Worte so sprechen, als seien die Himmel geöffnet in ihnen

AutorIn: Georg Dreißig

An der »Mündung«
Plötzlich kommt mir eine gute Idee, leiser als ein Hauch zwar, aber dennoch ganz konkret, richtungweisend, lebenstauglich. Ich bin begeistert. »Da ist mir aber etwas ganz Überraschendes eingefallen!«, denke ich vielleicht. Wunderbar, dass es das gibt: gute Einfälle aus dem Nichts, die uns die Zukunft erhellen, Orientierung geben, Anregung, wie wir uns verhalten, was wir sagen, ja, wie wir unser Leben neu ergreifen können.
Halt! Aus dem völligen Nichts ist der Einfall denn doch nicht gekommen. Etwas war schon da: das innere Tasten nach der Idee nämlich, die mir noch nicht greifbar war. Aber dieses Tasten war, ehe mir die Idee kam, nicht mehr als ein leeres Saugen, sinnend, sehnend, suchend. »Ich weiß nicht«, würde ich geantwortet haben, wenn jemand mich gefragt hätte, wie es steht. Und jetzt plötzlich: »Ich weiß!«
Aber was bedeutet das? Das, was ich da plötzlich weiß, ist mir zugleich noch ganz neu, vielleicht so bisher von mir nie gedacht. Es ist so neu, dass es mir noch ein bisschen fremd erscheint, erst von mir befragt, erkundet werden will. Ich muss mir das, was mir da eingefallen ist, erst zu eigen machen.
Wie mache ich das?
Ich lausche in ein Daseiendes hinein, das sich noch gar nicht begrifflich ausgesprochen hat und doch zweifellos schon ist. Indem ich versuche, es näher zu erkunden, denkend, fühlend, tastend in es eindringe, beginnt es sich zu klären, zu ordnen. Ich biete ihm verschiedene Wörter an, von denen es endlich das am besten zu ihm passende auswählt – »so, nein so« – und sich darin kleidet. Jetzt spricht es sich aus – nein, ich spreche es aus – in mir. Das mir eben noch Fremde spreche ich aus als mein eigenes Wort.

Was »mündet« im Wort?
In meinem Aussprechen mündet der gute Einfall ins Wort, in den Begriff. Was mich innerlich ergriffen und bewegt hat, wird hörbar, mitteilbar.
Was mündet da in meinen sprechenden Mund? Was war es, ehe es aussprechbares Wort wurde? Kann ich es auch in jenem Zustand seines Daseins finden? Kann ich das unausgesprochene Wort auf seinem Weg zur Mündung zurückverfolgen, als Brücke in das Reich des Unausgesprochenen nutzen, als Weg zur Quelle?
In seiner Schrift »Die Legende des Baalschem« übermittelt Martin Buber den Ausspruch eines chassidischen Weisen, der zu solchem Gang zur Quelle anregt: Man soll die Worte sprechen, als seien die Himmel geöffnet in ihnen und als wäre es nicht so, dass du das Wort in deinen Mund nimmst, sondern als gingest du in das Wort ein. Denn wenn einer in das Wort wirklich eingegangen ist, so ist es, als schüfe er Himmel und Erde und alle Welten von neuem.
Wir können versuchen, uns durch das Wort dahin zu lauschen, wo alles Werden seinen Ursprung hat. Der Weise legt uns nahe, dass das Werden vom Urbeginn auch heute noch in den Worten pulst. Das Wort war nicht nur im Urbeginn, es ist selbst jederzeit Urbeginn.
Als am Anfang der Weltschöpfung die Elohim, die schaffende Gottheit in siebenfältiger Wesenheit, sprachen, haben sie sich keiner Begriffe bedient. Was sie aussprechen, benennt ja nicht, was schon vorhanden und äußerlich beschreibbar wäre. Ihr Sprechen ist die alleinige Wirklichkeit, ruft hervor, was noch nicht ist, erregt Werden. Es trägt die ganze Fülle des noch verborgenen Möglichen in sich – als Werde- und Entfaltungskraft, als Schöpferimpuls und Schöpfungsziel. Die Elohim schaffen, indem sie sprechen, Himmel und Erde und alle Welten von neuem. Am Anfang ist das Vollkommene, aber noch gestaltlos, reine göttliche Absicht, göttliche Idee, vielfältige Möglichkeit, brodelnde, rumorende, kraftstrotzende göttliche Schöpfermagma, licht und glutvoll und herrlich.
Wer erregt die sieben Elohim – so ihr Name im Schöpfungsbericht des Alten Testaments; in anderen Zusammenhängen heißen sie auch die Exousiai, Geister der Form oder die Offenbarer – zu ihrem Wesen schaffenden Sprechen? Woher empfangen sie die guten Einfälle, die in ihrem Schöpferwerk in die Ausgestaltung der Erdenwelt münden?

Am Quellort
Die Bibel beantwortet diese Frage mit einem überraschend anschaubaren Hinweis, und zwar in der Offenbarung des Johannes.
Als Johannes sich infolge des Befehls des römische Cäsars Domitian auf die Insel Patmos verbannt fand, zwar dem Märtyrertod entronnen, aber aus seiner Tätigkeit als Pfarrer der sieben kleinasiatischen Gemeinden herausgerissen, musste er Sinn und Ziel seines Lebens ganz neu ergründen. Nun war dieser Johannes ein im Sterben Geübter. Er konnte tatsächlich alles Bisherige fahren lassen und sich ganz dem öffnen, was neu kommen wollte. Er nennt diese Erfahrung im 4. Kapitel seiner Offenbarung nicht eine Katastrophe, den Verlust alles Gewordenen, sondern »eine geöffnete Tür im Himmel«. Er merkt, wie seine Situation ihn aufruft, sich in den Himmel zu erheben –, und in demselben Augenblick ist er auch bereits dort. Was der Seher im 4. und 5. Kapitel seiner Offenbarung beschreibt, lese man geduldig nach, aber so, dass man selbst die Stelle des Sehers einnimmt, mit seinen Augen schaut und in der Schilderung die eigene Lebenssituation wiederzuerkennen sucht.
Wenige Elemente seien hier zur Anregung genannt.
»Und siehe, ein Thron stand im Himmel.« – Der Sinn des Himmelerkundenden nimmt ein Zentrum wahr, ein inmitten thronendes Wesen: unerschütterlich, dauerhaft, leuchtend. Eine Gestalt ist nicht zu erkennen, wohl aber ein Glanz, der in dreifältigem Farbenspiel weiß und rot und grün von dem Thronenden ausstrahlt. Dieser Thronende schweigt. Er spricht sein eigenes Wesen nicht selbst aus. Aber von seinem Thron gehen Stimmen, Donner, Blitze aus – eine Fülle von Impulsen, die in den Umkreis hinaus wirken – und sieben Fackeln brennen davor: »das sind die sieben Geister Gottes«. (Schon am Anfang der Apokalypse nennt Johannes sie bereits, wenn er schreibt – Offb 1,4 –: »Gnade euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt, und von den sieben Geistern vor seinem Thron und von Jesus Christus.« Ein weiteres Mal erwähnt er, dass die sieben Augen des Lammes, von dem im 5. Kapitel die Rede ist, ebenfalls diese sieben Geister Gottes sind.)
Das Bild vom Zentrum findet seine Ergänzung im Ring von 24 Thronenden, die zum Inmitten den Umkreis bilden, das, was zwischen Thron und ihnen selbst geschieht, zusammenfassend und zusammenhaltend, ein goldener Ring gekrönter Wesen. Auf sie trifft das Wort vom Ring aus dem Trausakrament zu: Sie runden die Ecken des Lebens, sie fassen das Weben des Seins und nehmen das Einzelne ins Ganze auf. In jeder Trauung werden sie dem Brautpaar mit anvertraut.
Zwischen dem Thron inmitten und den 24 Thronenden breitet sich »ein gläsernes Meer gleich einem Kristall«. Dieses Dazwischen ist erfüllt von Wesen. In den weiteren Schilderungen (Offb. 5) bevölkert es sich mit Myriaden von Engeln und allen Geschöpfen im Himmel und auf Erden und unter der Erde, die gemeinsam den Thronenden und das Lamm loben und preisen.
Zentrum, Umkreis und lebenerfülltes Dazwischen, das ist der Himmel, wie er sich Johannes zeigt. Im 21. Kapitel der Offenbarung wird er sich zur himmlischen Stadt, dem Neuen Jerusalem, entfaltet und geklärt zeigen.

Schon auf Erden im Himmel
Friedrich Doldinger, einer der Gründerpriester der Christengemeinschaft, lässt sein Gedicht »Unser Wandel aber ist im Himmel« in die Strophe ausklingen:
»Denn des Menschen Leben, dem der
Gott die Welt zeigt, ist im Himmel,
in des Engelwaltens Klarheit
schon auf Erden.«
Er regt uns damit an, die Höhen und Weiten und Tiefen der Welt, in der wir leben, deutlicher zu durchfühlen und auch gedanklich um die Elemente zu erweitern, die sich im Erleben und Erregtwerden ja immer wieder bemerkbar machen. Der Himmel, den Johannes schildert, ist gar kein anderer, jenseitiger Ort, sondern die Welt, in der wir schon auf Erden leben. Mitten im Leben stehen wir doch zugleich vor dem Thron inmitten.
In der Darstellung des Johannes können wir unsere eigene Beziehung zu dem höchsten Gotteswesen wiedererkennen. Auch wir wissen nicht mehr über Gott zu sagen, als dass er ist, dass er unerschütterlich ist und alle Weisheit und alle Werdekraft in ihm gründen und von ihm ausstrahlen. Aber das können wir sagen und immer tiefer empfinden und damit verbunden die Sicherheit und den Halt fühlen, die uns das Empfinden eines solchen ewigen, unerschütterlich seienden Gotteswesen vermitteln können.
Ergänzen können wir uns dieses Erfühlen des Sicherheit und Halt vermittelnden Gotteswesen inmitten um den goldenen Ring der Thronenden, die empfangen und erhöhen, was wir durchleben, ein schützender Wall, eine goldene Mauer gegen alle Angst und Gefahr, aus der wir nicht herausfallen können.
Zwischen Thron und Thronenden spielt sich unser Leben ab, in jenem von Donnern und Stimmen und Blitzen durchwitterten Bereich, in dem auch die sieben Flammen brennen, die Geister Gottes, die uns entzünden wollen. In unsere Seelen klingt all das herein als Impulse, Anstöße, Ideen, die sich oft unvermutet einstellen. Johannes’ Darstellung macht im Bild wahrnehmbar, wo die guten Einfälle, die in uns münden, ihren Quell haben: im Zentrum der göttlichen Welt, die uns sucht und sich uns schenken will.
Wer trägt sie uns zu? Wer macht, dass die Gewalt von Donnern und Stimmen und Blitzen uns nicht verschrecken, sondern uns auf Menschenmaß abgemildert erreichen? Ich selbst fühle darin eine Offenbarung unserer in diesem Bereich sehr lebendigen und tätig wesenden Verstorbenen, auch der Engel, ja, des ganzen Chors der Himmlischen, deren schützende Kraft uns in diesem Tätigsein erstrahlt. Sie bilden gewissermaßen die Atmosphäre, die die Botschaften von inmitten in den Umkreis trägt. Sie sorgen dafür, dass, was aus dem Zentrum des Himmels hervorquillt, in unser Wort, in unser Werden, in unser Wesen münden kann, ein Gnadenstrom, der uns immer wieder ergreift und neu ins Leben spült – und den Himmel in uns.
Wem plötzlich eine gute Idee kommt, sollte nicht vergessen, »danke!« zu sagen. Das Wörtchen kann ihm den Himmel öffnen.