Ulrich Meier im Gespräch mit Karl Schultz

AutorIn: Ulrich Meier

Ulrich Meier | Vielen Dank für die Möglichkeit zu diesem Gespräch. Die Frage, um die es heute geht, lautet: Wie blickst du als katholischer Priester auf die Christengemeinschaft? Und gleich zu Anfang: Wie lange kennst du die Christengemeinschaft?

Karl Schultz | Eigentlich seit 1976; damals habe ich als Pfleger im Altersheim Augustenstift in Schwerin gearbeitet. Ich bekam gesprächsweise mit, dass einer unserer Bewohner, Herr Schütz, zur Christengemeinschaft gehörte. Später habe ich in Rostock die Fachausbildung zum Heilerziehungspfleger gemacht und im Michaelshof gearbeitet, in dem auch Mitglieder der Christengemeinschaft tätig waren. Dort sind mir drei Dinge besonders aufgefallen: Das war zuerst das Oberuferer Dreikönigsspiel, dann die Gestaltung der Räume – es gab keine grellen Mickymäuse an der Wand, sondern man hatte eine Ahnung davon, dass es Zusammenhänge zwischen Farbe und Seele gibt – und schließlich, wie einer der Mitarbeiter die behinderten Kinder in die Nacht begleitet bzw. aus der Nacht in den Tag geholt hat. Während die jungen Mitarbeiter sofort Radio angemacht haben und Discomusik hörten, hatte er immer eine Kerze, ein Bild und eine Leier zur Hand. Das hat mich positiv beeindruckt. Anfang der 1980er Jahre kam es zu einer entscheidenden Begegnung: Ich war von November 1983 bis Mai 1985 Bausoldat, dabei habe ich Tom Tritschel kennengelernt. Wir haben uns in dieser Zeit eine Bude geteilt, und das war für mich eine schicksalhafte Begegnung. Die viele Zeit haben wir genutzt: Ich konnte ihm ein bisschen über Dietrich Bonhoeffer sagen, und er konnte mir Unendliches vermitteln: Impulse der Christengemeinschaft, aber auch seine besondere Affinität zur Grafik, zur Malerei und seine Verbindung mit Joseph Beuys. Das Jahr 1985 war ein Bach-Jahr. Täglich habe ich mit einem Schaschlikstäbchen ein Brandenburgisches Konzert dirigiert und Tom die wunderbare Bachsche Musikwelt nahegebracht. Das war, glaube ich, sehr nachhaltig. Mit Tom Tritschel habe ich jemanden kennengelernt, der bis heute eine große Rolle in meinem Leben spielt. Und ich darf sagen: Es ist auch umgekehrt.

UM | Durch Tom haben wir beide uns kennengelernt, als du nach deiner Zeit in der evangelischen Kirche katholischer Priester geworden bist und hier nach Hamburg gekommen bist. Wir treffen uns ab und zu und gehen einmal die Runde durch – theologisch und kirchlich, aber auch menschlich. Du hast ja gerade ein Buch im Rowohlt-Verlag veröffentlicht, zu dem ich dir gratuliere! Was dürfen die Leser erwarten? Was verbirgt sich hinter dem Titel Zwischen Kirche und Kiez?

KS | Ich ende das Buch mit dem Hinweis, dass ich als Jugendlicher gerne getrampt bin. Man steht am Straßenrand und wartet, und dann passiert das Unglaubliche: Es hält einer, man darf einsteigen und wird ein Stück mitgenommen. Im Grunde genommen ist das die Zusammenfassung meines Buches, dass ich in meinem Leben immer wieder Momente hatte, in denen mich jemand einsteigen ließ und mich ein Stück mitgenommen hat. Manche dieser Fahrten waren für mich prägend, und irgendwann habe ich selber Fahrerlaubnis gehabt und durfte selber anhalten und Leute ein Stück mitnehmen. Davon handelt das Buch, dass man sich gegenseitig einsteigen lässt, ein Stück mitnimmt und dann wieder aussteigt – und manchmal anders aussteigt, als man eingestiegen ist.

UM | Was würdest du aus deinem Blick über die Christengemeinschaft sagen: Was schätzt du an ihr und welche Anregungen möchtest du uns für die Zukunft mitgeben?

KS | Vorher möchte noch etwas über eine Station einfügen, die für mich besonders wichtig war: Ich bin viele Jahre Mitglied der Michaelsbruderschaft gewesen. Ihre Gründer kannten die erste Generation der Christengemeinschaft. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es eine Situation, in der vieles im europäischen Christentum neu erwacht ist. Friedrich Rittelmeyer sagte damals sinngemäß, in der evangelischen Kirche sei Hopfen und Malz verloren und man müsse in Verbindung mit Rudolf etwas Neues schaffen. Die Stifter der Michaelsbruderschaft sagten dagegen: Wir können nur Kirche erneuern, wenn wir Kirche sind oder Kirche bleiben. Die Stifterbrüder wie Karl Bernhard Ritter oder Wilhelm Stählin hatten ganz enge Verbindung zur Christengemeinschaft. Zum Beispiel war Wilhelm Stählin Vikar bei Rittelmeyer in Nürnberg, und Karl Bernhard Ritter war ein Kollege von Rittelmeyer am Deutschen Dom in Berlin.
Was mich an der Christengemeinschaft von Anfang an berührt hat, ist, dass Meditation und sinnliche Wahrnehmung auch in der Liturgie eine große Rolle spielen. Im evangelischen Kontext war ich gewohnt, dass der Gottesdienst eine ziemlich rationale Angelegenheit ist. Nun kann man das Sinnliche nicht gegen das Rationale ausspielen, aber es muss sich ergänzen; der Mensch ist eben Geist, Leib und Seele. Diese ganzheitliche Ansprache hat mich in der Christengemeinschaft immer überzeugt, und davon habe ich auch viel in der Michaelsbruderschaft wiedergefunden. Was es mir zuweilen schwer macht in der Christengemeinschaft, ist dann doch oft dieser geschlossene Raum. Mit »geschlossenem Raum« meine ich – ich kenne das aus meiner eigenen Kirche −, dass manche päpstlicher sind als der Papst. Das spielt auch in die Art mit herein, wie man auf die Person Rudolf Steiners blickt, und drückt sich nicht zuletzt in Äußerlichkeiten aus – in Kleidung, in einem bestimmten Habitus. Es erschwert einfach den Zugang, wenn da so etwas Elitäres stattfindet, immer mit dem Anspruch: Wir wissen genau, was Rudolf Steiner wollte; wir wissen auch genau, wer er war. Und manchmal ist »haarscharf daneben« eben auch daneben!

UM | Jetzt kommen wir zum Kern meines Anliegens in diesem Gespräch. Jede Kirche braucht ja stetige Erneuerung und ist immer schlecht beraten, wenn Traditionen die Überhand gewinnen. Was sollte die Christengemeinschaft sich ruhig bewahren, was kann sie getrost auch wieder loslassen?

KS | Dazu möchte ich eine Nuance der Meinungsverschiedenheit zwischen dir und Tom Tritschel als Beispiel nennen: Tom ist an manchen Stellen radikaler, und wenn wir über Ökumene reden, dann sagt er mir doch ziemlich klar: Wir sollen keine Perlen vor die Säue werfen. Während ich bei dir erlebe, dass du da eine andere Offenheit hast und dass du dir in einer Stadt wie Hamburg auch vorstellen könntest, etwas Gemeinsames zu tun; es muss alles sinnvoll sein, es darf nicht irgendeine Aktion um der Aktion willen sein. Ich würde euch zuallererst wünschen, dass ihr euch diese Spannbreite an Auffassungen erhaltet. Es ist gar nicht gesund, wenn alle Meinungen so über einen Kamm gebürstet werden. Es darf da ruhig eine Spannung sein. Ich würde euch weiter die Offenheit wünschen für Menschen, die biographisch, aber auch geistig einfach im besten Sinne des Wortes von außen kommen, dass ihr wirklich einen Sensus für Suchende habt. Ansonsten finde ich sehr überzeugend und würde mir das auch in der katholischen Kirche wünschen, dass ihr in dem Sinne keine definierte Lehre habt, sondern dass das Denken und die freie Entfaltung eines Gedankens nicht nur erlaubt, sondern sinnvoll und typisch für die Christengemeinschaft ist. Andererseits steht aber der Kultus fest; der Kultus ist eben nicht der Ort, wo experimentiert wird und wo der Priester oder die Priesterin sich darstellt. Bei uns ist es leider umgekehrt: Die Lehre steht fest. Ich bin ganz tief davon überzeugt, dass die Kirche einen Gewinn hätte, wenn sie solche Leute wie Hans Küng und Eugen Drewermann in ihren Reihen gelassen und nicht hinausgedrängt hätte. Gewisse extreme Haltungen geistiger Art, theologischer Art haben sie ja erst entwickelt, nachdem man sie hinausgedrängt hat. Auf der anderen Seite erlebe ich – in der evangelischen Kirche sicherlich nochmals pointierter und extremer, aber auch bei uns ist es so –, dass die Liturgie zuweilen als ein Experimentierfeld angesehen wird für alle möglichen Geschichten und die Gemeinde vor Ort manchmal darauf angewiesen ist: Wie ist unser Pfarrer heute drauf? Womit überrascht uns der Pfarrer heute?

UM | Wir beide haben ja schon zusammen ein Stück nachbarschaftliche Arbeitskultur entwickelt: Die Studenten vom Priesterseminar haben einige Jahre sehr gern bei euch das Dreikönigs-Singspiel aufgeführt, du warst bei uns mehrfach als Dozent am Priesterseminar zu Gast und wir haben ja auch regelmäßig Beiträge von dir in der Zeitschrift. Das empfinde ich als einen guten Anfang einer ökumenischen Verständigung. Du bist unter anderem auch im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen in Hamburg tätig. Was bedeutet für dich diese Art Zusammenarbeit der vielen Kirchen, die es in Hamburg gibt, aktiv mitzugestalten?

KS | Das bedeutet für mich die Rückbesinnung darauf – und das sage ich nicht nur so obenhin −, dass es nur die eine Kirche gibt, und dass wir viel tun müssen, um vom Gegeneinander zum Nebeneinander bis zum Miteinander zu kommen. Das Miteinander bedeutet für mich nicht, dass man die einzelnen Herkünfte und Identitäten auflöst und verwischt, sondern es bedeutet für mich zuerst, dass wir uns gegenseitig mit Respekt begegnen. Es bedeutet für mich aber auch, dass wir einen anderen Wahrheitsbegriff entwickeln, und zwar Wahrheit in der Weise, dass sie verbal nicht nur auf einen Punkt gebracht in der eigenen Kirche stattfindet, sondern dass Wahrheit sich auch verschieden äußern kann und immer wieder in anderen Kontexten und in anderen Konstellationen aufleuchtet. Und für mich bedeutet Ökumene, wenn man von der sichtbaren Einheit spricht, dass wir uns vielleicht in irgendeiner Osternacht einmal die eucharistische Gastfreundschaft anbieten. Ich meine damit nicht, dass man alles, was gewachsen ist, in einen Topf wirft – dadurch würde man ja vieles kaputt machen −, aber dass man sich respektvoll wahrnimmt und als sichtbares Zeichen der Einheit eucharistische Gastfreundschaft gewährt.

UM | Das war ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch!