Die Dämonen und die Schweineherde

AutorIn: Michael Bruhn

Es gab in der antiken Welt klare Regeln zum Umgang mit Dämonen. Dabei spielte es eine Rolle, wer wen erkannte und wer den Namen des Gegenübers wusste. Jede Krankheit, die mit einem Verlust an Selbstkontrolle einherging, wurde als Besessenheit durch das Wesen dieser Krankheit erlebt. Und diese Krankheitswesen wurden Dämonen genannt. Sie zu erkennen, war oft ein erster Schritt zur Heilung.

Besonders im Markusevangelium ist es ein wiederkehrendes Motiv, dass die Dämonen, die eine Krankheit verursachen, den Christus Jesus sofort erkennen, sich von seiner Gegenwart bedroht fühlen und ihn durch den Mund des von ihnen besessenen Menschen mit seinem Namen und seinem göttlichen Rang ansprechen. Danach folgt eine Art geistiger Kampf, der mit der Austreibung des oder der Dämonen endet und die kranke Person von ihrer Krankheit befreit.

Die Dämonen sind aber nicht nur ein Bild für die unsichtbare Verursachung von Krankheit, sondern wirkliche geistige Wesen unsauberer, unguter Art. Sie erkennen sofort die Bedrohung, die von dem Mensch gewordenen Christuswesen für sie ausgeht. Unter den geistigen Wesen sind sie sozusagen die Spezialisten für die Verursachung von Leiden. In diesem Bereich möchten sie freie Hand haben und in Ruhe gelassen werden. Viel schneller als die Menschen erkennen sie sofort, dass die Menschwerdung Christi ihre Entmachtung zum Ziel hat. Christus ist Mensch geworden, um das Leiden und den Tod kennenzulernen und zu durchleben. Er ist Mensch geworden, um den Keim für die Überwindung von Leiden und Tod in der Menschheit zu veranlagen.

Ob die Dämonen auch schon erkennen, wie lange das Wachstum dieses Keimes in der Menschheit dauern wird, ist fraglich. Es wird ja keineswegs das Leiden in der Menschheit sofort beendet. Auch die Heilungen und Dämonenaustreibungen im Evangelium entstehen bei individuellen Begegnungen. Das Leiden begleitet die Menschheit noch lange. Dennoch wird ihm für Menschen, die sich später mit Christus als dem Auferstandenem verbinden können, ein gutes Stück seiner bisherigen Ausweglosigkeit genommen. Die Zukunftshoffnung auf die Überwindung allen Leidens hat eine starke Wirkung. Sogar wenn sie sich heute oft im Kleid einer materialistisch-naturwissenschaftlichen Hoffnung präsentiert, als könnte alle Krankheit und sogar der Tod einfach abgeschafft werden, ist das ein – wenn auch illusionärer – Teil dieser Entwicklung.

Ein besonders rätselhaftes Beispiel einer Dämonenaustreibung unter Beteiligung einer großen Herde Schweine findet sich bei Markus am Anfang des fünften Kapitels. Auch bei Matthäus (ausnahmsweise einmal viel kürzer als bei Markus, mit zwei Besessenen und ohne Schweineherde; Mt 8,28) und bei Lukas (Lk 8,26) findet sich das gleiche Ereignis. Es ereignet sich im nicht-jüdisch besiedelten Gebiet der »zehn Städte«, der »Dekapolis« östlich des »galiläischen Meeres«, des Sees Genezareth. Von den ähnlich klingenden Namen Gerasa, Gadara oder Gergesa, die in verschiedenen Evangelienhandschriften vorkommen, lag nur die Stadt Gadara in der Nähe des Seeufers, und zwar in südöstlicher Richtung. Ein ganz auf Erhaltung seiner Reinheit bedachter Israelit hätte die Reise hierher gar nicht unternommen. Zu groß war die Gefahr einer Verunreinigung in einer Gegend, in der unreine Tiere, eben Schweineherden gehalten wurden. Die Furcht vor religiöser Verunreinigung dürfen wir uns vom seelischen Erleben her ziemlich genauso vorstellen, wie unsere heutige Furcht vor ansteckenden Krankheiten. Kranke sind unrein, Leichname und deren Gräber ebenso, jede Berührung, auch unbewusst, ist gefährlich und verpflichtet zu einer anschließenden Reinigungszeremonie.

Jesus hingegen kümmert sich um keine Reinheitsvorschriften. Und nun begegnet ihm als Erster am anderen Ufer ein Besessener, der in den Gräbern lebt. Normalerweise schreit, tobt und wütet er, verletzt sich selbst, ist unfähig zu menschlicher Gemeinschaft und auch durch Fesseln nicht zu halten. Er hat bisher alle seine Fesseln zerstört. Nun aber begegnet er Jesus und die Begegnung wird mit einem ernsten Wort bezeichnet (hypantáo), das sonst im Neuen Testament den Begegnungen mit dem Auferstandenen vorbehalten ist (Mk 5,2). Er wirft sich vor ihm nieder und huldigt ihm, gleichzeitig versucht das dämonische Wesen, das sich seiner bemächtigt hat, Jesus durch diese Unterwerfungsgeste zu beeinflussen und sich vor ihm zu retten: »Was ist da zwischen mir und dir, Jesus, Sohn Gottes des Allerhöchsten? Bewahre mich vor der ewigen Pein!« Denn die erste Aufforderung Jesu – »Fahre aus, unsauberer Geist« – war zunächst wirkungslos geblieben. Der Dämon kennt ihn beim Namen. Nun muss Jesus seinen Namen erfragen, um den geistigen Kampf weiterzuführen. Zur Antwort bekommt er eine Sammelbezeichnung: »Legion – denn wir sind viele«. Eine Legion der römischen Armee hatte vier bis sechstausend Soldaten, konnte aber in Palästina auch in halber Stärke mit etwa 2000 Soldaten als »vexillatio« auftreten.

Die Kenntnis des Sammelnamens aber genügt, um die Dämonen zu überwinden. Diese bitten nun darum, sich einer benachbarten Herde von etwa 2000 Schweinen bemächtigen zu dürfen. Jesus erlaubt es, worauf die Schweine sich in Panik in den See stürzen und den Tod finden. Wer darauf verweisen möchte, dass Schweine eigentlich sehr gut schwimmen können, findet es vielleicht interessant, dass sich in der Nähe von Gadara tatsächlich die einzige Steilküste mit hohen Klippen am ganzen See Genezareth befindet.

Ob damit die Dämonen auch vernichtet sind, bleibt unklar. Jedenfalls ist von ihnen nicht mehr die Rede. Vernichtet ist aber auch der Wert der riesigen Schweineherde. Offensichtlich ist ein gerettetes Menschenleben mehr wert als das von Tausenden unreiner Tiere. Die Bewohner der Gegend sind aber nicht so sicher, was sie davon halten sollen. Sie wundern sich darüber, den ehemals Besessenen bekleidet und vernünftig anzutreffen. Aber sie bitten Jesus doch lieber, ihre Gegend zu verlassen. Der Geheilte möchte mit ihm gehen, er gibt ihm aber die Anweisung, bei den Seinen zu bleiben und von seinem Erlebnis zu erzählen.

Auch hier zeigt sich, wie individuell die Heilungsschicksale sind. Manchmal wird eine Heilung gerade dadurch vollständig, dass die geheilte Person Jesus nachfolgen, aber nicht über die Heilung sprechen soll. Hier ist es umgekehrt: Der Geheilte soll als Verkünder der guten Nachricht in seinem Land bleiben, in dem der Heilende selbst nicht mehr willkommen ist.

Die dramatische Szene mit der Schweineherde hat auch immer wieder die künstlerische Phantasie angeregt. In den Heilungsfresken der Kirche St. Georg auf der Insel Reichenau wird diese Szene als erste abgebildet. Es sind kleine rote Teufelchen zu sehen, die den Geheilten verlassen haben und nun die Schweine ins Wasser reiten. Auch viele klassische Bibelkommentare wenden sich der Szene ausführlich zu, weil sie eben so rätselhaft ist. Manchmal heißt es da, in ganz materialistischer Manier des 19. Jahrhunderts, der Kranke müsse wohl noch einen letzten Anfall gehabt haben, der die Schweine in Panik versetzte. So sei die Geschichte entstanden.

Eine Möglichkeit ist aber in der neutestamentlichen Wissenschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts viel zu wenig bedacht worden: Die Ereignisse könnten sich tatsächlich so ereignet haben, wie sie berichtet werden! Dann wären sie genauso kompliziert und erstaunlich, wie das Leben eben oft ist, und müssten nicht an jedem Punkt gleich mit einer plausiblen Erklärung versehen werden. Lange haben sich die Evangelienforscher v.a. im deutschsprachigen Raum nur darauf konzentriert, die verschiedenen Einzelüberlieferungen zu erforschen, die zunächst vermutlich mündlich überliefert und dann von den Evangelisten gesammelt und zusammengestellt wurden. Aber diese einzelnen »Sammelobjekte« in ihren verschiedenen »Formen«: Gleichnisse, Heilungsgeschichten usw. wurden dabei so betrachtet, als ob sie entweder »aus dem Nichts« entstanden oder aus mythologisch vorgeprägten Formen neu gestaltet worden seien. An tatsächliche Ereignisse wurde dabei gar nicht gedacht, so als ob es keine Augenzeugen mehr gegeben hätte, die sich zu falschen Darstellungen geäußert hätten oder die man auch zur Klärung noch hätte fragen können. Dagegen entwickelt sich nun in den letzten Jahren in der Evangelienforschung eine interessante Tendenz, die die »Rückkehr der Augenzeugen« genannt worden ist.1

So bleibt die von einer Legion Dämonen in den Tod getriebene Schweineherde eine rätselhafte Sache. Und dennoch illustriert sie dramatisch, wie der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Krankheit und Heilung geistige und wesenhafte Dimensionen erreichen kann, die wir uns von uns aus nicht hätten träumen ­lassen. So mag es sich auch lohnen, wenn wir uns, wo wir es mit Krankheit oder auch nur mit der Angst vor Krankheit zu tun haben, so gut wir können auch an diesem Kampf beteiligen: auf der Seite des Guten und des Heilenden durch unser Gebet und unsere heilsamen Gedanken.

 

1  Vgl. Rainer Riesner: Die Rückkehr der Augenzeugen, in: Theologische Beiträge 38 (2007), S. 337, abrufbar auf www.academia.edu