Auftrag und Arbeit des Priesters in der Gemeinde (VI) | Mit Fragen unterwegs sein

AutorIn: Ulrich Meier

Aus welcher spirituellen Sendung, mit welcher sozialen Haltung und für welche religiös motivierten Initiativen arbeiten Priesterinnen und Priester in den Gemeinden der Christengemeinschaft? Dieser Fragestellung ist eine Reihe von Beiträgen im Jubiläumsjahr 2022 gewidmet. Aus konkreten Einblicken in die alltäglichen Aufgaben und dem Versuch eines Überblicks über die Tätigkeitsfelder soll eine Art Berufskunde entstehen, durch die das Bild des priesterlichen Handelns in der Gemeinde transparent werden kann.

Gottbegnadet, die da arm sind
vor dem Geist …
Die Seligpreisungen Jesu Christi beginnen mit diesen Worten, die einen gewaltigen Widerspruch aufmachen. Zunächst werden damit als Vollkommene hervorgehoben, die ihre Besitzlosigkeit gegenüber dem Geist erleben. Die Rede schließt aber in Verheißung eines schier unerschöpflichen Eigentums: …, denn ihrer ist das Reich der Himmel (Mt 5,3). Nehmen wir diese Aussage radikal ernst und verfallen nicht in die billige Interpretation, dass es sich hierbei nur um ein Als-ob handeln kann, mit dem Gott uns als potentielle Wahrheitsbesitzer zur Bescheidenheit ermahnen will, gilt es, einen Übungsweg des Armwerdens zu entwerfen.
Das Ziel der Entledigung von allem aufgehäuften Wissen gibt dem Streben nach geistigem Leben eine soziale Note der Ebenbürtigkeit: Niemand darf sich das Recht nehmen, gegenüber der Gnade Gottes einen Anspruch zu erheben, der ihn von anderen Menschen unterscheidet. Hier herrscht das Prinzip der Gleichheit, nur der Weg in die Armut ist individuell und, wenn man so will, die Routine im Umgang mit dem Loslassen des vermeintlichen Besitzes. Für potentielle Teilhaber des Reiches der Himmel scheint es – in Spiegelung zum Anfang im Paradies – auf die Verschiedenheit nicht anzukommen. So kann man die Verheißung aus der apokalyptischen Vision des Eingehens im vom Himmel herabgestiegenen Neuen Jerusalem lesen: Gottbegnadet, die ihre Gewänder waschen: Sie haben Anteil am Baum des Lebens und werden durch die Tore in die Stadt eintreten (Offb 22,14).

Die Konsequenz, mit der Jesus dem »reichen Jüngling« bescheidet, dass das Einhalten der Gebote noch nicht den Eingang ins ewige Leben öffnet, beinhaltet einen nächsten Hinweis auf den Weg des Armwerdens: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach (Mt 7,21). Wie lässt sich dieser Vers lesen? Was immer du in deinem Bemühen um den Geist empfangen hast, muss zuerst umgemünzt und dann den Fragenden weitergegeben werden, bevor ein »Leben im Geist« möglich wird. Ewiges geht durch das Tor der Zeit in uns Menschen ein und wird erst fruchtbar, wenn wir es nicht unverwandelt behalten, sondern als Potential untereinander verschenken. Solange wir uns in eine brüderliche Schenk-Gemeinschaft gegenüber dem Geist einerseits und den Mitmenschen andererseits einbinden (lassen), solange wir Bettler unter Bettlern bleiben, können wir Christus auf dem Weg zum ewigen Leben nachfolgen. Liest man die später in der Bergpredigt geprägten Worte nicht als pädagogischen Auftrag, sondern als Charakteristik eines spirituellen Lebensgesetzes oder als göttliche Zusage, ergibt sich daraus ein dreifaches »Instrument« spiritueller Bettelkunst: Denn jeder, der bittet, empfängt; und wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird aufgetan (Mt 7,7). Noch konkreter als zuvor sind damit die Tätigkeitsfelder beschrieben, auf denen wir dem Leben in der Gnade Gottes entgegensehen können: Bitten, Suchen und Anklopfen. Alle drei haben eine innere Voraussetzung: Wer sein Wort zur Bitte erhebt, muss den eigenen Mangel fühlen; wer sich auf die Suche macht, braucht dafür die Einsicht, noch nicht am Ziel angekommen zu sein; wer an die Tür anklopft, muss seine Sehnsucht nach einem Schwellenübertritt in eine andere Welt entdeckt haben.

Blicken wir auf den Auftrag der Priesterinnen und Priester für die Förderung des religiösen Erkennens in der Gemeinde, wird deutlich, dass es dabei wohl kaum um eine als exklusiv verstandene Wissensvermittlung im Sinne eines Reichtums an bewahrter Erkenntnis oder eines Anspruchs auf absolute Wahrheit gehen kann. Was in der Priesterweihe als Dienerschaft gegenüber dem Wort ausgesagt ist, lässt sich ganz im Sinne des skizzierten Armutsweges beschreiben. Das Priestertum ließe sich demnach als ein konsequenter Weg des Übens im Bitten, Suchen und Anklopfen verstehen und leben. Das griechische Wort presbýteros, aus dem sich der deutsche Ausdruck »Priester« herleitet, heißt wörtlich »Ältester«. Für unser Thema könnte man es so wenden, dass die Priesterinnen und Priester schon länger auf dem Armutsweg der Nachfolge Christi gehen und darin ihren Gemeinden vorangehen. Ihre dienende Verantwortung für das lebendige Wort erweist sich neben der eigenen Bemühung um geistliche Armut in der Bereitschaft, Wege religiösen Erkennens auch für andere aufzuschließen und sie darauf zu begleiten.

Religiöses Erkennen in wiederholter
Begegnung
Das christliche Jahr stellt uns mit jedem Umgang wieder an die geistigen Orte, an denen wir vor einem Jahr bereits waren. Dies bedeutet zum Beispiel, dass wir uns trotz der historischen Tatsache der Auferstehung Christi mit jeder Passionszeit noch einmal dafür leermachen, Ostern zu suchen. Konkret gehen wir im Eintauchen in das Osterevangelium (Mk 16) wieder und wieder mit den Frauen zum Grab, um dort den Leichnam Jesu zu salben. Konnten wir auch dieses Jahr staunen, dass der Stein an die Seite gewälzt war? Waren wir bereit, in das Dunkel des Grabes einzutreten und den Schrecken über die leere Stätte zu erleben? Berührt uns die Stimme des Jünglings, der sie uns zeigt und erst nur das Wort von der Auferstehung sagt? Finden wir nach der Flucht unseren Auftrag wieder, den Jüngern und Petrus von der Verheißung der Schau zu reden? Der Jahresweg hat nicht Anfang und Ende, sondern führt in wachsenden Kreisen von Erwartung zum Erscheinen, vom Leid zur Freude, von Geistentbehrung zu Geisterfüllung.
Wissenschaft kann sich für die einmaligen Wege der Klärung von Vorgängen, Erscheinungen und Objekten interessieren – und sich dabei auch befriedigend erschöpfen. Sobald sich ihr Interesse jedoch mehrfach auf die gleiche Frage richtet, beginnt bereits ein zarter Wandel, der als Übergang vom Wissen zum Glauben, von Wissenschaft zu Religion verstanden werden kann. Die zunächst auf das Objekt gerichtete Wahrnehmung wendet sich nun auch dem vielfältigen Netz der Beziehungen mit anderen Objekten zu – vornehmlich auf die Beziehung der beteiligten Menschen zu deren Erfahrung und zu anderen Beteiligten. Glaubenskraft ist, so verstanden, immer auch Ausdruck von Beziehung, die über das Erkennen hinaus- und zum Bekennen übergeht. Ich kann eine Wahrheit oder auch einen Menschen auf eine bestimmte Weise erkennen – indem ich nun an sie oder ihn zu glauben beginne, habe ich eine umfassendere Beziehung aufgenommen.
Kürzlich erlebte ich ein Podiumsgespräch zweier Schauspieler, die unter anderem darüber sprachen, welches Geschenk die oft wiederholte Aufführung eines Dramas auf der Bühne bedeute: Man gehe immer wieder einen Weg, sich so auf die Figur einzulassen und sich in sie hineinzuleben, als wäre es das erste Mal. Auch Musikern stellt sich ja die Aufgabe, sich musikalische Bewegungen durch stete Wiederholung des Gleichen zu erschließen. Niemand würde bei den Zeitkünsten auf den Gedanken kommen, man könne mit deren Inhalten jemals »fertig werden«. Die beiden Schauspieler beschrieben als Ideale ihrer Berufspraxis nicht etwa den Reichtum oder die Perfektion, sondern den komplizierten Weg zur Einfachheit und die schwer zu erringende Leichtigkeit – beides im besten Sinne Armutsideale.

Fragen entdecken und mit ihnen leben
Aus der inneren Entwicklung Parzivals kann der hohe Wert der Frage abgelesen werden, der weit mehr als den mechanischen Anlass zur Antwort beinhaltet. Dass er dem kranken Amfortas nicht die lösende Frage nach dessen Leiden stellen kann, wird zur tiefen Tragik und Entwicklungshemmung nicht nur für Parzival selbst, sondern letztlich für beide Beteiligte und deren Schicksalsumkreis. Das Verstummen der Fragen bedeutet auch heute nicht nur den Beginn einer traurigen Verödung von Lernfeldern, sondern gehört zu den Alarmzeichen kulturellen Verfalls. Von Kindern können wir uns auf das zarte Feld unaufhörlichen Fragens verweisen lassen, für das wir in Zeiten ungefragter Informationsüberflutung taub zu werden drohen. Der Frage geht die Erfahrung einer spezifischen und fruchtbaren Leere in der Seele voraus. Sie entstammt einem Mangel, der sich bereits im Wort zu wenden beginnt. Sie markiert die erste Öffnung des Raums, aus dem sich gezielte Wahrnehmung ergeben und in dem sich Erlebnisse einstellen können. Die geistige Produktion des Fragens kann nur vom eigenen Selbst aus geschehen – was sich dialogisch daraus ergeben kann, wird immer gemeinschaftliche Leistung sein.
Dem wunderbaren und reichen Feld der aus dem Feuer des Interesses geborenen Fragen, die auf eine Antwort warten, deren Hunger und Durst sich im Zusammenspiel mit immer neuen Paaren von Fragen und Antworten für jeweils eine Zeit stillen lässt, stehen die anderen Fragen gegenüber, die so vital oder groß sind, dass es sich lohnt, sie auch ohne Aussicht auf Antworten zu kultivieren. Die Rede ist hier von den Fragen, mit denen wir zu leben haben und die uns umgekehrt auch am Leben halten: Fragen nach dem Sinn etwa, nach der Qualität, nach dem unstillbaren Warum. Große Fragen sind nicht etwa Ausdruck von Dummheit, sondern vielmehr ein mutiges Bekenntnis zum Wert des Nichtwissens. Joseph Beuys hat mit seiner provokanten Aussage »Mit dummen Fragen fängt jede Revolution an« deren Wandlungspotential hervorgehoben. Was hier natürlich nicht genügt, ist das bloße Als-ob des Nichtwissens, wie es Heinrich Spoerl humorvoll in seiner Feuerzangenbowle durch den Ausspruch von Lehrer Bömmel an der Dampfmaschine vorführt: »Da stelle mer uns janz dumm ...«