Der verwundete Mensch (I) Elemente einer christlichen Menschenkunde

AutorIn: Ulrich Meier

Es kann in hohem Maße verwundern, dass Christen ihr Menschsein im Blick auf den verwundeten und gekreuzigten Christus erfahren und entwickeln wollen. Geht es in der Religion nicht eher um die Verwirklichung ethischer Ideale als um die Konfrontation mit menschlicher Versehrtheit? In der Spannung zwischen der Tatsache der Sterblichkeit und dem Streben nach Unsterblichkeit kann aber das eigentliche Feld christlichen Lebens gefunden werden. Dazu soll mit dieser Artikelserie, unter anderem in Anlehnung an Elemente des Vaterunsers, angeregt werden.

 

»… der Du bist …«

In Erweiterung der biblischen Überlieferung (Mt 6 und Lk 11) haben sich Formen des Vater­unsers herausgebildet, die der Anrufung des himmlischen Vaters eine feierliche Seins­bekundung hinzufügen. So erklingt auch in der Menschenweihehandlung als erste Zeile des ­Ge­bets, das Christus mit seinen Jüngern geteilt hat, die Wendung: Vater unser, der Du bist in den ­Himmeln. Friedrich Rittelmeyer weist in dem 1935 zuerst erschienenen Buch Das Vaterunser. Ein Weg zur Menschwerdung auf den Zusam­menhang zwischen der Gesamtheit aller Ge­schöpfe mit dem Seinsgrund ihres Schöpfers hin. Im Blick auf eine der großen Verkündigungen des Vedantischen Hinduismus »Tat Tvam Asi« (Das bist du) führt er aus:

»Tief empfindet der Inder die Wesensverwandtschaft aller Wesen. In diesem Grundlebensgefühl tritt er unter die Tiere, die Pflanzen, die Sterne. Nicht weniger tief ist die Wesensverwandtschaft, Wesensgemeinschaft empfunden in dem Wort ›Vater unser‹. Da gehören ja alle dazu, die denselben Vater haben, nicht nur die Menschen auf der Erde, sondern auch die Wesen alle unter dem Menschen, denen er gebietet, und die Wesen alle über ihm, die ihm vorangehen. Sie alle tragen das Siegel des Vaters. Auch wenn sie es nicht wissen, beten wir mit ihnen allen zusammen: Vater unser.«

Heute würden wir vielleicht statt vom Gebieten lieber von der Verantwortung sprechen, die wir als Menschen für die Mitgeschöpfe übernehmen sollten. Aber im Gebet eine umfassende Gemeinschaft und Verwandtschaft aller Wesen ihrem göttlichen Vater gegenüber zu empfinden, kann auch aktuell als religiöse Grunderfahrung des Menschseins gelten. Dazu kann die Anschauung treten, dass das Weltempfinden und die Selbst­erfahrung im eigenen Inneren als zwei Wege zu der einen Geistigkeit aufgefasst werden können. Rudolf Steiner sagt es in Bezug auf das »Das bist du«, das »Tat Tvam Asi«, auf diese Weise: »Schaue ich hinaus in die Welt des ›Tat‹, so finde ich eine geistige Welt; tauche ich unter in mein eigenes Seelenerlebnis, so finde ich eine geistige Welt; und die beiden sind eins.«


Gottes Sein und menschliches Nicht-Sein

Der Frage nach dem Sein, der Existenz Gottes und der des Menschen, wurde zu unterschied­lichen Zeiten mit verschiedenen Empfindungen gegenübergetreten. Galt es in älteren Zeiten als Teil des unhinterfragbaren Glaubens an die ­göttliche Offenbarung, das ewige Sein Gottes als absolut und die abgeleitete Existenz des ­Menschen als relativ, mithin als unsicher und fragil zu erleben, so scheint es heute fast u­mgekehrt zu sein: Die Existenz des Menschen wird als einigermaßen sicher erlebt, die Wirklichkeit Gottes jedoch bleibt weitgehend im Ungewissen.
Für meinen Geschmack hat es keinen Sinn mehr, das eine gegen das andere Empfinden aufrechnen zu wollen. Die Ungläubigen sollten daher nicht mehr als Feinde der Religion gebrandmarkt und ausgeschlossen werden, sondern gerade in ihrer fragenden Haltung als Verbündete gelten. Anders gesagt: Das Bejahen des Ungewissen kann als produktiver Anfang eines Weges erkannt werden, der aus dem Nichtwissen in das Für-möglich-Halten des Glaubens führen kann. Nicht mehr die alte Bestimmung über verordnete Glaubensinhalte, sondern die konsequente Auseinandersetzung mit dem, was noch nicht erkennbar geworden ist, macht die religiöse Suche Gläubiger aus.
Zurück zur Seinsfrage: Vielleicht liegt gerade in der Verborgenheit Gottes eine tiefe Beziehung zum menschlichen Unvermögen, Anfang und Ende des Seins – auch des eigenen Seins – zu verstehen. Dass wir die ewigen Gesetze und Wesen nicht – oder nur in besonderen Augenblicken – vor Augen haben, muss gerade nicht bedeuten, dass es sie nicht gibt. Es ist möglich, aktiv mit den Anteilen der Welt und unserer selbst zu leben, die noch in der Verborgenheit des Ungewissen sind. Mit ihnen können wir auf die Stunde warten, in der sie aus diesem Schatten heraustreten, um sichtbar, hörbar, berührbar zu werden. Darin kann unsere Nicht-Erkenntnis wach und zu ei­nem Werkzeug innerer Entwicklung werden. Das Nicht-Wissen kann dabei zu einem Schlüssel für ein Verständnis dessen werden, dass die alte Anschauung doch nicht verkehrt sein muss: Dass wir als Menschen zu einem Teil im Nicht-Sein leben, solange wir vom Sein Gottes entfremdet sind.


Erste Wunde: Getrenntsein von Gott

Hier liegt der erste Bruch in der Beziehung zwischen Mensch und Gott, der weder als Unfall noch als menschliches Verschulden gelten muss: Wir finden uns im Laufe unseres Lebens früher oder später als mit unserem irdisches Bewusstsein aus dem Zusammenhang mit dem all-einen Gott herausgefallen. Was in alter theologischer Sprache als »Sündenfall« oder »Erbsünde« bezeichnet wird und in den Bildern des Paradies-Mythos als Freisetzung aus der Gegenwart ­Gottes im Garten Eden seinen Anfang nimmt, kann für unser Bewusstsein vom Geist auf folgende Weise beschrieben werden: Das verlorene Bewusstsein der Zusammengehörigkeit mit dem geistig-göttlichen Anteil der Welt, ihrer Wesen und dem geistigen Anteil unserer selbst führt uns in die Einseitigkeit einer nur auf das Materiell-Sinnliche gerichteten Erkenntnismöglichkeit. Vor diesem Hintergrund kann das Wort von der Krankheit einleuchten, das in der Christengemeinschaft für dieses Getrenntsein, die Sünde oder Sonderung, verwendet wird: Sündenkrankheit.
Religion kann von diesem Gesichtspunkt her Aussicht auf Heilung der Sündenkrankheit bedeuten. Wie kann Gesundung hier konkret beginnen? Für das Erkennen kann sie so beschrieben werden: Unser Nicht-Wissen kann uns als verborgener Anteil der möglichen Gotteserkenntnis aufgehen. Diese kann uns dort zuteil werden, wo wir uns dafür öffnen, dass Gott aus seiner Verborgenheit hervortritt. Ist die unüberschaubare Vielheit aller Wesen eine verborgene Gemeinschaft in der Einheit mit dem Daseinsgrund des Schöpfers, könnten wir den ersten Schritt ins Unverborgene wagen, indem wir die uns umgebenden Wesen als unsere Mitgeschöpfe anerkennen. Christliche Religiosität wäre dann nicht mehr eine ängstliche Suche nach dem Verlorenen, sondern mit jedem Schritt dieser Art Anerkenntnis zugleich eine aktive Teilhabe unseres schöpferischen Selbst am Ganzen des Schöpferischen.


Den Seienden bekennen

Üben wir uns im Gebet, das »… der Du bist …«
aus der Verbundenheit mit allen Geschöpfen
dem verborgenen Gott entgegenzurufen, beginnen wir damit, unser eigenes, noch getrenntes Sein auf sein Sein hin auszudehnen. Für mich war am biographischen Beginn meines selbst ­organisierten Gebetslebens dieser Sprung zunächst die größte Hürde: Viel lieber hätte ich aus der Gewissheit eines göttlichen Gegenübers gesprochen, als diesen Schritt im Blindflug aus dem Irdischen zum »Vater im Himmel« zu versuchen. Was mich die Hürde schließlich nehmen ließ, waren Erfahrungen auf anderen ­Lebensgebieten: Ich war z. B. als Geigenschüler darauf an­gewiesen, ohne eine Aussicht auf das Zusammenkommen mit dem ersehnten Melodiebogen die irdische Seite des musika­lischen Handwerks zu üben. Es waren erste Augenblicke, in denen meinem unvollkommenen Können vonseiten der ­Musik Erfüllendes entgegenkam. Sie ließen mich darauf vertrauen, dass auch meinen Versuchen, den irdisch für mich noch nicht fassbaren Gott im Gebet anzurufen, eine höhere Wirklichkeit begegnen könnte. Auch dieses Vertrauen, so lernte ich später, kann Glaube genannt werden.
Nach zwei Richtungen kann sich religiöse Sehnsucht ­ausstrecken: Einmal als »Rückkehr« zur Wiederverbindung unseres partiellen und zeitlichen Nichtseins mit dem ewigen und einigen Sein des Vatergottes. In dieser Richtung erwarten wir Heilung und Rettung von Gott her: Möge er uns mit seinem Sein begaben, sodass unser Sein ergänzt und erfüllt wird. Es ist der empfängliche Teil des religiösen Menschseins, der dankbar aufnimmt, was ihm aus göttlicher Gnade geschenkt wird. Diese Seite lebt in dem an jedem Anfang der sieben Schritte in der Menschenweihehandlung gesprochenen Gebetswort: »Der Vatergott sei in uns«. In der trinita­rischen Epistel wird eine nächste Schicht dieser Seinsverbindung hörbar, wenn gesagt wird: »Unser Sein ist sein Sein«. Das Sein des Menschen beruht auf dem Sein des Vaters, das unser Sein ausfüllt und trägt. Kommen wir nun zur anderen Richtung religiösen Empfindens und Handelns. »Unser Sein ist sein Sein« kann auch das menschliche Bekenntnis und Versprechen bedeuten, das eigene Sein aktiv mit dem Sein des Vaters zu verbinden. Darin liegt das Bestreben zu eigenem und eigenständigem Handeln als religiöse Praxis. Ihm liegt die Empfindung zugrunde, dass wir nicht nur »Konsumenten« göttlicher Gaben sein sollten, sondern uns in gehöriger Bescheidenheit aufgerufen fühlen dürfen, die Göttlichkeit der Welt mit hervorzubringen oder sie doch wenigstens auszuteilen. Es ist die Frage: Muss das göttliche Sein als absolut und abgeschlossen aufgefasst werden oder kann durch menschliche Schritte aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit bzw. aus dem Getrenntsein in die Wiederverbindung etwas für das göttliche Sein geschehen, das ohne die Initiative der Menschen fehlen würde? In der Priesterweihe wird den ­Kandidaten beim Einzeichnen des Kreuzes gesagt: »Du den Vatergott tätig Erdenkender«. Welch ein Glaubensziel für alle Christen: Dass wir auch in der Gotteserkenntnis als ­Erkennende das Erkannte hervorbringen.