Strahlender Ernst

AutorIn: Christward Kröner

 

Das Erdenleben des Menschen entfaltet sich zwischen Geburt und Tod. Beide Ereignisse erweisen sich als zwei einzigartige, unvergleichliche »Augenblicke«, die in der Regel durchzogen sind von einem tiefen Ernst.

Bei der Geburt erleben wir – wenn keine Komplikationen auftreten – einen tiefen, freudigen Ernst, ganz erfüllt von noch ungelebter Zukunft; beim Sterben ist der Ernst viel stärker geprägt von der Seelenhaltung, der Lebenszufriedenheit oder -unzufriedenheit, dem speziellen Gesundheits- oder Leidenszustand des Sterbenden. Aber selbst, wenn es ein ganz friedliches und einvernehmliches Sterben nach einem langen Leben ist – kein Anwesender würde im Umfeld des letzten Atemzuges auf die Idee kommen, Witze zu reißen oder albern zu sein.

Den Ernst, den wir beim Erleben des Geborenwerdens oder des Sterbens eines Menschen empfinden, können wir als ein seelisches Echo auf die Erfahrung einer realen Geistberührung anschauen. Nicht wenige Menschen erleben in diesen Momenten ja auch, dass sie ein Stück weit mit über die Schwelle gerissen werden, dass es für sie nicht einfach ist, das Alltagsbewusstsein aufrechtzuerhalten. Man ist etwas »gelupft«, steht neben sich und muss erst langsam wieder seine Mitte finden.

Geburt und Tod sind Augenblicke, in denen es um »alles« geht. Augenblicke, die entscheidend sind für das Folgende. Diese Qualitäten vom Anfang und Ende unseres Lebens stehen ihrerseits in einer untergründigen Beziehung zu all den Momenten innerhalb des Lebensganzen, in denen es um etwas geht. Wo wir Verantwortung übernehmen. Wo etwas Neues beginnt, nachdem wir uns dafür entschieden haben – oder wo etwas Wesentliches endet, aus unserem eigenen oder einem fremden Willen, etwa eine Berufstätigkeit oder eine Lebensbeziehung; da waltet immer auch Ernst.

 

Bei der Gründung der Christengemeinschaft ging es um ein Geburtsgeschehen höherer Art. Um einen Inkarnationsvorgang im übertragenen Sinn. Es ging um persönliche Entscheidungen von existentieller Art und darum, in Gemeinschaft einer geistigen Notwendigkeit gerecht zu werden, mit allen der Seele zur Verfügung stehenden Kräften – im gleichzeitigen Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit.

Der Impuls zur religiösen Erneuerung wurde nicht in erster Linie als ein persönliches Bedürfnis erlebt, sondern vielmehr als eine sich aus den Weltverhältnissen und den realen seelischen Gegebenheiten des Gegenwartsmenschen ergebende Notwendigkeit.

Schon dieser Ausgangspunkt bringt eine ernste Schwingung mit sich.

Wenn ich mich jenseits meiner eigenen Gefühls- und Bedürfnislage im Erkennen einer »Welten-Notwendigkeit« existentiell mit einer »Sache« verbinde, dann lebt im Fundament dieses Handelns ein tiefer Ernst. Der steht nicht im Widerspruch zur Geburtsfreude und zur Begeisterung, die ebenso – oder gerade deswegen – von den Gründern empfunden wurden.

Im Zentrum der religiösen Erneuerung steht der Kultus. Rudolf Steiner weist die werdende Priesterschaft darauf hin, dass der Kultus nur so aufgenommen werden soll, wie »er einzig und allein gemeint sein kann: mit dem völligen Ernst«.

Der Kultus ist als Stiftung geistiger Wesen das reale Abbild einer geistigen Wirklichkeit. Diese geistige Wirklichkeit wird im Vollzug des Kultus im Irdischen schaffend gegenwärtig. Da waltet nichts von Willkür oder persönlichen Vorlieben. Dennoch braucht es aber den ganz persönlich-menschlichen Einsatz. Denn nur durch das Tun der Menschen – unser Tun – kann sich diese »Inkarnation« – die selbst durch und durch Gnade ist – immer wieder neu ereignen.

Wenn die menschliche Seele zum Spiegel einer höheren Notwendigkeit wird, dann nimmt sie die Wesensartung des Ernstes an. Denn der Ernst ist gewissermaßen das seelische Echo, das durch die Wahrnehmung des objektiv Geistigen hervorgerufen wird.

 

Auch in der Engelwelt begegnen wir dem Ernst. Rudolf Steiner charakterisiert den Zeitgeist Michael in seinen »Leitsätzen« (GA 26) einmal mit folgenden Worten: »Michael ist in allem ernst, denn Ernst als Offenbarung eines Wesens ist der Spiegel des Kosmos aus diesem Wesen; Lächeln ist der Ausdruck dessen, was, von einem Wesen ausgehend, in die Welt hineinstrahlt.«

Im Gebet der Michael-Festeszeit tritt uns eine Beschreibung der Gestalt und Wesensart Michaels entgegen, in der auch das Motiv des Ernstes erscheint. Hier aber sind die soeben einander gegenübergestellten Qualitäten (Ernst als Spiegel des Kosmos – Lächeln als Ausdruck dessen, was in die Welt hineinstrahlt) auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden, wenn es heißt, dass aus Michaels Lichtglanz Ernst »erstrahlet«. Was für ein Wort! Was für eine Charakterisierung!: strahlender Ernst! Ein Ernst, der Licht in die Welt bringt. – Hätten wir davon doch auch ein wenig!

Immer wieder wird uns von Menschen, die neu dem Kultus begegnen, als Beobachtung zurückgespiegelt: Ihr seid alle so ernst. Dieser Ernst wird oft als abweisend, schwer, bedrückend und fern aller Lebensfreude empfunden. Muss das so sein?

Echter Ernst hat nichts zu tun mit Griesgrämigkeit, Verbitterung oder dauerhaft melancholischen Anwandlungen. Er hat zu tun mit Verantwortungsbewusstsein, mit Mut und dem Willen, sich ganz in den Dienst einer (höheren) Notwendigkeit zu stellen. Dennoch muss er nicht dunkel, sondern kann ganz hell sein, eben »strahlend«.

Je tiefer der Ernst zu Zeiten ist, umso größer kann auch die Freude, die Heiterkeit und Ausgelassenheit zu anderen Zeiten sein. Denn alles hat seine Zeit. Wir Menschen sind lebenslänglich atmende Wesen. Niemand kann nur Einatmen, das würde schnell zum Ende des Lebens führen. Ebenso wie permanentes Ausatmen. Das Leben entfaltet sich im Wechselspiel, im Rhythmus. Vielleicht geht es darum, immer wieder den für mich richtigen Rhythmus zwischen den so verschiedenen Lebensäußerungen der Seele zu finden – so dass unser Ernst atmen lernt.