Quarantäne – erzwungener Stillstand oder Zeit der inneren Reinigung?

AutorIn: Hans-Bernd Neumann

Auch das noch … PCR-positiv! Die letzten Wochen waren wirklich sehr anstrengend. Der Haushalt in der alten Heimat musste aufgelöst und verpackt werden. Unsere Familiensituation ist durch den Auszug des letzten Kindes eine andere geworden und der Umzug zum neuen Wirkungsort war die Gelegenheit, gewissermaßen Inventur zu machen. Irgendwie gleichzeitig reinigend, aber auch schmerzhaft. Das Gedicht Hermann Hesses wird gelebt: »… Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.« In der neuen Wohnung konnten wir noch gerade die großen Möbel aufstellen. Dann ging nichts mehr. Zuerst dachten wir, es wäre der großen Anstrengung geschuldet. Wir waren beide völlig erschöpft. Hinzu kamen ganz normale Erkältungssymptome. Zur Sicherheit haben wir einen Schnelltest gemacht. Der eine wie gewohnt negativ, der andere jedoch positiv. Ausgerechnet zum Beginn des Wochenendes. Nach gefühlten Stunden am Computer und Telefon und freundlich nichtssagender Warteschleifenmusik war klar: Am Wochenende geht in Deutschland nur etwas, wenn gesundheitlich gar nichts mehr geht. So schlimm schien es doch noch nicht um uns zu stehen. Am Montagmorgen dann der PCR-Test, und Dienstag kam die doppelt positive Antwort.

 

Quarantäne erscheint mir zunächst als ein aufgezwungenes Innehalten, für das ich noch keine geklärten Gefühle habe. In den ersten Tagen nach dem Testen hätten wir beide gar nicht am aktiven Leben teilnehmen können. Wir waren einfach krank und ruhebedürftig. Aber ich bin mir sicher: Ohne die verhängte Quarantäne hätte ich wie sonst die körperliche Schwäche ignoriert, irgendwie weggedrückt und mit der Arbeit weitergemacht. So haben wir es in den letzten Jahrzehnten gelernt und geübt. Bettruhe, krank sein ist gesellschaftlich nicht gut angesehen. Wie oft stand ich vor meinen Schulklassen und war eigentlich krank. Wie oft habe ich meinen Mitmenschen durch meine pure Anwesenheit bereits halbbewusst gesagt: »Seht her, obwohl ich eigentlich ins Bett gehöre, arbeite ich!« Woher kommt eigentlich dieser Druck? Wer übt ihn aus? Quarantäne ist in dieser ersten Phase eine Helferin für gesunde Gedankenfindung! Was macht man denn, wenn man nichts machen darf – zumindest nicht unter Menschen? Eigentlich lese ich gerne! Nur im »Alltag« komme ich immer seltener dazu. Warum eigentlich? Lesen gehört doch immanent zu meinem Beruf? Verfalle ich unbewusst der Irrlehre, dass Arbeit daran zu erkennen ist, keinen Spaß machen zu dürfen? Jetzt in der Quarantäne erlaube ich mir, wieder mehr zu lesen. Nicht weil ich einen Vortrag oder eine Stunde vorbereite, sondern ich lese um des Lesens willen. Ich merke, dass ich in dieser Disziplin etwas eingerostet bin. Lesen um des Lesens willen. Und nur so lange lesen, wie ich möchte, denn ich bin ja krank und darf krank sein! So führt mich die auferlegte Quarantäne zu Handlungen, die mich innerlich aufräumen und gesunden lassen. Dies ist die Umschreibung dessen, was im klassischen Sinne ursprünglich mit dem Wort »Hygiene« gemeint war: Gesundung, innerlich rein werden.

 

Jetzt, da ich über die Quarantäne sinniere, möchte ich klarstellen: Sie trifft mich in einer sehr privilegierten Situation: Wir leben in einer neu renovierten großen Wohnung mit viel Licht, der Kühlschrank ist voll, und mir wird nicht mit Gehaltsentzug gedroht. Durch den behördlich verordneten »Freiraum«, den ich gerade geschenkt bekomme, kann ich mir gut vorstellen, was Quarantäne für eine mehrköpfige Familie in begrenzten Wohnverhältnissen bedeutet. Oder Quarantäne ohne Lohnfortzahlung. Wie belastend wäre Quarantäne nach Wochen des Lockdowns für den Menschen, der einsam ist? Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer kann belegen, dass in einer Gesellschaft wie der unsrigen statistisch erwiesenermaßen die Einsamkeit die häufigste Todesursache ist, noch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wie wirkt sich eine solche Zwangsmaßnahme auf ohnehin schon einsamen Menschen aus? Gedanken über meine Quarantäne lassen mich erleben, wie dankbar ich bin für die Lebenslage, in der ich mich befinde. Auch dieses Verorten meiner eigenen Lebensverhältnisse relativ zu denen anderer Menschen erlebe ich als ein inneres Bereinigen – Seelenhygiene.

 

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Heute lese ich mit zwei Monaten Abstand meine Zeilen aus der Quarantänezeit, denn der Redakteur hat freundlich angefragt, wie es um das Manuskript steht ... Was ist außer dem Status »Genesender« aus der Quarantäne geblieben? Bin ich tatsächlich genesen oder doch wieder rückfällig geworden in alte Muster? Nun, ich lese weiterhin mit Freude und gebe dieser Passion auch Raum. Wenn ich mit anderen Menschen zusammen bin, habe ich jetzt eine Grundstimmung der Dankbarkeit für die Möglichkeit dieses Miteinanders. Aber auch das alte Gefühl ist wieder da: »... ich muss noch!« Der Widerstand gegen dieses Gefühl des Getriebenseins nimmt mit dem größer werdenden Abstand zu meiner Quarantäne ab. Aus der Erfahrung dieser ungewollten und zugleich geschenkten Zeit verstehe ich neu, warum für mein Leben Zeiten im Tages-, Wochen- und Jahreslauf wichtig sind, die nicht von äußeren Notwendigkeiten bestimmt werden: »Hygienezeiten«. In der Zeitung habe ich gerade von einem Konzernleiter gelesen, der in seinen Terminkalender immer schon für das übernächste Jahr als erstes die Zeiten einträgt, in denen er Urlaub macht, sich in selbst auferlegte Quarantäne von seinem Arbeitsleben begibt. Er brauche diese Zeiten, so war zu lesen, damit er die Freude an seiner Arbeit nicht verliere. Hätte ich ohne meine Quarantänezeit diesen Zeitungsartikel gelesen? Ich muss innerlich lächeln ...