Wenn es Engel wird | Oder: Von vier Engen

AutorIn: Stefanie Rabenschlag

Die orangefarbenen Sessel. Ob die wohl durchpassten? Immer hatte sie gern diese besonderen Einzelstücke gemocht. Ihr Mann hatte sie damals günstig bekommen. Damals. Als er noch gesund und in seinem Beruf war. Und stolz auf sie und ihr Geschick, aus den wenigen besonderen Stücken eine feine Harmonie und Stille im Raum anwesend sein zu lassen. Ja, die Sessel. Und all die Gäste, denen sie Platz gegeben hatten. Konnte sie sie mitnehmen dorthin? Die Sessel. Wo standen die denn jetzt überhaupt? Sie sah sie in ihrer Erinnerung. Links im Flur war doch einer gewesen, meinte sie. Jetzt sah sie ihn nicht mehr. In ihrem Kopf hatte sich bereits ein Raum geschlossen, sodass sie links keine Raumorientierung mehr hatte. Und wer war die Frau da vorn in dem anderen Bett? Und wieso jetzt wieder zwei Betten in diesem Zimmer waren? Wo sollte sie denn da noch die Sessel hinstellen, die orangefarbenen? Und würden noch Gäste kommen? Hierher, wo es so eng war? Ihr fiel eines ihrer Lieblingsgedichte von Erich Fried ein: Als Kind wusste ich: / Jeder Schmetterling / den ich rette / Jede Schnecke / und jede Spinne / und jede Mücke / jeder Ohrwurm / und jeder Regenwurm / wird kommen und weinen / wenn ich begraben werde // Einmal von mir gerettet / muss keines mehr sterben / Alle werden sie kommen / zu meinem Begräbnis // Als ich dann groß wurde / ­erkannte ich: / Das ist Unsinn / Keines wird kommen / ich überlebe sie alle // Jetzt im Alter / frage ich: Wenn ich sie aber / rette bis ganz zuletzt / kommen doch vielleicht zwei oder drei? – Zwei oder drei? Da brauchte sie noch einen Sessel! Als sie sich suchend umsah, sah sie den Engel im Zimmer stehen. Sie wollte mit ihm über die Sessel sprechen, ob er vielleicht ...? Sie wurde ärgerlich, als er nicht darauf reagierte. Was sie denn sonst hier tun solle, in diesem kleinen Zimmer ohne ihre Sessel? Der Engel zog eine Perlenkette hervor: kräftig die Knoten zwischen den einzelnen Perlen. Das sei ihr Leben, sagte er. Perle um Perle zwischen Knoten um Knoten. Es sei noch eine letzte Perle vorgesehen, und für diese solle sie jetzt den Knoten knüpfen, damit auch diese nicht verloren gehe. Als sie nach der Kette greifen wollte, war der Engel mit ihr verschwunden. Sie seufzte zunächst, doch dann wandte sie sich, über die Sessel lächelnd, dem letzten Knoten zu.

 

Weg. Einfach weg. Seine Stimme. Sprechen ging noch, es klang zwar auch irgendwie belegt, jedenfalls hörte es sich für ihn so an. Aber Singen konnte er vergessen im Moment, höchstens, wenn er allein war. Er sang auch gern allein, vor allem in leeren Kirchen. Gut, dann würde er halt allein singen. Es reichte ja, wenn Gott ihn hörte, dachte er etwas trotzig. Dieses Lebensalter, in dem er sich eher gemütlich auf den ausklingenden Beruf und das Seniorendasein hatte einrichten wollen, stellte ihm eine Herausforderung nach der anderen. Wer war er denn, wenn plötzlich einiges nicht mehr so funktionierte wie gewohnt? Und dann ausgerechnet auch noch seine Stimme! Fast sein stärkstes Ausdrucksmittel! Auf der Fahrt in die Reha­klinik nutzte er die Umstiegspause am Bahnhof und stöberte eine Weile im Bücherkasten der Bahnhofsbuchhandlung. Ein Buchtitel sprang ihm sofort ins Auge: »Ich will in Würde altern – aber doch nicht jetzt!« Ja, rief er sich innerlich zu, genau so ist es. Er kaufte das Buch nicht, nahm nur den Titel mit auf die weitere Reise. In der Klinikkapelle – so sein Plan – wollte er jetzt jeden Tag seine Stimme erklingen lassen. Irgendwie musste diese Enge in seinem Hals doch dem alten Volumen weichen. In ehrlicher Andacht sang er ein Lied mit den Worten des Nikolaus von der Flüe: »Nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Gib alles mir, was mich fördert zu dir. Nimm mich mir, und gib mich ganz zu eigen dir.« Nein, das half nichts, es war mehr ein Gekrächze als ein Gesang, und sein Hals blieb eng. Am zweiten Abend probierte er es wieder. Er hatte zuvor einen langen entspannenden Spaziergang gemacht, und es war ihm wohl und frei um sein Herz: »Nimm alles von mir, was mich hindert zu dir ...«, sang er wieder, verbunden mit dem Wunsch, dass diese seltsame Stimmlosigkeit ihm doch genommen würde. Noch abgeschnürter und enger klang das, was er hervorbrachte, und er wusste nicht, wessen er sich mehr schämte: seiner Stimme oder dessen, dass er das Gebet des Mystikers mit seinen eigenen Wünschen besetzt hatte. Am dritten Abend war er nicht allein in der Kapelle. Er sah den Engel nicht. Doch ein heller Klang war plötzlich in seinem Herzen, und er wusste, dass er sich so immer Engelsgesang vorgestellt hatte. Zu seiner Überraschung sang der Engel dasselbe Lied: »Nimm alles von mir, was mich hindert zu dir ...«. Ihm versagte nun ganz die Stimme, da war ein dicker Kloß in seinem Hals, Tränen rannen aus seinen Augen, und als er sie endlich fließen ließ, hörte er wie leises Klingen die Frage des Engels: »Alles? Auch deine Stimme?« Er konnte nur einwilligend nicken. Dann sang er lob.

 

Es war ihr schon klar, dass es Liebe war. Und wie vor nichts sonst fürchtete sie sich davor. Was sollte das? Sie war fast siebenundsechzig! Was wollte diese Liebe von ihr? Jetzt noch? Jetzt, wo sie gelernt hatte, ihrem fragenden und suchenden Herzen beruhigend entgegenzutreten! Jetzt, wo sie hunderte Male und mehr eingewilligt hatte, zugestimmt hatte, dass ihr Leben anders verlaufen war, als sie es sich als junge Frau gewünscht hatte! Wo sie geduldig den Ehe- und Enkelgeschichten anderer Menschen zugehört und unzählige fremde Schicksale mitbewegt hatte! Wo sie sich allein durch Krankheiten gekämpft und ihre Prüfungen bestanden hatte! Wo sie ihre Gewohnheiten gepflegt, geändert, eingerichtet hatte, um bestehen zu können! Wo sie wusste, was sie wollte und was nicht! Wo sie vieles, sehr vieles ertragen konnte! Wo sie sich bescheiden konnte und zufrieden war, wie es war. Wo sie einvernehmlich mit ihrem starken Glauben und ihrem Gott auch die Schritte des Altersweges allein zu gehen gewillt war! Jetzt stand er vor ihr, der Lebensengel, wie sie ihn für sich bezeichnete. Geradezu lebenduftend musste man ihn mit einem Wort Schillers nennen. Was wollte er? Er konnte nicht sie meinen. Sicher hatte er sie verwechselt. Sie wandte sich ab von ihm, ertrug ihn nicht, verstand plötzlich ganz neu, was Rilke gemeint hatte, als er schrieb, ein jeder Engel sei schrecklich. Sie verschloss ihr Herz. Öffnete es manchmal und hielt vorsichtig Ausschau. Er war noch immer da. Hatte gelernt, nicht zu drängen. Aha, dachte sie, auch Engel lernen. Sie führte ihr Leben weiter wie bisher. Es ging doch auch ohne! War doch bisher auch gut gegangen! Ihr eigenes Tempo, ihre eigenen Schritte, ihre eigenen Entscheidungen. Er bot sich ihr an. Sie wusste, dass er litt, wenn sie sich von ihm isolierte. Sie wollte einen Plan haben, wenigstens einen Plan. Eine Sicherheit, dass dieser Liebewille sie und ihr Leben nicht umrannte, umwälzte. Sich auf ihn einzulassen, schien ihr zu viel abverlangt, bei aller Liebe. An dem Tag, als sie ihm das alles insgeheim gesagt, ja vorgeworfen hatte, öffnete sie die Tür, und er nahm sie in seine Arme.

 

Schon als kleiner Junge hatte er sich gefragt, wieso es den Weinbergschnecken in ihrem Schneckenhaus nicht zu eng wurde. Und immer, wenn er ein leeres Schneckenhaus fand, war er sich sicher, dass es dieser Schnecke zu eng geworden war und sie sich deshalb einen anderen Wohnplatz gesucht hatte. Er liebte die Weinberge, und was er besonders daran liebte, waren die steilen Hänge, an denen sie dort am Fluss wuchsen. Sein liebstes Spiel war, diese Hänge hinabzulaufen, diesen Schwung zu empfinden, der seine Beine trug und trug, dass es sich fast anfühlte, als fliege er. Und manchmal war es ein Fliegen und Kugeln und Fliegen, bis er unten ankam, nur um gleich wieder den Hang hinaufzuklettern. Auch als junger Mann liebte er noch immer diese Hänge und das Hinabrennen. Es dauerte lange, bis sie ihn dort fanden an jenem Abend, und da hatte er, wie die Weinbergschnecken, schon fast ganz sein Haus verlassen. Er fühlte keine Enge mehr, sah nur unter sich seinen Körper wie sein eigenes Schneckenhaus liegen und war bereit zu allem Fliegen. Der Engel hielt ihn zurück. Traute ihm ein Leben ohne Fliegen, Kugeln, Laufen und Gehen zu, ohne Aufstehen, ohne die Bewegung seiner Hände: seine größte Mutprobe.