Die Schlange hat nicht gelogen | Über die Entstehung der Lüge

AutorIn: Ruth Ewertowski

Die Schlange übertreibt, wenn sie Eva fragt: »Sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?« (1. Mose 3,1) Es ist keine Behauptung, sondern eine Frage. Dass es sich anders verhält, wird die Schlange wohl wissen, aber dennoch ist es an Eva, die Sache richtigzustellen: Es sind nicht alle Bäume verboten, sondern nur ein einziger. Und ob Eva diesen zuvor überhaupt als »verboten« erlebt hat, ist fraglich. Vermutlich war es für sie nicht weiter nachdenkenswert und also schlicht selbstverständlich, von dem einen Baum nicht zu essen. Es waren ja auch genügend andere Bäume da.

Zweierlei tritt mit der Schlangenfrage in Evas Bewusstsein: Es gibt den Unterschied zwischen Wahr und Falsch, und es gibt Verbotenes, also ein »du darfst« und ein »du darfst nicht«. Ganz leise tritt damit die Moral ins Leben. Die Strategie der Schlange ist die, dass Eva nachzudenken beginnt, und sie korrigiert im Dienst der Wahrheit die Vermutung der Schlange, übertreibt aber sogleich, wie die Schlange, selbst dabei. Es ist nämlich völlig überzogen, wenn sie Gott so zitiert, dass sie und Adam von dem Baum in der Mitte des Gartens nicht nur nicht essen, sondern auch seine Früchte nicht anrühren dürfen. Damit hat erst sie selbst die Früchte dieses Baumes zu einem Tabu, einem Berührungsverbot gemacht. Als ein Tabu haben sie nun eine geradezu magische Anziehungskraft. Die Aufmerksamkeit wird ganz auf sie gelenkt. Kein Baum im ganzen Garten ist nun so interessant wie dieser eine. Dass man stirbt – weiß denn Eva überhaupt, was der Tod ist? –, wenn man von seinen Früchten isst, bestreitet die Schlange: »Ihr werdet keineswegs des Todes sterben …« und lügt damit noch nicht einmal, denn, wie es sich nach getaner Tat erweisen wird, leben Adam und Eva ja weiter, allerdings unter ganz anderen Bedingungen, und nur viel später werden sie tatsächlich sterben.

Aber eine Folge wird das Essen vom Baum der Erkenntnis doch auch unmittelbar haben: Es wird, wie die Schlange das prophezeit hat, Adam und Eva die Augen öffnen und zu einem Wissen über Gut und Böse führen. Das ist alles richtig, die Schlange lügt nicht. Wie nebenher platziert sie in ihrer Prophezeiung nur noch die Aussage, dass Gott weiß, dass mit dem Essen von jenem Baum der Mensch ein Wissen erlangen wird, wie Gott selbst es hat, und auf dieser Ebene dann ihm gleich sein wird. Auch das stimmt alles, aber es enthält doch eine Suggestion, in der ganz sachte etwas nicht stimmt, denn die Schlange legt auf diese Weise nahe, dass Gott eine bestimmte Absicht hat. Zumindest muss ihre Aussage bei Eva so ankommen, als wolle Gott verhindern, dass der Mensch wird wie Gott und weiß, was dieser weiß. Gott will dem Menschen etwas vorenthalten, und das mag Eva unterschwellig als ein »Unrecht« empfinden. Hier erwacht der Geist der Emanzipation, der Loslösung. Auch sind die Früchte jenes Baumes eine Lust für die Augen und eben auch verlockend, weil sie klug machen. Das alles ist viel zu geheimnisvoll, als dass man es auf sich beruhen lassen könnte. Dieses Geheimnis will offenbart werden. Damit schon ist eine Idee im Menschen veranlagt, die ein Verhältnis von innen und außen enthält, von verborgen und offenbar. Dieses Verhältnis ist eine Voraussetzung für die Wahrheitsfrage, die Eva sich vor den Avancen der Schlange so überhaupt nicht gestellt hat: Etwas kann offenbar werden, was vorher im Verborgenen lag. Und dabei bekommt das Verborgene eine moralische Note: In ihm liegt eine Art »Unwahrheit«, die im Übergang zur Wahrheit – griechisch der aletheia (= Unverborgenheit) – aus der Deckung tritt und offenbar wird.

 

Dass es ein Innen und ein Außen gibt und beide sich voneinander unterscheiden, das birgt den Keim des Moralischen in sich, der sich schon vor dem Sündenfall im Gespräch zwischen der Schlange und Eva in der Wahrheitsfrage und der Versuchung zeigte. Die Moralität wird aber erst eigentlich mit dem Fall manifest: zum einen im Sündenfall selbst, insofern dieser eine Verbotsübertretung ist, zum anderen in seinen Folgen. Denn unmittelbar nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis heißt es von Adam und Eva, dass ihre Augen aufgetan und sie gewahr wurden, dass sie nackt waren. Und sogleich flechten sie Feigenblätter und machen sich Schurze. Sie treten also in die Verhüllung ein. Mit diesem Tatbestand schließt der Bericht vom Sündenfall. Ihm unmittelbar vorausgegangen war die Aussage, dass beide, »der Mensch und sein Weib«, nackt waren und sich nicht schämten (1. Mose 2,25). Sie hatten nichts zu verbergen, weil es die Zweiheit von innen und außen noch gar nicht gab.

Mit der Scham tritt der Mensch in ein Selbstverhältnis, das zugleich ein Verhältnis zu seiner Umwelt ist. Er sieht sich selbst und sieht sich zudem mit den Augen der anderen. So tritt er sich selbst gegenüber und spaltet sich in Subjekt und Objekt, was die Grundlage für ein Bewusstsein von sich selbst ist. Die Scham, die er fühlt, geht aus dem Erlebnis der Differenz hervor. Sie ist der unwillkürliche Ausdruck einer verlorengegangenen Einheit und einer fehlenden Übereinstimmung zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen innen und außen.

Von nun an gibt es etwas, das man verbergen möchte. Dass es die eigene Nacktheit ist, die man verhüllen will, hat seine metaphorische Bedeutung: Die »nackte Wahrheit« möchte man nicht zeigen, sprich: man hält mit ihr hinterm Berg. – Warum? Offenbar verspricht man sich einen Vorteil davon.

Die Entdeckung, dass wir uns verhüllen und uns anders geben können, als wir sind, zielt unmittelbar darauf ab, beim anderen etwas Bestimmtes zu erreichen. Adam und Eva verstecken sich nach dem Sündenfall vor Gott, weil sie sich als nackt erleben. Sie wollen die Wahrheit verbergen, die es überhaupt erst mit dem erlangten Bewusstsein von der eigenen Nacktheit gibt. Diese Nacktheit stand vor dem Fall jenseits der Moral, war weder gut noch böse. Jetzt aber kann mit ihr das Bewusstsein des eigenen Fehlverhaltens verbunden sein. Der Mensch hat etwas getan, was er nicht zeigen möchte. Möglicherweise will er im Versteck der Strafe entgehen. Welche Motive auch immer hinter dem Verstecken und Verhüllen liegen, in dem Moment, in dem es überhaupt Motive dafür gibt, ist nun auch die Zweck-Mittel-Relation geboren.

Die Konsequenzen des Sündenfalls, also die Entdeckung von innen und außen, von Sein und Schein hängen auf subtile Weise mit der Zweckorientierung in unserem Leben zusammen. Mit dem Schein, mit der Verhüllung, gehen Absichten einher und lassen sich Zwecke erreichen. Damit ist das Pragmatische in die Welt getreten. Positiv ausgedrückt heißt das: dass wir selbst bestimmt und zielstrebig handeln können, ist eine Folge des Sündenfalls.

Auch die Scham hat ihre positiven Seiten. In ihr schlägt das Gewissen, das Bewusstsein von Recht und Unrecht. Das Wunderbare an der Scham aber ist, dass es ein unwillkürliches und damit unkontrollierbares Geschehen ist. Man schämt sich, ob man will oder nicht. Und paradox ist dabei, dass, wer sich schämt, am liebst nicht gesehen werden möchte. Aber ausgerechnet jetzt bekommt er einen roten Kopf und wird besonders gut sichtbar. Er offenbart sich selbst, tritt aus seinem Versteck hervor, ist wahrhaftig.

Auf Gottes Frage an Adam: »Wo bist du?« antwortet dieser: »Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.« (1. Mose 3,10) Adam ist ehrlich in seinem Hervorlugen aus dem Versteck. Seine Scham ist ein Wahrheitsereignis, ein Offenbar-Machen im Verhüllen. In der Schamröte artikuliert sich das Vertrauen in die Wahrheit des Seins. Sie tritt an der Grenze des Bewusstseins auf und ist der Garant dafür, dass ein höheres Bewusstsein in uns lebt.