Was uns im Krieg trennt und verbinden könnte

AutorIn: Fragen an Annuschka Geyer, Moskau

Ulrich Meier | Was bedeutet der Krieg für das Lebensgefühl in der Moskauer Gemeinde und in den anderen Gemeinden der Christengemeinschaft in Russland?

Annuschka Geyer | Für uns ist der Krieg wie ein Schlag gekommen. Keiner konnte so etwas erwarten. Man hat viel gehört, aber man glaubte es nicht, denn Russen und Ukrainer sind von unserem russischen Gefühl her mehr als Brüder. Wir Russen denken nie politisch, aber sehr stark seelisch. Politik kommt immer hinterher, was am Herzen liegt, ist für uns das Wichtigste. Noch am 23. Februar, es war ein Feiertag in Russland, hätten wir nicht gedacht, dass Krieg überhaupt sein kann. Am Morgen des 24., so haben mir viele Menschen später erzählt, sind wir von Schmerz oder einem innerlichen Schlag aufgewacht. In den ersten Kriegstagen konnten wir einfach nicht glauben, was geschah. Es war still, man lebte wie automatisch. Viele sagten mir, dass sie fast nicht atmen konnten. Nach einer Woche kam das Lebensgefühl wieder und man hat versucht, das Geschehen zu begreifen.

Und dann ist die Gesellschaft in verschiedene Richtungen gegangen. Einige konnten es nicht aushalten und für sie war es einfacher, die Ukraine zu einem Feind zu machen. Besser gesagt, nicht die Ukraine, sondern den Westen. Ich habe nie ein schlechtes Wort über die Ukrainer gehört, man sagt ab und zu, dass es da einige Nationalisten gibt, aber so wie früher steht das russische Volk fest zu dem Brudervolk der Ukrainer. Aber die Propagandamaschine läuft, und viele Menschen ließen sich überreden. Aber auch diese Menschen, die »voll hinter Putin stehen«, werden traurig, wenn man über den Krieg spricht. Sie sagen dann, dass es eigentlich keinen Krieg geben soll. Andere wollen nicht darüber sprechen, sondern weinen still zu Hause für sich allein.

Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die darüber sprechen und den Krieg nicht unterstützen. Für sie es ist nicht möglich, dass wir die Ukraine angreifen. Es sind wirklich viele Menschen, viel mehr als, denke ich, im Westen gesagt wird. Es ist unterschiedlich von Gemeinde zu Gemeinde. An der Grenze zur Ukraine, in den Gemeinden Voronesh und Rostov, gibt es viel Not: Die Menschen werden krank, auch seelisch. Kinder benehmen sich sehr aggressiv, bekommen Ängste. Im Osten Russlands, vor dem Ural, in der Gemeinde Samara, werden Menschen laut, politisch engagiert, wollen Putin töten und so weiter.

Aber insgesamt kann man sagen: Russland weint. Im Norden, im Süden, im Westen, im Osten. Wir weinen.

 

UM | Hast du ein Beispiel dafür , wie der Krieg die Familienbeziehungen zwischen den in Russland und in der Ukraine lebenden Verwandten betrifft?

AG | Ja, ich habe einige Familien. Ich muss sagen, dass fast alle Russen irgendjemanden in der Ukraine haben und umgekehrt auch. Ich kenne eine Familie, die gesagt hat: Wir können nicht mehr miteinander reden. Während sie das sagen, weinen sie wieder. Ich selbst habe auch Verwandtschaft in der Ukraine. Die Beziehung ist geblieben. Insgesamt sehen die Gespräche so aus: Die Ukrainer rufen uns zu: »Macht doch etwas!«, und wir stehen machtlos da. Das ist sehr schwer auszuhalten. Einige steigen aus und sagen: »Ich mache jetzt einen Monat Pause mit der Beziehung zu den Ukrainern«, in der Hoffnung, dass man bald wieder zueinander finden kann. Wir Russen würden sehr gern hören, was wir hier machen können. Aber keiner, auch kein Ukrainer, kann uns konkreten Rat geben.

 

UM | Welche Rolle spielt das religiöse Leben für die Menschen in der Kriegszeit?

AG | Natürlich, wie in jeder Krisenzeit, suchen Menschen nach Trost. Deswegen kommen sehr viele in die Kirche jetzt, mehr als sonst. Es werden Fragen geweckt: Was haben wir gemacht, dass es jetzt Krieg gibt, warum passiert es mit uns, wer sind wir überhaupt?

Wenn ein ganzes Volk diese Fragen stellt, kann man es in der Luft spüren. Alle sind unsicher, alle suchen Hoffnung in dieser Unsicherheit. Und natürlich ist für die russischen Menschen das Gebet in solchen Momenten sehr wichtig. Es wurden sofort verschiedene Gebetsgruppen gebildet, man hat sich zusammengetan und zum Beispiel das Evangelium durchgelesen – ohne Pause, einen Monat lang. Oder man betet zu einer bestimmten Zeit in verschiedenen Städten gemeinsam. Oder man betet allein zu Hause, viel mehr als sonst, oder man kommt in die Kirche – es gibt also verschiedene Variationen, was man machen kann. Und das tun die Menschen.

 

UM | Was sind deine Bitten an die Menschen, die in Deutschland an die Situation in Russland und in der Ukraine denken wollen?

AG | Wir haben das Gefühl, dass der Eiserne Vorhang wieder aufgestellt wird. Man kann schon das Knirschen hören. Wir kommen jetzt mit einer großen Gruppe von Russen zur LOGOS-Tagung nach Dortmund, und die Stimmung ist so, dass wir kommen, um uns zu verabschieden. Natürlich wäre es schön, wenn wir uns irren. Aber die Stimmung im Moment ist so.

Daraus kommt eine erste Bitte: Bitte vergesst uns nicht – wir sind eine Christengemeinschaft und pflegen das gleiche religiöse Leben – ihr im Westen, wir im Osten. Und auch wenn dazwischen vieles Ungute liegt, werden wir durch unsere Arbeit irgendwann Löcher in dieses Böse reißen, und dieser neue Eiserne Vorhang wird auch wieder weg sein. Lasst uns doch weiter zusammenarbeiten! Denkt an uns. Und so werden wir diese Zeit überstehen können.

Eine zweite Bitte, das ist eine Bitte um Zusammenarbeit auch in der Sache, die uns jetzt trennt, dem Krieg. Das ist unser gemeinsamer Schmerz – Schmerz von christlichen Menschen. Was haben wir falsch gemacht? Wir in Russland, wo der Krieg angefangen wurde, wo wir jetzt Jahrzehnte damit leben müssen und es bearbeiten müssen. Ihr im Westen: Wie konnte es dazu kommen, dass wir so weit auseinander gekommen sind? Warum lief das Gespräch zwischen uns schon so lange nicht mehr gut? Eine ehrliche Zusammenarbeit an diesem Geschehen, das uns jetzt trennt, das würden wir uns wünschen!