Ein Gedenktag 1922

AutorIn: Ulrich Meier

Stuttgart, 15. Oktober 1922

Im 13. und letzten Vortrag des sogenannten Jugendkurses fasst Rudolf Steiner am 15. Oktober 1922 zusammen, was er seinen jungen Zuhörerinnen und Zuhörern in Bezug auf das Zusammenleben der Generationen und zur Überwindung der damaligen zivilisatorischen Krisen sagen wollte.

 

Heinz Müller, einer der Initiatoren des Kurses und späterer Waldorflehrer an der Hamburger Goetheschule, berichtet in »Spuren auf dem Weg«1 von dessen Vorgeschichte, aber auch von der Stimmung während dieser Vortragsreihe Rudolf Steiners unter anderem: Einmal in einer unserer kleinen Besprechungen, die in seiner und Marie Steiners Gegenwart immer wieder stattfanden, sprach man von Kritik und Wohlwollen. Da sagte er, man solle sich bemühen, an jedem Tage einige Dinge zu finden, die man mit dankbarem Herzen lobpreisend aussprechen könne, und ebenso häufig solle man seine sogar wohlbegründete Kritik zum Schweigen bringen. Gelänge einem dieses täglich siebenmal und bemühten sich darum viele Menschen, so stünde es um vieles besser in der Welt.

Die Not der Zeit wird in dem Vortrag als ein tiefgreifender Verlust der Menschlichkeit und des Menschen als eines seelischen Wesens überhaupt beschrieben. Dem müsse die geistige Erkenntnis entgegengehalten werden, dass im Menschen Materie zerstört und aus dieser Vernichtung neues Leben hervorgehen könne. Wir Menschen seien imstande, ... durch Verbindung mit der geistigen Welt mit unseren moralischen Impulsen Leben zu pflanzen. Und da tritt ein die Umbildung dessen, was in der Erde ist, in das neue Leben, in das Moralische. In der Einleitung hatte der Redner angekündigt, die Essenz des Kurses »halb bildlich« vorzubringen. Ohne es noch besonders zu kennzeichnen, bringt er das Bild des Drachens, der durch St. Georg bzw. durch ­Michael besiegt werden müsse.

Das Konzept einer die Welt zu neuem Leben erweckenden Moralität aus dem Inneren eines jeden Menschen stellt jedoch einen Bruch mit den religiösen Traditionen dar. Die Realität einer derartigen moralischen Weltordnung kann nicht hierarchisch organisiert oder gar befohlen werden, sondern bezieht die Menschen unmittelbar auf das, was kirchlicherseits als »Welt« den Moralgesetzen entgegengestellt worden ist. Über »die alten Religionen« heißt es: ... sie haben sich von dem Drachen besiegen lassen. Sie nehmen einfach den Drachen, der den Menschen ertötet, hin und begründen neben dem Drachen irgendeine besondere, abstrakt-moralische, göttliche Ordnung. (…) der Drache (…) duldet nicht, dass man bloß neben ihm etwas begründet. Denn was der Mensch braucht, ist die Kraft, die er aus der Besiegung des Drachen gewinnen kann.

 

Im Anschluss an den Kurs gründete sich der ­sogenannte Esoterische Jugendkreis, dessen Glieder sich als Meditationsgemeinschaft empfanden und empfinden, die sich in ihrer praktischen Tätigkeit vor Ort durch die Stille der Meditation verbunden fühlen.

 

1  Heinz Müller: Spuren auf dem Weg. Erinnerungen, Stuttgart 1970