Selbsterkenntnis in der Geschichte

AutorIn: Frank Hörtreiter

Vor einem Jahr ist der erste Band dieser »Selbsterkenntnis in der Geschichte« erschienen und auch hier besprochen worden. So schnell der Folgeband!

Diesmal kommt besser heraus, was Lorenzo Ravagli mit dem Begriff »Gründungsmythos« meint: eine Gruppe blickt auf ihre Ursprünge und einigt sich – oft unbewusst – auf eine gemeinsame, sinnstiftende Erinnerung. Das ist verständlich und häufig, sollte aber durchschaut werden. Ravagli schreibt auf S. 419 (mit Rückgriff auf Hans Blumenberg und Mircea Eliade), dass er nichts abwerten, sondern nur feststellen will. Man kann ihm das glauben, aber nur dann nachahmen, wenn man Begriffe und Mythen als austauschbare Werkzeuge sieht. Ein mittelalterlicher Philosoph hätte gesagt: »Du bist ein Nominalist und glaubst nicht an die Wirklichkeit der Ideen.« Immerhin: Ravaglis Vergleich der äußeren Fakten mit deren verschiedenen möglichen Deutungen ist lehrreich, besonders in Bezug auf die Dornacher Weihnachtstagung von 1923/24, in der Rudolf Steiner sich mit der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung auf allen Ebenen verband. Mit spürbar wachsender Distanz entdeckt Ravagli eine Überhöhung dieses Ereignisses durch führende Anthroposophen, die daraus ein Fortdauern der Gesellschaft und ihres Vorstandes ableiten, die ohne diesen »Mythos« angesichts der andauernden und quälenden Streitigkeiten gefährdet wäre.

Vielleicht braucht Ravagli diesen kritischen Blick, weil er eine Konfliktgeschichte anstelle einer allgemeinen Geschichte liefert. Dies allerdings gelingt akribisch.

Das Schwergewicht liegt auf der Berichterstattung der Generalversammlungen in Dornach. Von Jahr zu Jahr werden die Vorträge und Debatten referiert; sie wirken auf den Leser wie Frontberichte, verbunden mit der gerügten Überhöhung des Verständnisses der Weihnachtstagung. Kein Lesevergnügen, zumal zur Faktendarstellung ungezählte Seitenblicke und Hinweise auf Widersprüche eingeschoben werden! Ein Journalist hätte vielleicht an die alte Grundregel erinnert: »Meldung und Kommentar bitte deutlich trennen!«

Es ist jammerschade, dass auch hier wieder ein Personen-Index fehlt. Wie wäre es, wenn er wenigstens kumuliert in den letzten Band käme? Von welchem Leser darf erwartet werden, dass er bei Menschen (deren frühere Handlungen und Ansichten Ravagli offensichtlich sehr gut im Gedächtnis hat) sämtliche anderen Erwähnungen präsent hat? In der anthroposophischen Gesellschaft sind es nun einmal nicht bloß Meinungs- und Ideenverläufe, sondern Einzelmenschen, die die Geschichte wertvoll und beachtenswert machen.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt angekommen: die inneranthroposophischen Debatten (oft mit einer fast unwirklichen Distanz zum sonstigen Zeitgeschehen) stehen auch in diesem Band II im Vordergrund; die individuellen Lebensentschlüsse und Leistungen treten demgegenüber zurück. Als Ausnahmen gibt es einige Glanzpunkte: die Gründung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke (die anderen Kliniken kommen kaum mehr vor), der Universität Witten-Herdecke, die Beziehungen zur ökologischen Bewegung aus dem Geist der 68er; trotz aller Einschränkungen ist diese Darstellung für den unverzichtbar, der sich mit Geschichte der Anthroposophie auseinandersetzen möchte.

Die Klärung des Verhältnisses zur Christengemeinschaft, um die sich der Vorstand der anthroposophischen Gesellschaft bemüht hat, wird übrigens sehr treffend auf S. 506f und 520ff beleuchtet; dieser Aspekt wird sicherlich im Band III noch mehr Raum benötigen.