Der Ort der Ruhe – Kleine Meditation für den Alltagsgebrauch

AutorIn: Hans-Bernd Neumann

Dieses Wasser war viel mehr als ein Getränk. Es war entsprungen aus dem Fußmarsch unter
den Sternen, dem Gesang der Winde, geboren aus meiner Hände Arbeit.

Halt! … Erst einmal tief durchatmen, und dann suche den Ort »der Ruhe« auf. Dann erst handeln!
»Eigentlich« hätte ich jetzt Religionsunterricht in der sechsten Klasse. Ich bin sogar vorbereitet. Doch noch bevor ich das Klassenzimmer betrete, höre ich, dass mich wieder einmal etwas erwartet, was so gar nicht zu meiner schönen Geschichte passt, die ich doch so liebevoll vorbereitet habe: Drei Tische sind umgefallen, die Jungs schreien auf der einen Seite und die Mädchen nicht minder laut, dafür etwa zwei Oktaven höher, von der anderen. In der Mitte ein Mädchen, das weint. Dann schauen mich alle Kinder an und fordern lautstark Gerechtigkeit von mir. Ich bemerke, dass aus den Tiefen meines Inneren Gefühle aufsteigen: Empörung über das Chaos, Ärger darüber, dass ich wieder irgendetwas »richten« soll, Ohnmacht, die nach dem Diktator in mir schreit. Eigentlich könnte ich gleich losbrüllen … Aber irgendeine Stimme ruft von einer ganz anderen Sphäre in mir dieses »Halt! … Erst einmal tief durchatmen und dann suche den Ort ›der Ruhe‹ auf.«
Der Ort der Ruhe – genauer: »Mein Ort der Ruhe«. Wo befindet sich dieser? Es ist meine Übung, wenn Gefühle sich in mir Bahn brechen wollen, die, wenn sie »unbeherrscht« auftreten, leicht außer Kontrolle geraten: Wut, Rage, bis hin zu körperlicher Gewalt. Ich »habe« dann nicht dieses Gefühl, sondern ich »bin« dieses Gefühl. Ja, mein »Ich« tritt irgendwie in der Seele zurück, und das Gefühl herrscht in ihr und durch mich hindurch. Den Ort »meiner Ruhe« aufzusuchen gelingt mir inzwischen im »Augenblick«. Es ist eine Übung, die ich über Wochen gemacht habe in einer völlig unbelasteten Situation. Ich stelle bei dieser Übung ein Erlebnis aus der Vergangenheit in die Mitte meiner Seele, in dem ich den vollständigen Einklang meiner Seele mit der Außenwelt erlebt hatte. Wichtig ist es, dieses Gefühl auch körperlich zu erleben: die Harmonie und Ruhe dieses Einklanges.

Mein Ort der Ruhe
Ich stehe, gerade als die Sonne aufgeht, oben auf dem Berg. Hinter mir liegt mein gerade sorgfältig ausgelegter Gleitschirm im Gras. Alle Rituale der Startvorbereitung sind abgeschlossen. Alle Leinen liegen richtig, alle Sicherungen des Gurtzeugs sind kontrolliert, der Helm sitzt, der Wind kommt optimal sanft von vorne. Ich bin bereit, den Gleitschirm aufzuziehen und mich anschließend laufend der Luft zu übergeben. Aber in diesem Wonnemoment kurz vor dem Laufen wird mir das Glücksgefühl dieses Augenblickes bewusst. Zu diesem gehört der leichte Wind von vorn, die Sonne, die gerade im Aufgang die Welt verzaubert, der Tau auf der Wiese vor mir, der Ruf der beiden Dohlen, die schon im Wind spielen, aber am meisten spüre ich meinen Körper: Heute Morgen bin ich um 4:30 Uhr aus dem Schlafsack gekrochen, höre noch den Griesgram in mir: »Bist du verrückt? Du könntest schlafen und jetzt willst du tausend Höhenmeter zum Startplatz wandern? Um 9:00 Uhr geht die Gondel hoch, dann bist du auch oben. Warum willst du dich quälen?« Tiefe Befriedigung durchströmt mich, dass der Griesgram in mir überwunden wurde. Jetzt spüre ich noch einmal meine Beine. Jeder einzelne der tausend Höhenmeter ist in den Muskeln fühlbar. Der Rücken, der den 12 kg schweren Rucksack getragen hat, ist jetzt im Startaugenblick leicht wie selten. Der Sonnenaufgang, der Tau in der Wiese, die leichte Brise, der Dohlenruf sind vollkommen anders, wenn ich mit der Gondel hochfahre. Ihnen fehlen die erwanderten Höhenmeter, der Schweiß, die Trinkpause auf halber Höhe, der Duft des durchwanderten Waldes, das erstaunte Muh der Kuh auf der Alm, das Rauschen des Wasserfalles kurz unterhalb der Baumgrenze. Alles, was ich hier mühsam zu beschreiben versuche, durchwallt, durchwärmt, beglückt mich in diesem kurzen Moment direkt vor dem Startlauf. Ich bin vollständig mit mir und dem Umkreis zufrieden und bin »ruhig«!

Zurück zur Klasse: Inzwischen gelingt es mir, sämtliche Gefühle des Körpers und der Seele vom Ort meiner Ruhe »aufzurufen« und darin zu weilen. Dieser Ruheort ist außerhalb der Zeit, er ist in mir, und ich kann ihn mit meiner Seele aufsuchen. Jetzt befindet sich neben dem aus der Situation aufsteigenden Gefühl auch das Gefühl der Ruhe, meiner Ruhe. Von dort aus betrachtet verlieren die aufsteigenden Gefühle ihre destruktive Eigendynamik. Jetzt weiß »ich«, dass ich da Gefühle habe, aber sie beherrschen mich nicht, sondern vom Ort der Ruhe aus kann ich diese Gefühle als Gäste annehmen und sie fragen, wohin ich sie führen darf in dieser Situation mit den Schülern. Den aufsteigenden Ärger, der unkontrolliert zur Wut wird, kann ich fragen, ob er mir gestalten hilft, die Situation kräftig zu verwandeln. Die gefühlte Ohnmacht frage ich, ob sie mir helfen will, meine Empfindsamkeit für die Situation zu zeigen. Dadurch, dass ich kurz den Ort der Ruhe aufgesucht habe, meine Wander-Beine gespürt habe, den Sonnenaufgang innerlich gesehen habe, die Dohlen im Wind spielen hörte, finde ich das Vertrauen, dass gerade diese »chaotische« Situation von mir gestaltet werden will – nicht allein von mir, sondern mit mir und den Kindern. Mein Ort der Ruhe öffnet ein bisschen die Tür für den heiligen Geist, der uns hier zuwinken möchte. Das Spannende ist dabei: ICH weiß nicht, woher heute die Lösung kommt. Aber das Vertrauen, dass die Lösung schon längst im Raum ist, sagt mir mein Ruheort.