Sie dürfen hoffen

AutorIn: Tom Ravetz

Als Hiob, ein tadelloser Mann, von schwersten Schicksalsschlägen getroffen wird und er die Geschwüre, die überall an seinem Körper aufgebrochen sind, mit einer Scherbe kratzt, fordert ihn seine Frau auf: »Sage dich los von Gott und stirb!« (Hiob 2,9) Später sagt er seinen Freunden: »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und zuletzt wird er sich über den Staub erheben. Und nachdem diese meine Hülle zerbrochen ist, dann werde ich, von meinem Fleisch los, Gott schauen. Danach sehnt sich mein Herz in mir!« (Hiob 19,25-27).

Lassen wir die Frage beiseite, ob sich Hiob der messianischen Perspektive seiner Worte bewusst war: In einer aussichtslosen Situation, in der er all sein Hab und Gut verloren hat, seine Söhne gestorben sind, seine Frau ihn verlassen hat und seine Freunde ihn mit der Botschaft zu trösten suchen, dass er dieses Desaster durch seine Sünden auf sich geladen habe, »weiß« Hiob aber, dass eine andere Zukunft ihn erwartet, wenn er nur ausharrt. Er ahnt einen Horizont, der über die Gegenwart hinausragt. Er hofft.

Paulus spricht von dem »Gott der Hoffnung«. Das entspricht der Botschaft der Hebräischen Bibel: Die Israeliten haben sich nach und nach von der Religiosität zu befreien, die sie an die immer wiederkehrenden Kreise des Naturjahres bindet, damit sie sich auf ein Ziel hin orientieren, dessen Erfüllung jenseits der Zeit liegt. Heute noch können die Worte: »L’Shana Haba’ah B’Yerushalayim« – »nächstes Jahr in Jerusalem« als Abrundung des Passahfestes gesprochen werden. Spätestens seit dem Auszug aus Ägypten sind wir auf der Pilgerfahrt nach den göttlichen Zielen. Wie genau die Erfüllung der Zeiten aussehen soll, wird erst durch die Jahrhunderte nach dem Exodus mit Imaginationen ausgefüllt. Der eine Faden ist uns wohlbekannt: der neue David, der das Reich Israels wiederherstellen wird. Just in den dunkelsten Zeiten der Geschichte des Volkes Israel nimmt die andere Gestalt an Bedeutung zu: der leidende Gottesknecht, der vieles mit Hiob gemeinsam hat: »Verachtet war er und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut; wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, so verachtet war er, und wir achteten ihn nicht« (Jes 53,3).

 

Im Konfirmandenunterricht habe ich immer wieder versucht, die Konfirmanden zum Denken anzuregen, indem ich behauptete: Vor zweitausend Jahren siegte der Christus über das Böse und seitdem ist alles in Ordnung. Bald zeigen die Proteste der Jugendlichen, dass die Erfahrung gegen diese Behauptung spricht. Wer könnte angesichts von Auschwitz, von den Schlachtfeldern Kambodschas, von dem Bösen, das in den Weltsystemen von heute verkörpert ist, die so vielen ein würdiges Leben vorenthalten, behaupten, alles sei in der besten aller möglichen Welten zum Besten (Voltaire, Candide)? Nicht ohne Grund führt uns jedes Jahr die Menschenweihehandlung in die Seelenbewegungen, die jene Pioniere der Moderne durchmachten, die Existentialisten, wenn wir in der Passionszeit mit dem Bild des schwarzen Altars als Abbild des Hoffnungsgrabes konfrontiert werden.

Wenn wir wahrhaft Zeitgenossen sind, können wir diese Seite des Daseins nicht umgehen. Spätestens dann, wenn uns das Schicksal – hiobartig – prüft, werden wir herausfinden, ob wir das Hoffnungsgrab bloß verdrängt haben, etwa durch Weggucken oder schnöden Optimismus, oder ob angesichts des Grabes die echte Hoffnung aufkeimt. Das Grab ist zugleich eine Schwelle. Wenn wir ihm ehrlich gegenüberstehen, gähnt ein Abgrund. Wir kosten das bittere Nichts der Existentialisten. In dem Abgrund keimt die Hoffnung. Wir öffnen unser Herz und unseren Sinn, und richten unseren Willen auf die Zukunft, die wir noch nicht kennen.

Die unreflektierte religiöse Überzeugung kann hier eher ein Hindernis als eine Hilfe sein. Sie blockiert uns paradoxerweise die Gemeinschaft mit dem Gott der Hoffnung, der sich in der Liebestat der Schöpfung so entäußert hat, dass selbst er das Ende der Geschichte nicht weiß. Auch seine Hoffnung sprießt im Schatten eines Grabes.

An der Schwelle des Hoffnungsgrabes begegnen wir den Dämonen der Angst und der Unsicherheit. Leicht suchen wir Zuflucht in Erwartungen. Wir tun der Zukunft Gewalt an, indem wir sie nach unserem Willen zu gestalten versuchen. Oder wir schwelgen in Phantasien, indem wir unsere Wünsche auf die Zukunft projizieren. Das kann eine Zeitlang einen gewissen Trost anbieten, doch ist es nur Illusion. Schließlich wird die Realität uns korrigieren. Unser Wille hat keine magische Kraft, und wir können die Zukunft durch unsere Vorstellungen nicht bändigen. Auch diese Enttäuschung kann unser Lehrmeister werden, wenn wir die andere Versuchung bestehen, die nämlich, die unerträgliche Verletzlichkeit der Hoffnung zu vermeiden, indem wir zynisch werden und uns von der Zukunft abkapseln und in die Verzweiflung versinken.

Die Christen »dürfen hoffen« – so heißt es im Credo. Die Fähigkeit, die Gegenwart als vorläufig zu erkennen, uns in den Abgrund des Nicht-Wissens, Nicht-Beherrschens einzulassen: das ist ein Geschenk des Gottes, der sich auf das Nichts des Kreuzes einließ.