation zum Besseren wenden könnte, so wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Man könnte einwenden: ich habe doch immer wieder versucht, die Umstände zu bessern, die anderen Menschen zu verändern, das System zu optimieren. Aber, wenn es so war, dann muss ich mich ehrlich fragen: was hat es gebracht? Nichts, was im Kern die Schwierigkeiten aufgelöst hätte.

Denn, einen anderen Menschen zu ändern, ist ganz unmöglich. Das Sprichwort gilt: Es gibt nur einen Menschen auf der ganzen Welt, den du ändern kannst – dich selbst. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Die Umstände, das System – sie werden sich nur wandeln, wenn alle Beteiligten bereit sind, sich selbst zu ändern. Das kann ich aber nicht erzwingen.

Deshalb kann das Erleben einer solchen Krise u.U. auch dazu führen, dass ich mich entschließe, weiterzugehen, die Umstände hinter mir zu lassen, dahin aufzubrechen, wo ich Lebensbedingungen vorfinde oder erzeugen kann, die es mir erlauben zu atmen, wieder kreativ zu werden, in Resonanz zu treten mit meinem schöpferischen Potential, wo ich mich sinnvoll und am rechten Platz fühlen kann.

Im Rückblick, vielleicht erst nach etlichen Jahren, kann sich dann auch ein Gefühl der Dankbarkeit einstellen, gegenüber der Krise, die einen ereilt hatte. Während ich noch in der Krise stecke, lebt alles Mögliche in mir, aber sicherlich keine Dankbarkeit. Man könnte geradezu sagen: wenn ich während der Krise zugleich abgeklärt darüber stehe und ihre positiven Wirkungen wertschätzen kann – dann ist es vermutlich keine Krise. Die echte Krise zeichnet sich immer durch ein kürzeres oder längeres Ohnmachtserleben aus. Wie bei dem verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium, der vereinsamt und hungernd schlechter dran ist als die Schweine, die er hüten muss.

Erst die Ohnmacht lässt die Kraft reifen, die aus ihr herausführen kann. Welche Kraft ist das?

Die Opferkraft. Der Weg von der Ohnmacht zur Auferstehung, zum neuen Leben, führt über das Opfer. Ich muss etwas hingeben, loslassen. Ganz gründlich. Damit ich das Neue gewahren und ergreifen kann.

In diesem Sinn ist die Krise in all ihrer Zuspitzung und möglichen Dramatik wie eine vom Schicksal mir an die Seite gestellte Geburtshelferin; und die Schmerzen sind Geburtsschmerzen. Lassen sich die vermeiden?

Es könnte doch vielleicht auch ohne Krise gehen, einen neuen Schritt im Leben zu machen, oder?

Manchmal schon. Insbesondere, wenn man geübt hat, aus Einsicht rechtzeitig zu handeln. Wenn man eine gesunde Selbstdistanz ausgebildet hat. Wenn man über genügend Humor verfügt. Wenn da echte Freunde sind oder mindestens ein Mensch, mit dem man wirklich reden kann und der einen ehrlich spiegelt und dadurch Selbsterkenntnis ermöglicht. Aber alles dies ist nicht immer gegeben.

Im apokalyptischen Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea heißt es: »Welche ich liebe, die erziehe ich durch Schicksalsschläge« (Übersetzung Emil Bock). Wenn der, der da spricht, zugleich Träger meines höheren Ich ist, dann bin ich es am Ende selbst, der mir die Krise in den Weg legt, damit mir im Durchgang durch sie und in ihrer Überwindung ein neuer Entwicklungsschritt möglich wird. Dann kann ich Krise – in welcher Art auch immer sie mich trifft – nicht nur als Verhängnis oder Verdammnis empfinden, sondern auch als vom Himmel gesandte Entwicklungshilfe begreifen.

Aber das braucht in der Regel Zeit. Weil es um Entwicklung geht. Um seelische Entwicklung. Und die lässt sich nicht per Beschluss herbeiführen, sondern nur durchleben.

Häufig sind andere Menschen am Zustandekommen einer krisenhaften Entwicklung beteiligt. Oft bindet man sich an diese Menschen in Vorwurf oder gar Hass.

Wenn das neue Ufer erreicht ist, wenn vielleicht sogar eine erste zarte Dankbarkeit für die schwere Zeit reift, weil man die kostbaren Früchte wahrzunehmen beginnt, dann ist auch die Zeit des Verzeihens gekommen. Ein Verzeihen, zu dem ich mich vermutlich überwinden muss, aber durch das ich – je gründlicher ich es übe – als ein freierer Mensch meinen Lebensweg fortsetzen kann.