Reinheit in der Religion
Denken wir wirklich an Religion, wenn wir das Wort Reinheit hören? Viel eher stellen sich andere Vorstellungen ein: »reines Wasser«, und wir meinen, dass es frei sei von fremden Zusätzen; oder »reine Hände«, und wir meinen, dass von ihnen der Schmutz abgewaschen sei. Es lassen sich manche Sinnzusammenhänge finden, in denen wir das Wort »rein« im Sinne des »frei von« gebrauchen. Weiter gefasst verwenden wir das Wort »rein«, wenn wir von einem »reinen Gewissen« sprechen. Das Gefühl, ein reines Gewissen zu haben, entsteht nicht so sehr dadurch, dass wir unser Verhalten an den Normen eines zwischenmenschlichen Wohlverhaltens messen oder an einer irgendwoher vorhandenen Ordnung des Rechts oder des Unrechts. Die innere Sicherheit des reinen Gewissens erwächst wohl eher aus der strengen Prüfung, ob das eigene Verhalten dem untrüglichen Wahrheitsempfinden unseres Ichs entspricht.
Unserer Fragestellung nach der Reinheit in der Religion nähern wir uns einen Schritt mehr, wenn wir uns dem Ausdruck der »reinen Lehre« zuwenden und dies auf die christliche Lehre beziehen. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, zu klären, welche der christlichen Konfessionen im Besitz der reinen, d.h. der geoffenbarten Lehre Jesu Christi sei. Festzuhalten ist, dass in dem Augenblick, als im Gespräch mit den Jüngern Christus Jesus zu Petrus sagt, dass auf ihm, d.h. wohl auf dessen Bekenntnissicherheit, der Herr seine Kirche gründen wolle (Mt 16,18). Ein Lehrauftrag an Petrus ist aber damit in Cäsarea Philippi nicht ausdrücklich erteilt worden.
Bei den Aussendungen der Jünger, von denen die Evangelisten berichten (Mt 10; Mk 3 und 4; Lk 9 und 10), wird den Jüngern jeweils eine Verkündigung aufgetragen. Ihr ausführlicherer Auftrag bezieht sich jedoch auf ihr Heilwirken unter den Menschen. Den eindrucksvollsten Auftrag an die Jünger, das Wort Jesu Christi in die Welt zu tragen, lesen wir bei dem Evangelisten Matthäus in seinem Bericht des letzten Zusammenseins der Jünger mit ihrem Herrn nach seiner Auferstehung: Die elf Jünger aber wanderten nach Galiläa auf den Berg, auf den Jesus sie berufen hatte (…) und er trat zu ihnen allen, erhob seine Stimme und sprach: Nun ist mir übergeben die Schöpfervollmacht im Himmel und auf Erden. Gehet hin und lasst zu Jüngern werden alle Völker der Welt. Tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie alles bewahren, was ich euch als Geistesauftrag übergab (Mt 28,16 ff).
Was aber ist der Geistesauftrag des Christus Jesus an seine Jünger, was ist seine »reine Lehre«? Im Anschluss an den Prophetenspruch In Bildern will ich reden, wenn mein Mund sich auftut; enthüllen will ich, was verborgen, seit die Erde gegründet1 beschreibt sie der Evangelist Matthäus mit den Worten Alles lehrte Jesus die Menge in Gleichnissen, und außer in Gleichnissen sprach er nicht zu ihnen (Mt 13,34). So ist die »reine Lehre« Jesu Christi also nicht in dogmatischen Sätzen, sondern in Bildworten gegeben, die sich in der Seele eines jeden Hörenden individualisieren, wie der Betreffende sie zu hören vermag.
Anders ist unser Eindruck von der Lehre Jesu Christi, wenn wir die Frage nach ihr an das Johannesevangelium richten. In ausführlicher Weise berichtet sein Schreiber von den Lehren des Menschensohnes an das um ihn sich versammelnde Volk, an die Pharisäer und Schriftgelehrten oder die Jünger. Die Überhöhung dieser Lehren im Johannesevangelium sind die Abschiedsreden Jesu Christi (Joh 14–16), die sich im sog. Hohepriesterlichen Gebet (Joh 17) vollenden. In ihm lässt er sein göttliches Wesen und sein ewiges Verbundensein mit der Menschheit offenbar werden. Ob es wohl angeht, zu sagen: Die »reine Lehre« Jesu Christi im Sinne des Johannesevangeliums haben wir in den Ich-Bin-Worten vor uns? In ihnen spricht Er sein Gott-Sein als Mensch-Sein aus.
Vermag es eine Religion, in den Gläubigen das Bewusstsein und das Gefühl zu stärken, dass der Mensch in sich ein Ich-Bin-Ich-Sein birgt, das ihm die innere Sicherheit, den Glauben, vermittelt, als Geschöpf dieser Erde seinen Ursprung im Geist, in Gott, zu haben und aus dieser Verbundenheit Gott als seinen Vater anzusprechen, dann kann wohl von Reinheit in der Religion gesprochen werden. Einer solchen Religion ist jede Jenseitssehnsucht und jede Form des religiösen Egoismus fern. Ihr Anliegen ist die Stärkung des gottgegebenen schöpferischen Ich-Bin-Ich des Menschen für die ganze ihm geschwisterlich verbundene Schöpfung.
1 Psalm 78,2