Das Spiegel-Bild

AutorIn: Georg Dreißig

Er war ein schrulliger Mensch. Jahrelang hängte er über dem Waschbecken in seinem Badezimmer, wo sonst der Spiegel seinen Platz hat, täglich ein anderes Bild auf: einen Druck vom »Mann mit dem Goldhelm«, das Foto eines Neffen, einen Zeitungsausschnitt mit dem Por­trät der Monroe, gelegentlich auch eine Madonna von Raffael oder einen Engel von Paul Klee …

Er brauchte sich nicht zu rasieren, denn er trug einen wallenden Vollbart. So bestand der wesentliche Teil seiner Morgentoilette darin, das Bild zu betrachten und zu versuchen, sich in dem Gegenüber wiederzuerkennen, in der Monroe oder dem Kind oder dem »Mann mit dem Goldhelm«.

»Jetzt«, sagte er dann und beendete die ­Toilette.

Nein, man merkte ihm nicht an, wen er am Morgen vor sich gesehen hatte. Er hatte keine Allüren. Man merkte aber, mit welcher Aufmerksamkeit er sich einem anderen zuwenden konnte, wie intensiv sein Verstehen, wie einfühlsam sein Fragen war.

Als ich ihn kennenlernte, war er schon alt, längst pensioniert und hatte fast allen Kontakt zu Menschen verloren. Als ich ihn auf die Spiegel-Bilder ansprach, schüttelte er den Kopf. Das sei vorüber, eine Marotte früherer Tage. Das Bild, das jetzt da hinge, tausche er nicht mehr aus …

Später sah ich das Spiegel-Bild über dem Waschbecken: das leidvoll geneigte Haupt des Gekreuzigten mit der Dornenkrone.

Ich sagte schon, dass er ein schrulliger Mensch war. Damals ahnte ich noch nicht, dass mir dieses Bild fortan aus jedem Spiegel entgegenblicken würde …