Drama der Freiheit | Vor 200 Jahren wurde Kleists »Prinz Friedrich von Homburg« uraufgeführt

AutorIn: Ruth Ewertowski

»Gott des Himmels! / Seit ich mein Grab sah, will ich nichts als leben, / Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!« – Das sagt Prinz Friedrich von Homburg, einer der Befehlshaber des Brandenburgischen Heers und Titelheld von Kleists Drama. Der Prinz hat Todesangst. Soeben sah er auf dem Weg zur Kurfürstin, der Frau des obersten Befehlshabers, von der er sich Rettung erhofft, sein Grab. In dieses soll morgen sein Leichnam gelegt werden, denn er ist wegen Befehlsverweigerung zum Tode verurteilt. Er ist in Haft und hat doch die Möglichkeit, sein Gefängnis zu verlassen. – Merkwürdig.

Es ist erschütternd, mitzuerleben, wie einer, von dem man wegen seines Ranges erwartet hätte, dass er in Anbetracht des Todes gefasst bleiben würde, ganz klein wird und um sein Leben fleht. Der Prinz, der in Schlachten tausendmal den Tod gesehen hat, erlebt im Angesicht des für ihn vorbereiteten Grabes die Krise seiner Existenz, das Hineingehalten-Sein ins Nichts. Er ist ein Gefangener, und darf doch gehen, wohin er will, weil der Kurfürst das Vertrauen in ihn hat, dass er seine Freiheit nicht missbrauchen wird. Und das tut er auch nicht. Er wird in sein Gefängnis zurückkehren, das er zu jenem Bittgang, den er um seiner Rettung willen unternimmt, verlassen hat. Bei der Kurfürstin ist Nathalie zugegen, ihre Pflegetochter. Der Prinz liebt Nathalie, ist sogar heimlich mit ihr verlobt, aber in seiner Todesangst sagt er ihr vor den Ohren der Kurfürstin ab: Wenn sie, wie ihm zugetragen wurde, durch ein Ehebündnis der Preis für den Frieden mit dem Kriegsgegner Schweden sein sollte, so ist´s ihm recht: soll sie ihn heiraten, wenn er selbst nur leben kann. Aber eben diese Nathalie will sich vor dem Kurfürsten, ihrem Onkel und Ziehvater, für ihn einsetzen – nicht für sich, sondern um des Flehenden willen. Daraufhin wendet sich der Prinz ihr wieder zu und hält sie für einen Engel, auf den er nun all seine Hoffnung setzt.

Der Prinz ist in dieser Stunde alles andere als ein Held, er ist ein Mann am Boden. Er ist bereit, alles aufzugeben, wenn er nur seine nackte Existenz retten kann. Es ist im Besonderen diese Szene, der es Kleist zu verdanken hat, dass »Der Prinz Friedrich von Homburg« zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt und nicht aufgeführt wurde. Kleist hatte sich viel von der Wirksamkeit dieses Dramas versprochen. An seine Schwester Ulrike schreibt er im November 1809 »ich … hoffe, dass du bald etwas Frohes erfahren wirst« und meint damit eben jenes Stück, das er Anfang 1810 fertigstellt. Etwa ein Jahr später bietet er es einem Berliner Verleger zum Druck an, der es aber ablehnt.

Im November 1811 nahm sich Kleist das Leben. Erst ein Jahrzehnt später, also 1821, druckte Ludwig Tieck das Drama erstmals in »Kleists hinterlassene Schriften« ab, und im selben Jahr wurde es in Wien uraufgeführt. Als es 1828 in Berlin wieder aufgeführt wird, lässt es Friedrich Wilhelm III. nach drei Aufführungen absetzen. Für die Zeit Kleists und auch noch die nach seinem Tod, war dieser Prinz kein Held, sondern peinlich. Noch Bismarck mokierte sich über dessen Todesfurcht, und Kaiser Wilhelm II. empfahl, die unerfreuliche Angstszene einfach zu streichen.

Die Zeit war nicht reif für eines der größten Dramen der deutschen Literaturgeschichte. Das lag neben jener Todesangstszene auch noch an einer weiteren Eigenart des Prinzen, denn das Stück setzt mit einer anderen peinlichen Situation ein: Der Prinz schlafwandelt, und einen Schlafwandler kann kein Heer und kein Staat gebrauchen.

Zu Beginn nachtwandelt der Prinz im Schlossgarten von Fehrbellin und flicht sich dabei einen Lorbeerkranz, wohl im Vorgefühl großen Ruhmes, den er in der morgigen Schlacht zu erlangen hofft. Man entdeckt diesen merkwürdigen Zustand, macht den Kurfürsten von Brandenburg darauf aufmerksam, und dieser erlaubt sich in Begleitung seiner Hofgesellschaft einen Scherz mit dem Prinzen: Er nimmt dem Schlafwandler den Kranz aus der Hand, windet seine Halskette darum und reicht ihn so seiner Nichte Nathalie. Der Prinz greift nach diesem Kranz, nennt Nathalie dabei seine »Braut« und den Kurfürsten seinen »Vater«. Das will man nun lieber nicht gehört haben, und die ganze Hofgesellschaft eilt davon. Der Prinz erhascht dabei aber noch einen Handschuh Nathalies. Dieser nun verwirrt den Prinzen bei der Befehlsausgabe am nächsten Tag so sehr, dass er nicht richtig aufmerksam sein kann. Den Befehl, dass er nicht ohne ausdrückliche Order in die Schlacht eingreifen darf, bekommt er nicht richtig mit, weil er realisiert, dass der Handschuh, dessen Herkunft er sich nicht erklären kann, der ist, den Nathalie vermisst. In der Schlacht greift er dann bei einer ihm günstig erscheinenden Gelegenheit eigenmächtig und zu früh ein, erringt so zwar einen Sieg, der aber möglicherweise nur ein Teilsieg ist und vor allem befehlswidrig errungen wurde. Er wird nun zwar ausdrücklich als Sieger gefeiert, aber zugleich wegen Insubordination zum Tod verurteilt. Diese Verurteilung fasst er zunächst als eine Erziehungsmaßnahme auf, die selbstverständlich durch seine Begnadigung gekrönt werden wird. Als er aber erkennt, dass sie ernst gemeint ist, trifft ihn die Todesangst mit ganzer Wucht.

Nun werden von verschiedenen Seiten alle Hebel in Bewegung gesetzt, den Prinzen zu retten. Den entscheidenden Schritt tut Nathalie mit ihrem Bittgang zu ihrem väterlichen Onkel, dem Kurfürsten. Dieser ist kein hartherziger Pedant, sondern dem Prinzen zutiefst wohlgesonnen, steht aber in dem Dilemma, dass er zwar einerseits den Tod des Prinzen nicht will, aber andererseits Selbstherrlichkeit und Willkür in seinem Staat nicht dulden kann. Als er nun von Nathalie erfährt, dass der Prinz um Gnade fleht, ist er verwundert und tief getroffen. Ist er enttäuscht, weil auch er eigentlich einen Helden erwartet hat? – Das lässt sich nicht entscheiden. Trotz allem Geschehenen aber hat der Kurfürst – und das ist so großartig wie wunderlich – das tiefste Vertrauen in den Prinzen. Es ist ein Vertrauen, das Homburg eine Brücke baut, eine Brücke in eine wesenhafte Freiheit.

So hart der Kurfürst in der Überantwortung des Prinzen ans Kriegsgericht, das nicht anders als auf Tod urteilen konnte, erschien, so unerklärlich milde zeigt er sich nun in seiner salomonischen Lösung des Problems: Er rollt den Fall neu auf und macht den Prinzen zum Richter über sich selbst. Er gesteht, ja mutet Homburg die Freiheit zu, über sich selbst zu entscheiden: »Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten, / Kassier ich die Artikel: er ist frei!« Der wegen dieser Wendung erstaunten Nathalie sichert er mit einem sibyllinischen Satz die Rettung ihres Freundes zu. Denn diese gibt es: »So sicher, / als sie in Vetter Homburgs Wünschen liegt.«

Der Kurfürst setzt, äußerlich betrachtet, selbst die Ordnung seines Staates aufs Spiel und tut dies doch mit einer souveränen Sicherheit. Seine Entscheidung fordert den Prinzen in seiner ganzen Ich-Kraft, und tatsächlich setzt sie bei ihm einen Prozess in Gang, der ihn vom Anblick der Grabes auf die Frage der Gerechtigkeit umlenkt. Am Ende dieses Prozesses steht die höchste Anerkennung für den Kurfürsten und damit auch für das Urteil. Homburg kann den Richterspruch nicht ungerecht finden und willigt aus freien Stücken in ihn ein. Dabei geht es nicht einfach nur um die Einhaltung der Gesetze. Die Gerechtigkeit, die zu beurteilen der Prinz aufgefordert wurde, ist nicht mit dem Gesetz identisch. Es ist keine juristische Gerechtigkeit, sondern eine viel umfassendere, eine, die die zwischenmenschlichen Verhältnisse betrifft, in denen die Beteiligten zu einer tiefen Anerkennung des jeweils anderen finden. Auch Nathalie, die die Rettung des Prinzen will und ihn dazu drängt, das Angebot des Kurfürsten, ihn freizulassen, anzunehmen, freut sich doch schließlich darüber, dass er es nicht tut, und besiegelt seinen Entschluss mit einem so lapidaren wir umfassenden »du gefällst mir!«

Dass der Prinz am Ende doch begnadigt wird, ist erst durch seine Anerkennung des Urteils möglich geworden. Der Lorbeerkranz, der ihm schließlich verliehen wird, krönt nicht den Sieger in der Schlacht, sondern den Sieger über sich selbst.

Das Thema Freiheit spielt dabei auf allen Ebenen eine herausragende Rolle: Anfangs nahm sich der Prinz im Halbbewusstsein seiner paradiesischen Ahnungslosigkeit die Freiheit, so in die Schlacht einzugreifen, wie es ihm gutdünkte. Es ist die Freiheit der Emanzipation, die er hier ergreift. Sie macht ihn zum Sieger und zugleich zum Todgeweihten. Es ist die Freiheit des Sündenfalls, die ihn in das Gefängnis führt. Aber in diesem Gefängnis hat er doch die Freiheit, es zu verlassen. »Die Order, die man mir erteilt hat«, so der Offizier, der ihn ›bewacht‹, »lautet, / Dich gehen zu lassen frei, wohin du willst.« Auf die verwunderte Frage des Prinzen »Seltsam! – So bin ich kein Gefangener?« bekommt er die Antwort: »Vergib! – Dein Wort ist eine Fessel auch«. Dieses Wort wurde nie explizit gegeben und doch existiert es. Es schwingt zwischen dem Prinzen und dem Kurfürsten, zwischen denen ein geistiger Eros waltet, der sie gewiss sein lässt, dass sie sich im Letzten aufeinander verlassen können. Und so helfen sie einander aus der Not der Situation. Der Prinz erringt eine höhere Freiheit als die der Emanzipation in seiner Bereitschaft zum Tod. Und der Kurfürst bestätigt und feiert diese Freiheit in der Begnadigung, die ihm ganz am Herzen liegt. – All das ist so außerordentlich, dass die Zeit erst reifen musste, um Kleists Einsichten zu vertragen.