Übernatürliche Evidenz

AutorIn: Ruth Ewertowski

Die Welt des Jenseits ist nicht einfach die Fortsetzung unserer hiesigen Welt unter veränderten Bedingungen. Manchmal wird sie aber so dargestellt. Für Menschen, die keine außerordentlichen übersinnliche Erfahrungen gemacht haben oder denen keine Offenbarungen zuteil werden, ist es oft nicht leicht, mit den Vorstellungen anderer, die sich als »hellsichtig« verstehen, umzugehen. Für mich ist das Evidenzkriterium solcher Vorstellungen, dass in mir nicht der Verdacht aufkommen darf, ich hätte es mit einer Projektion des Diesseits auf das Jenseits zu tun. Bei den Ahnungen vom Übernatürlichen geht es vielmehr darum, ein uns Unvorstellbares vorstellbar zu machen. Das ist ein Widerspruch, aber diesem Widerspruch müssen wir uns aussetzen, wenn wir nicht einfach die Schwelle überspringen wollen, wenn wir uns also der Unmöglichkeit, mit hiesigen Mitteln Aussagen über das Jenseits zu treffen, bewusst sind. Nur dann können solche Aussagen evident sein. Evident ist nicht das, was uns einleuchtet, weil es genau so ist, wie wir es erwartet haben. Es ist nicht das, was unserem Vorverständnis entspricht, und nicht das, was wir gerne hätten. Ein Evidenzerlebnis haben wir dann, wenn es so ganz anders kommt als erwartet und dennoch einleuchtet.

Das erlebe ich beispielsweise bei Vorstellungen, die das Moment der Umkehrung enthalten, und zwar dergestalt, dass jenes Umgekehrte in unserer Welt nicht möglich ist. Das beschreibt Rudolf Steiner verschiedentlich, so vor allem, wenn er darlegt, dass sich das Verhältnis von innen und außen in der geistigen Welt radikal ändert. Da ergebe sich dem hellseherischen Bewusstsein »eine vollständige Umkehrung alles Weltanschauens«. Wenn wir uns hier von Bergen, Flüssen, Wolken, Sternen etc. umgeben sehen und uns selbst an einem winzigen Punkt in dieser Welt verorten, so verschwindet drüben diese Wahrnehmung. Dort findet man sich in die Welt ausgegossen. Sie steht einem nicht mehr gegenüber. Die Subjekt-Objekt-Relation gibt es nicht mehr: »Du erfüllst bis zu einer gewissen Grenze den ganzen Raum, und du webst selber in der Zeit.«1

Noch etwas konkreter werden die so ganz anderen Verhältnisse in der geistigen Welt für unser hiesiges Anschauen, wenn wir auf ein physisch Innerliches wie unsere Organe blicken: »So wie Sie jetzt zu ihrem Ich gehörend Ihre Lunge ansehen, so sehen Sie dann zwischen dem Tode und einer neuen Geburt die Sonne und den Mond als Ihre Organe an, als dasjenige, was in Ihnen drinnen ist.«2 – Auf diese Weise wird das Unvorstellbare doch irgendwie anschaulich, ja vorstellbar, wenn auch zugleich ungeheuer anders. Jedenfalls erleben wir die Grenze unserer Vorstellungskraft und gehen dabei zugleich einen kleinen Schritt darüber hinaus. Das ist für mich ein evidenter Zugang zur geistigen Welt.

Ähnlich herausfordernd wie diese Vorstellung vom Kosmos in uns ist die Aussage Steiners, dass in der geistigen Welt unsere Mathematik und Geometrie ihre Richtigkeit verlieren. So gelte das, war für uns hier selbstverständlich ist, nämlich, dass der kürzeste Weg zwischen A und B die gerade Linie ist, drüben nicht mehr: »In der geistigen Welt ist es umgekehrt. Da ist die gerade Linie, die man von A nach B nimmt, der längste Weg. Jeder andere Weg ist kürzer, weil jeder andere in der geistigen Welt frei gegangen werden kann. … den geraden Weg einzuhalten, also in jedem einzelnen Punkte der Geraden einzuhalten diese einzige Richtung, das ist das Schwerste, das verlangsamt am allermeisten.«3 Es scheint auch eine Frage der Freiheit zu sein, die im Jenseits einen Weg, für den man sich selbst entschieden hat, »kürzer« sein lässt als jenen vorgegebenen der geraden Linie, der bei jedem Schritt die volle Aufmerksamkeit auf diese Linie fordert.

Hier werden ganz irdische Vorstellungen von Raum und Zeit aufgerufen, aber so dass man sie »uneigentlich«, also in einem »übertragenen« Sinn verstehen kann. Hier wird nicht das Irdisch-Sinnliche projizierend ins Geistige hinübergetragen, sondern im Hinübertragen wird die Schwelle als Hindernis und als Durchgang so erfahrbar, dass ich weder den Erfahrungsbericht anderer bloß glaube, noch selbst eine Erfahrung geschenkt bekomme, sondern sie in der Überwindung des Hindernisses wenigstens ansatzweise selbst mache. So hat die Aussage, dass in der geistigen Welt die Gerade der längste Weg zwischen zwei Punkten ist, für mich etwas Evidentes. Das heißt nun nicht, dass ich sie erklären kann, aber das zeichnet Evidenz ja aus: Sie liegt jenseits unserer Verstandeslogik und ist doch nicht unlogisch – wie bei einem Meisterwerk der Kunst, bei dem wir auch keine Bauanleitung ausfindig machen können, um etwas Vergleichbares neu zu schaffen.

Und Ähnliches mag auch für Christi Rede von seinem Reich, das nicht von dieser Welt ist, gelten. Wäre es von dieser Welt und hätte die Gesetze der Natur und der Moral, wie sie hier gelten, dann hätte alles daran gelegen, dass Christus den Tod nicht stirbt, den er gestorben ist. Das Reich Gottes ist bis heute eine Zumutung, hat aber gerade in seiner Andersartigkeit seine Evidenz. So ist in ihm das Wohlergehen eines Einzelnen nicht anders möglich, als dass es im Wohlergehen aller anderen liegt. Da haben sich auch die Verhältnisse von Zentrum und Umkreis umgekehrt. Eine Ahnung davon gibt uns allerdings schon etwas auf dieser Erde, nämlich das »Soziale Hauptgesetz«, das ebenso unerwartet und unerfüllt wie evident ist: »Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.«4 

 

 

1  Rudolf Steiner: Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt,
GA 153, Vortrag vom 9.4.1914

2  Rudolf Steiner: Das Geheimnis der Trinität,
GA 214, Vortrag vom 22.8.1922

3  Rudolf Steiner: Initiationserkenntnis, GA 227, Vortrag vom 21.8.1923

4  Rudolf Steiner: Lucifer – Gnosis,
GA 34, S. 213