Dämonen und Idioten

AutorIn: Yaroslava Black

Man ist und bleibt ein Idiot, wenn man nicht Dostojewskij gelesen hat«, sprach unsere kahlgeschorene Russischlehrerin in der Schule. Vielen war es gleichgültig, da sie gewohnt waren, von den Lehrern mit »Idioten«, »faules Pack« und anderen politisch unkorrekten Kosenamen benannt zu werden. Die wenigsten versuchten die Lektüre, ließen es aber nach einigen Seiten gut sein. Meine Schulfreundin flüsterte: »So ein Quatsch, die arme Oma mit der Axt zu töten. Das ergibt gar keinen Sinn!« Noch weniger Sinn ergaben die ewigen Dialoge der durch Dämonen geplagten Menschen oder der Leichen auf dem Friedhof in der grotesken Geschichte »Bobok«. Mich zogen aber diese bizarren Geschichten in ihren Bann. Sie verfolgten mich bis in die Träume. Schon sah ich im Traum meine Russischlehrerin als halb verrückte Literatin auf dem Grabstein am Friedhof sitzen, ihre großen Zähne blecken und fürchterlichen, schon im Leben verdorbenen Menschenleichen lauschen. Es war schwer, im Unterricht diese Bilder loszuwerden, vor allem wenn sie plötzlich neben mir stand und grinste. Sie mochte mich. Ich las Dostojewskij. Sie war mir auch nicht böse, als ich eines Tages mehr aus Protest als aus Überlegenheit sagte, dass Dostojewskijs Bücher vom großen Zorn erfüllte dicke Schinken seien. Sie schaute nachdenklich und murmelte etwas von den Notwendigkeiten der Zeit. Vielleicht. Aber vielleicht auch, dachte ich, weil er jahrelang fünf Kilo schwere Eisenketten an seinen Füßen tragen musste. Nur, weil er anders dachte. Wie jedoch unsere Lehrerin als überzeugte Kommunistin für sich Dostojewskijs christliche Gedanken und den Atheismus vereinbarte, war mir ein Rätsel.

 

Es war kurz vor der Wende und wir konnten uns im Unterricht Streitgespräche leisten. Wir waren jung, zornig und eingebildet. Wir wollten das Alte vernichten. Kleine, provinzielle Revoluzzer. Sie musste uns Rede und Antwort stehen. Wir schlugen mit ihren Waffen zurück, mit Dostojewskij: Ein Atheist muss sich logischerweise umbringen. Das bewiesen doch die Helden aus »Die Dämonen«. Eine der Figuren kommt zu dem Schluss, dass in einer materiellen Welt, die jeden transzendenten Sinnes entbehrt, die wahre Lösung nicht die Selbstbestätigung, wie es scheint, sondern Selbstzerstörung sei. Die Welt, wie der moderne Mensch sie sieht, gleicht einem gewaltigen dumpfen Ungeheuer, das das menschliche Wesen mechanisch zermalmt und lebendig verzehrt, ohne dass er sich dessen überhaupt bewusst wird. Die Menschen aber, denen der Sinn ihrer eigenen Existenz dadurch entzogen wird, wollen die Leere und Öde der Welt nicht akzeptieren und weisen sie zurück. So erscheint dem Menschen der Selbstmord als eine anständige Alternative. Dostojewskij führt diese Gedanken in seinem Roman »Die Dämonen« aus: Wenn ich die Macht gehabt hätte, meiner eigenen Geburt zuvorzukommen, hätte ich bestimmt niemals meine Zustimmung dazu gegeben, die Existenz unter so lächerlichen Bedingungen anzunehmen. Immerhin habe ich aber die Macht, meine Existenz zu beenden. ­Unsere redegewandte Russischlehrerin wurde von Woche zu Woche stiller. Sie war intelligent. Sie ahnte, was kommt. Was wir nicht wissen konnten, dass ihr einziger Sohn seine erfolgreiche kommunistische Kariere unterbrechen musste, da er plötzlich von Wahn und Angstzuständen geplagt war. Er lebte wieder mit seiner Mutter zusammen.

 

Das letzte Schuljahr kam. Sie unternahm noch einen Versuch, uns zu zeigen, dass auch Dostojewskij dem westlichen, heuchlerischen Glauben abgeneigt war. Ihm ging es wohl um den zukünftigen, von jeglichen kirchlichen Ketten freien Menschen. Den nannte er Christ: Meiner Meinung nach, räsoniert Myschkin, ist der römische Katholizismus nicht einmal eine Religion, sondern ganz entschieden eine Fortführung des Heiligen Römischen Reiches, und alles ist dieser Idee untergeordnet, voran der Glaube … Zu Hause musste ich weiterlesen, um zu kontern: Auch der Sozialismus ist ein Kind des Katholizismus und der wahren katholischen Natur! Auch er ist, wie sein Bruder Atheismus, aus Verzweiflung in Opposition zum Katholizismus als moralische Macht gezeugt, um die verlorene moralische Macht der Religion zu ersetzen, um den geistigen Durst der verdorrten Menschheit zu löschen und sie nicht durch Christus, sondern durch Gewalt zu retten! Auch dies ist ein Bund durch Schwert und Blut … Und glauben Sie nicht, dass dies alles so unschuldig und für uns ohne Gefahr sei. Oh, wir müssen unseren Widerstand organisieren, und zwar sofort! Christus muss als Gegenpol der westlichen Idee erscheinen – unser Christus, den wir bewahrt und den die dort niemals gekannt haben! (»Der Idiot«).

Viele Jahre später, als ich diese Passage wieder las, erinnerte sie mich nicht mehr an unseren Schulstreit, sondern an den Streit zwischen Arius und Athanasius: unser Christus – euer Christus … östlicher Glaube – westlicher Glaube … römisch – griechisch … So viel Feuer, so viel Mut, so viel Sehnsucht. Dostojewskij kam zu spät zum Konzil von Nicäa. Und zum Konzil von Konstantinopel 869? Dort liegt bis heute der Hund begraben. Und wer weiß, vielleicht ist der Zorn in Dostojewskijs Büchern in der Tat eine Notwendigkeit der Zeit: Zu zeigen, wohin das alles geführt hat, wohin es auch weiter führen wird, wenn der Mensch aufhört, sich als freien Geist zu erfahren; wenn der Mensch nicht alle ihm noch zugänglichen Kräfte mobilisiert, »Widerstand organisiert, und zwar sofort!« gegen das Verschweigen des Geistes, gegen die Verstümmelung des Menschenbildes.

 

Dostojewskij lag bei mir jahrelang unberührt. Ich musste ihn aus dem Unterrichtsstaub befreien. Aber auch von den Erinnerungen. Der Sohn meiner Russischlehrerin hat sich das Leben genommen. Ein paar Jahre danach tat sie das gleiche. In unserem letzten Gespräch, zufällig, auf der Straße, fragte sie mich, ob ich wüsste, wie der Mensch zum Glauben kommt. Kann man den Glauben erlernen oder ist er einem eingeboren? Sie konnte unmöglich wissen, dass ich zu der Zeit Theologie studierte. Ich konnte unmöglich wissen, was sie im Sinn hatte. Eine gescheite Antwort hatte ich nicht parat. »Es ist sinnlos. Wir sind alle krank. Idioten«, sagte sie müde.

Manchmal diskutiere ich mit ihr weiter. Mit Dostojewskij führe ich den Streit gegen die Behauptungen der Sinnlosigkeit, auch um den Geist, der nicht krank sein kann, gleich wie er in der Materie erscheint: Selbst wenn Ihr äußerlicher Geist ein wenig angegriffen sein sollte, ist doch Ihr wahrer Geist weit besser als der von all diesen Leuten zusammen. Es ist ein Geist, von dem Sie niemals auch nur geträumt haben; denn in Wahrheit gibt es zwei Arten Geist – die Art, die zählt, und die, die nicht zählt (»Der Idiot«). Und weiter, noch deutlicher: Diese Augenblicke, wo ich ein so extremes Bewusstsein meiner selbst und infolgedessen mehr Leben als zu anderen Zeiten empfinde, verdanke ich einzig der Krankheit – dem plötzlichen Zerbrechen der normalen Bedingungen … Auch in »Schuld und Sühne« setzt Dostojewskij die Gedanken über die Wirkung des Geistes gerade in der nicht geordneten, kranken Materie fort: Ein gesunder Mensch ist die irdische Art von Mensch … Aber sollte er krank werden, sollte die irdische Ordnung des Organismus gestört werden, so beginnt sich sofort die Möglichkeit einer anderen Welt zu melden; und je mehr er krank ist, um so mehr Berührungspunkte mit jener anderen Welt hat er. »Dämonen«, »Idioten«, »Schuld und Sühne«, aber auch eigene Krankheiten, das eigene »Gestört-sein« sind Berührungspunkte mit jener anderen Welt, die das Leben mit Sinn erfüllt. Das glaube ich. Und ich hoffe, eines Tages in einer aussichtslosen Situation ein Wort zu finden, das einen Sinn ergibt.