Evidenz erzeugen

AutorIn: Christward Kröner

»Was ist Wahrheit?« – so lautet die buchstäblich weltbewegende Frage des Pilatus an Christus am Karfreitag. Zuvor hatte Christus eine Begründung für seine Inkarnation und eine Beschreibung seines selbstgewählten Auftrags gegeben: »Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme« (Joh 18).

 

Der ganze Themenkreis von Evidenz, Glauben und Erkennen dreht sich um die Wahrheitsfrage. Dieser Frage begegnen wir auf den unterschiedlichsten Ebenen: bei ganz alltäglichen Dingen, wo es darum gehen kann, das Faktische zu erkennen, die Sinneswahrnehmung mit Begriffen zu durchdringen. Oder aber im Zwischenmenschlichen: Kann ich dem, was ein anderer Mensch mir sagt, vertrauen, entspricht das den äußeren oder inneren Tatsachen, meint er das, was er sagt?

Die Wahrheitsfrage begegnet uns bei den Aussagen, die uns als wissenschaftliche Erkenntnisse nahegebracht werden und möglicherweise meilenweit von dem entfernt sind, was wir zu überschauen in der Lage sind (bzw. was für uns »evident« ist). Und schließlich begleitet uns diese Frage durch das ganze Leben, in enger Verknüpfung mit der Frage nach dem Sinn: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wer bin ich? Was ist meine Lebensaufgabe?

Diese beiden letzten Fragen führen unmittelbar zu dem Erlebnis – wir könnten auch sagen: zu der Evidenz –, dass es auf sie keine abschließenden oder gar fertigen Antworten geben kann, weil sich die Antwort im Laufe der Zeit verändern muss, wenn sie mit der Wirklichkeit etwas zu tun haben soll, da wir selbst uns entwickeln und ebenso die Welt, in der wir leben.

Diese Erfahrung kann uns vorsichtig machen hinsichtlich jedweder Fixierung auf einen bestimmten auf »ewig« festgelegten Inhalt unseres Glaubens oder auf ein fixiertes Ergebnis unseres Erkennens.

»Panta rei«, »alles fließt« heißt es bei Hera­klit. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss (will sagen: dasselbe Wasser) steigen. Das erkennende und glaubende Subjekt ist ebenso in Entwicklung wie die Welt oder das Wesen, auf das sich der Glaube oder das Erkenntnisbemühen richtet.

Setzen wir die Selbstaussage Christi, er sei in die Welt gekommen, um für die Wahrheit zu zeugen in Beziehung zu der Aussage im Johannes-Prolog: die Wahrheit ist durch Jesus Christus entstanden – dann kann eine zarte Ahnung davon entstehen, dass wir uns mit unserem Alltagsempfinden eines abgeschlossenen Glaubensinhaltes oder einer fertigen und dauerhaft gültigen Erkenntnis allenfalls im Vorhof dessen befinden, was eigentlich das Berührungsfeld der menschlichen Seele mit der sich durch Glauben und Erkennen erschließenden Welt-, Wesens- und Wahrheitserfahrung werden kann.

 

Vermutlich gibt es verschiedene Evidenz-Schichten. Eine Evidenz des Kopfes, des Denkens. Eine Evidenz des Herzens, des Fühlens und schließlich eine Evidenz, die mich so ergreift, dass sie unmittelbar dazu anregt, tätig zu werden, weil sich erst im und am Tätig-Werden die »volle« Richtigkeit und Fruchtbarkeit (»was fruchtbar ist, allein ist wahr«) des zuvor Gedachten und Gefühlten erweisen kann, so dass sich schließlich eine umfassende Evidenz einstellt, die uns selbst nicht unverwandelt lässt, wo wir nicht »außerhalb« stehen bleiben können.

Was sich hier vielleicht ein wenig abstrakt anhört, möchte ich an einem Beispiel erläutern:

Die drei Könige haben eine Erkenntnis-Evidenz: Sie nehmen den – vermutlich lang erwarteten – Stern bereits im Aufgang wahr (ob es eine innere oder äußere oder beide Seins­bereiche umfassende Wahrnehmung war, kann an dieser Stelle offenbleiben) und können diese Wahrnehmung aufgrund ihrer Weisheit deuten; sie lesen und verstehen die Sternenschrift.

Alsdann: sie fühlen sich angesprochen, gemeint. Sie verbinden die Erkenntnis mit ihrem Herzen, ihrem persönlich-überpersönlichen Fühlen, sie glauben an das Erkannte und machen es für sich verbindlich.

Daraus entsteht nun die Kraft, die jetzt ihren Willen impulsiert: Sie verlassen ihr Königreich und machen sich auf den Weg. Der Weg ist lang und beschwerlich, führt sie in Nöte. Sie verlieren vorübergehend die Orientierung, müssen sich Rat einholen.

Aber schließlich erreichen sie ihr Ziel, und es geschieht das Unglaubliche: Sie begegnen dem Kind, schauen ihm in die Augen, knien nieder und bringen ihre Gaben dar. Erst hier stellt sich die ganze und vollständige Evidenz des zuerst aus der Sternschrift Erkannten ein.

An diesem Beispiel kann deutlich werden: Die erkannte Wahrheit konstituiert sich schließlich durch uns selbst, schließt uns ein, wird von uns mit hervorgebracht.

Was wäre gewesen, wenn die Könige den Stern zwar gesehen und seine Bedeutung erkannt hätten – aber es dabei hätten bewenden lassen? Oder nur »gute Gedanken geschickt« und sich die Mühen des Weges erspart hätten? Wäre das Ereignis in Bethlehem dann dasselbe gewesen? Sie haben ja etwas hinzugetragen, beigetragen – die ganze vorchristliche Mysterien-Entwicklung der Menschheit Ihm zu Füßen gelegt und so sein weltverwandelndes Wirken mit-ermöglicht.

Als sie dem Kind in die Augen schauten – da hat auch dieses Kind ihnen in die Augen geschaut. Was hat das für das Kind und sein Werden bedeutet?

So können wir vielleicht sagen: Evidenz in ihrer Mehrschichtigkeit hat auch immer einen Erfahrungs- und Wandlungscharakter. Wenn sie sich einstellt, macht das etwas mit uns.

 

Und blicken wir noch einmal auf dieses Evangelienwort: »Die Wahrheit ist durch Jesus Christus entstanden.« Wieso entstanden? Die gab es doch immer schon?

Die Wahrheit von dem Menschensohn, der den Gottessohn in sich trägt, die Wahrheit von dem Menschen, der Himmel und Erde wieder miteinander verbindet – diese Wahrheit ist erst entstanden, indem beide einen Opfer-Weg zurückgelegt haben bis hin zu ihrer Begegnung und Wesensdurchdringung. Diese Wahrheit entsteht auch heute immerfort, wenn Er im Sein der Menschen lebendig wird, die Ihm Wohnung geben in ihrem Herzen.

So lässt sich vielleicht abschließend sagen: Evidenz kann überall da und immer dort entstehen, wo Wahrheit nicht nur erkannt oder geglaubt, sondern auch hervorgebracht und gelebt wird. Das kann jeden Augenblick unseres Lebens betreffen – spätestens aber beim Sterben wird es ganz existentiell. Die volle Evidenz des Todes, weit jenseits des zuvor Erkannten und Geglaubten, erfahren wir erst im Durchgehen durch diese Pforte.

 

In dem Wort Evidenz steckt »videre« – sehen. Pilatus konnte nicht sehen, wer da vor ihm stand. Das eigentliche Wesen blieb ihm verborgen. Sonst hätte er die Frage anders gestellt und zugleich selbst beantworten müssen: nicht »was«, sondern: »Wer« ist die Wahrheit? Sie stand in dem Menschen Christus Jesus vor ihm. Er konnte das Ersichtliche nicht sehen. Er konnte nicht erkennen, nicht glauben und war weit von einer Evidenz – die auch ihn verwandelt hätte – entfernt.

Wir teilen vermutlich meistens das Pilatus-Schicksal. Wir können uns aber auf den
Weg machen. Wie die Könige. In jedem Augenblick.