Kultus

AutorIn: Wolfgang Gädeke

Dieses Wort kommt aus dem lateinischen »cultus« und bedeutet ursprünglich Pflege, Landbau. Es hat die gleiche Wurzel wie das deutsche Wort »Kultur«, die vom Menschen durch Arbeit geschaffene Wirklichkeit. Im engeren Sinne bedeutet Kultus oder Kult die Pflege einer religiösen Feier, durch die eine Gemeinschaft ihre Verbindung zu geistigen Wesen, zu Göttern pflegt. Diese Pflege geschieht durch Versinnlichung geistiger Vorgänge in Prozessen, Bildern und Handlungen, durch Sprache, Musik, Gesang und Tanz. Ziel solcher Riten ist es, zu geistigen Wesen eine positive Beziehung zu pflegen und diesen Wesen etwas darzubringen, zu opfern, einen Gottesdienst zu leisten. Grundlage und Voraussetzung solcher Handlungen ist die gemeinsame Überzeugung von der Existenz solcher Wesen, der Glaube. Die Formen solcher Gottesdienste stammen ursprünglich immer aus der Vermittlung geistiger Wesen durch besondere Persönlichkeiten, durch Religionsstifter, an eine Menschengruppe, so wie es für die christlich-jüdische Tradition im Alten Testament im zweiten Buch des Moses, Kapitel 25-31, dargestellt ist. Dabei haben alle Formen von Ritualen, von feierlichen religiösen Handlungen, den Charakter von Gleichnissen und Symbolen, aber sie weisen nicht nur auf geistige Wirklichkeiten hin, sondern lassen die beteiligten Menschen an den Kräftewirkungen der hereingerufenen geistigen Wesen auch Anteil nehmen.

Das Besondere des Kultus der Christengemeinschaft ist nun, dass er nicht eine Zusammenstellung alter Kultuselemente durch Liturgiewissenschaftler, sondern durch einen Menschen, Rudolf Steiner, aus der geistigen Welt vermittelt worden ist, so wie einst Moses dem Volk Israel seinen Kultus vom Berge der Offenbarung überbracht hat.1

 

Rudolf Steiner hat aber auch andere Kultusformen charakterisiert und praktiziert, die andere Voraussetzungen und Zielsetzungen haben als ein religiöser Kult. Eine dieser Formen ist der von ihm so genannte »Demonstrationskultus«, der den Sinn hat, bestimmte geistige Erkenntnisse in sinnlichen Bildern darzustellen, weil Sprache allein dazu nicht hinreicht. Ähnlich den symbolischen Handlungen der Freimaurer hat Rudolf Steiner vor dem Ersten Weltkrieg in seiner esoterischen Schule einen solchen Kultus praktiziert. Er hat keine religiösen Voraussetzungen wie den Glauben an die Existenz geistiger Wesen, sondern dient der Vertiefung geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse und Darstellungen.2

Einen ganz anderen Vorgang nannte Rudolf Steiner auch Kultus, und zwar »kosmischen Kultus« oder »geistige Kommunion«. Die Schilderung dieses Kultus findet sich in den Vorträgen Rudolf Steiners vom 29. und 31. Dezember 1922.3 Dieser Kultus verläuft nicht in festgelegten sinnlichen Formen und nicht in Gemeinschaft, sondern kann durch eine Vertiefung geisteswissenschaftlichen Erkenntnisstrebens des individuellen Menschen zu einer »Kommunion«, zur Vereinigung des Menschengeistes mit geistigen Wesen führen. Als ein Beispiel solcher geistigen Kommunion kann das angesehen werden, was Rudolf Steiner als sein Christuserlebnis in seiner Autobiographie beschrieben hat als »... das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier«.4

Davon zu unterscheiden ist der von Rudolf Steiner »umgekehrter Kultus« genannte Vorgang, den er in seinen Vorträgen vom 27. Februar und 3. März 1923 geschildert hat. Für ihn gilt nicht die religiöse Voraussetzung der Existenz geistiger Wesen und er verläuft nicht in festen sinnlichen Formen, Bildern und Worten, sondern kann sich immer dann als innerer Seelenvorgang ereignen, wenn eine Gruppe von Menschen im gemeinsamen Erkenntnisringen ihre Gedanken und Empfindungen zusammenströmen lassen und dadurch geistigen Wesen eine Möglichkeit bieten, in ihrer Gemeinschaft geistig anwesend zu sein.5

Dieser Vorgang des umgekehrten Kultus kann eine Spezialisierung und Erweiterung finden, wenn eine Menschengruppe gleichen Berufes durch rituelle Elemente in ihre Gemeinschaft ein geistiges Wesen hereinrufen will. Zu einem solchen ausgebildeten Kultus – zum Beispiel für Priester, Ärzte oder Lehrer – ist es zu Rudolf Steiners Lebzeiten nicht mehr gekommen.6

Eine letzte Zukunftsperspektive in Bezug auf Kultus hat Rudolf Steiner immer wieder thematisiert, nämlich, dass alle menschliche Arbeit und sogar jede menschliche Begegnung in Zukunft so angesehen und praktiziert werden sollte wie religiöse Sakramente, d.h. dass sie in gleicher innerer Haltung und Gesinnung geschehen sollte wie diese und auf diese Weise ebenso eine Vereinigung sinnlicher Tätigkeit mit geistig-wesenhafter Wirklichkeit ermöglichen kann. Darauf hat er immer wieder hingewiesen unter dem Stichwort: der Labortisch soll zum Altar werden.7

Alle diese Kultusformen sind Arbeit und Feier zugleich.8 Sie dienen nicht nur der Erhebung des Menschen zu den Wesen des Himmels, sondern ermöglichen diesen, auf eine Weise in die Menschenwelt einzuwirken, wie sie ohne Kultus nicht geschehen kann.

 

1  In dem gleichen Sinne hat Rudolf Steiner für die Schüler des sogenannten freichristlichen Religionsunterrichtes in den Waldorfschulen vier kultische Feiern zur Pflege des religiösen Lebens vermittelt. Siehe Rudolf Steiner: Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts, GA 269

2  Siehe Rudolf Steiner: Aus den esoterischen Stunden, GA 266 I–III

3  Siehe Rudolf ­Steiner: Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt – Die geistige Kommunion der Menschheit, GA 219, S. 148 ff. und S. 177 ff.

4  Siehe Rudolf ­Steiner: Mein Lebensgang, GA 28, S. 366

5  Siehe Rudolf Steiner: Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, GA 257, S. 104 ff. und S. 164 ff.

6  Siehe Wolfgang Gädeke: Anthroposophie und die Fortbildung der Religion, Flensburg 1990, S. 147 ff.

7  Ebd. S. 156–160

8  Ebd. S. 119–160