Was kann die Musik zum Kultus beitragen? (I)

AutorIn: Knut Rennert

Es lassen sich zwei wesentliche Aspekte in Bezug auf die Musik im Kultus unterscheiden. Da ist zum einen ihr besonderes Verhältnis zur Stille, zum Unhörbaren. Zum anderen steht sie als Ich-Kunst in der Mitte der sieben Künste und bildet die Nahtstelle, den Übergang von den im äußeren Raum wirkenden Künsten zu ­denen, die sich in der inneren Raum-Zeit ent­falten. Welche Möglichkeiten und Gefahren sich dadurch ergeben, wird zu betrachten sein. Doch zuvor möchte ich anschauen, in welcher besonderen geschichtlichen Situation sich das Musikalische befindet, und was das Wesen des Musikalischen und der hörbaren Musik ist.


Zur geschichtlichen Situation des Musikalischen

Dazu müssen wir kurz sehr weit zurückgehen. Rudolf Steiner beschreibt für die Ur-Anfänge des Musikalischen, wie Sprache und Musik noch eins waren und dass der Logos des Johannes-Evangeliums als die noch ungetrennte magische Einheit von Sprache und Musik anzusehen ist.1 Dies findet bis heute seinen Niederschlag in den Überlieferungen vieler Völker und den Gedanken bedeutender Denker. Das Nada Brahma (die Welt ist Klang) der alten Inder, der Timaios-­Dialog Platons, die Idee der Sphärenmusik in Antike und Mittelalter und sogar manche Deutungen der Atomphysik2 usw. zeugen davon.
In den Ritualen vieler ursprünglich lebender Völker klingt diese Ur-Einheit noch nach und zeigt sich sogar verbunden mit Tanz und Gemeinschaftsbildung, so dass man vielleicht ­sogar von einer ursprünglichen Einheit der vier oberen Künste sprechen kann. Im Laufe der Ge­schichte sondern sich dann zunächst die drei unteren bildenden Künste, gefolgt von Musik, Sprachkunst und Tanz, während die siebte Kunst bis heute recht ungreifbar bleibt und sich erst heute langsam aus den anderen Künsten löst. Diese Aufsplitterung geht bis heute noch weiter bis hin zur Idee der »absoluten Musik«,3 die sich von den vielfältigen Anwendungen des Musikalischen abgrenzt. So ist auch die Trennung von geist­licher und weltlicher Musik erst eine Setzung der Neuzeit, die einen wesent­lichen Punkt der musikalischen Entwicklung markiert: das Ankommen der Musik auf der Erde.

Dieses Ankommen im Hörbaren ist durch drei Kernpunkte markiert. Der eine ist die Suche der abendländischen Menschheit, die irdisch hörbare Musik zu einem möglichst vollkommenen Abbild der Sphärenmusik zu gestalten. Dies beginnt mit der ersten Mehrstimmigkeit im späten Mittelalter, setzt sich in der Entwicklung des Kontrapunktes bis in den Barock fort und findet seinen Höhepunkt in der klassischen Sonatenform bzw. Sinfonie, die sich durch eine weitest mögliche Übereinstimmung von äußerem Klang und musikalischer Geistigkeit auszeichnet. Getragen wird dies durch Terz und Dreiklang, die die persönliche Empfindung wecken und in der Seele des Musik Erlebenden eine Heimstatt für dieses musikalische Bild des Menschen schaffen (s. Chr. Peter »Die Zauberflöte«). Damit ist aber zugleich ein Tiefpunkt erreicht, denn tiefer in das Irdische, das Hörbare kann die Musik nicht hinein, ohne ihr geistiges Wesen zu verlieren. Die weitere Entwicklung geht dann immer weiter in das Äußere, zeigt aber immer wieder Versuche, einen neuen Durchbruch in das Geistige zu vollziehen.
Dies begleitet die Entwicklung der Instrumente in einem Drei-Schritt (zweiter Kernpunkt). Zunächst wird im Übergang zur Neuzeit versucht, die alte geistige Auffassung des Musikalischen (Sphärenmusik) in das Hörbare hinein zu nehmen, indem man die Orgel als irdisches Abbild der himmlischen Engelschöre, der Kirche und des himmlischen Jerusalem ausbaut und empfindet. Damit betritt der Mensch den ersten ­Bereich der Ich-Entwicklung, die Empfindungsseele. Dann werden, durch die Erfindung der Geige impulsiert, alle bis dahin bekannten Instrumente, soweit sie das zulassen, so umgeformt, dass sie in dem klassischen Orchester den dreigliedrigen Menschen (Blasinstrumente – Melos – Denken – Kopf; Saiteninstrumente – Harmonie – Fühlen – Rumpf; Schlagwerk – Rhythmus – Wollen – Stoffwechsel und Gliedmaßen) voll auf die Erde stellen. Damit wird die Mitte der Ich-Entwicklung (Verstandes- und Gemütsseele) erreicht, die dann im 19. Jh. zur Ich-Geburt führt. Der Impuls der neuen Instrumente, dessen Ursprung interessanterweise mit dem Brand des ersten Goetheanums zusammenhängt,4 sucht nach Klängen, die wieder durchlässig für das Un­hörbare werden. Dieser, mit der Bewusstseinsseele verknüpfte Impuls, befindet sich noch ganz am Anfang. Die Leier ist der bisher am weitesten entwickelte Vertreter.


Der dritte Kernpunkt liegt wieder auf einer ganz anderen Schicht: Der Gang durch die abendländischen Musik-Epochen Barock, Klassik und Romantik zeigt sich dem einfühlenden Blick als Durchgang des Musikalischen durch die drei bildenden Künste Architektur, Plastik und Malerei. Seither, etwa seit dem Jahr 1911, ist die Musik dabei, sich selbst zu finden, sich als Kunst des Ich neu zu begründen. Dieser ­Prozess hat erst begonnen und ist für die erste Begegnung und den oberflächlichen Blick durch eine oft als überwältigend und irritierend er­lebte, kaum überschaubare Vielheit von Stilen und Ansätzen geprägt. Diese werden von den verschiedenen Hörer- und Musiker-Individualitäten äußerst unterschiedlich empfunden, so dass es nicht erstaunen muss, wenn u. U. ein und dieselbe Erscheinung gleichzeitig als einzig möglicher Fortschritt, als erschreckender oder wunderbarer Irrtum und sogar als äußerst abstoßend oder verführerisch erlebt wird.


Heutige musikalische Erscheinungen und Impulse

Wir sind mit den Fragen zur Kultus-Musik am Nerv der musikalischen Fragen der Gegenwart. Und zwar nicht in Bezug auf irgendeine Musik und schon gar nicht auf die Kirchenmusik, sondern auf die Musik überhaupt. Und das sogar mit der Konsequenz, dass sich jetzt entscheidet, wie es überhaupt mit der Musik weitergeht:
Ob sie ganz zu einer gefälligen Berieselung bzw. ­einer Untermalung oder einem Beiwerk des Lebens bzw. einer persönlichen Erbauung verkommt, oder in Zukunft noch irgendeine Bedeutung als Kunst haben wird, die anknüpfen kann an ihren Logos-Ursprung. So stellen sich heute als existenzielle Fragen: Was ist das Musikalische? Wie findet Musik zu sich selbst, und gibt es in der Musik unserer Zeit Hinweise, dass sie tatsächlich auf dem Weg dazu ist? Wie kann die babylonische Verwirrung der Gemüter überwunden werden? Möglich, dass diese Fragen letztlich in eine zusammenfallen, denn es geht ja um nichts anderes als den michaelischen Kampf um die Rettung und Entwicklung des Menschen-Ich.5
Wenn wir sagen, das Wesen des Musikalischen liege im Unhörbaren, so ist das noch recht gut nachvollziehbar, denn wir können auf das innere, kreative Hören der Töne, Klänge und Mu­sikstücke verweisen, welches jeder Mensch mehr oder weniger unbewusst tut, was aber nur selten beobachtet wird. Rudolf Steiners Fort­führung der oben angeführten Aussage legt allerdings nahe, dass auch dieses innere Hören nicht gemeint ist. Er beschreibt, wie das Musikalische in den Bewegungen und Tätigkeiten zwischen den Tönen (ich möchte ergänzen: auch zwischen Dingen und Wesen) liegt und somit auch dem geistigen Ohr verborgen bleibt. Es ist damit nur erfahrbar, indem man selbst in diesem Dazwischen lebt und tätig wird, was reine Ich-Tätigkeit ist. Damit wäre alles, was wir sonst noch dem Musikalischen zuschreiben, sekundär und nicht zentral mit seinem Wesen verbunden. Es erscheint als etwas, was der geistigen Entwicklung der Menschheit folgt und Gelegenheit gibt, dass Menschen diese nicht durch Sinne wahrnehmbare Tätigkeit des Ich vollziehen bzw. erlernen. Die hörbare Musik ist insofern »nur« eine äußere Sprache, um Mitmenschen und der ganzen Welt von dieser unbeschreiblichen Tätig­keit zu erzählen bzw. sie in diese einzubeziehen.

Während alle bisherige Musik, sofern sie nicht mehr zu einem unmittelbaren Hören der Sphärenmusik befähigte (wie noch in ältesten Zeiten möglich), immer geistige, soweit noch greifbar, oder zuletzt immer irdischer werdende Verhältnisse »abbildete«, veräußerlichte sich das Hören. In der Musik unserer Zeit finden sich Hinweise darauf, wie ein neuer Weg zum Geist gefunden und eine Brücke zwischen der Ich-Tätigkeit und der Welt als musikalische Kunst gebildet werden kann. Dies findet sich aber nicht, wenn man nur auf einzelne, vielleicht sogar wunderbare Ansätze schaut, sondern nur in der Überschau über das Wirrsal der heutigen musikalischen ­Er­scheinungen und Impulse. Versuchen wir in ­dieser Überschau zunächst alles zu beseitigen, was es in mehr oder weniger ähnlicher Form vor ­Beginn des 20. Jahrhunderts schon gegeben hat, so fallen vier extreme Tendenzen ins Auge, die kein altes Äquivalent finden und die nicht nur in der Musik, sondern in aller Kunst unserer Zeit an die Oberfläche treten:

∙ Der Gang in die Stille, wo oft nur wenige Töne oft auch in großen Abständen erscheinen, so dass aller äußerer Klangreiz zurücktritt und Raum entsteht, sich den einzelnen ­Tönen und Klängen liebevoll und meditativ zu­zu­wen­­den. Ansätze dazu finden sich bei Joseph ­Matthias Hauer, deutlicher wird es bei John Cage und Morton Feldman, und auch manches aus der New-Age-Bewegung geht in diese Richtung.

∙ Der Gang in den Lärm, wo es durchaus darum geht, extreme und ohrenbetäubende Klän­ge und Geräusche zu erzeugen, die das »Macht kaputt, was euch kaputt macht«6 des Punk auf die Spitze treiben. Begonnen haben damit Lou Reed, zwei deutsche Bands, »Can« und die »Einstürzenden Neubauten«, und im Jazz ­Peter Brötzmann, doch setzt sich dieser Impuls in der heutigen Noise-Szene weiter fort.

∙ Die Sehnsucht nach musikalischen Strukturen führt schließlich zu einer extremen Organisation der musikalischen Form. Die ersten Ansätze dazu finden sich in der 12-Tontechnik von Arnold Schönberg und Anton Webern, welche dann in der seriellen Musik (Messiaen) und seriellen Elektronik (Stockhausen und andere) auf die Spitze getrieben werden und bis heute nachwirken.

∙ Schließlich findet sich das Bedürfnis nach ­»Power«, einer Kraft in der Musik, die nicht nur die Beine und Arme bewegt und zu ­»schönen« Tanzbewegungen führt, sondern den ganzen Menschen und möglichst die ganze Mensch­heit und vor allem die sozialen Verhältnisse in Be­wegung bringt. Dieser Impuls zeigt sich am reinsten in der Rock-Musik (nicht Pop und Main­stream!) der 70er Jahre und klingt deutlich abgeschwächt bis heute nach.

Wem es gelingt, diese vier Extreme als wesentlich anzusehen, fällt schnell eine Art Gesetzmäßigkeit ins Auge: Jede Musik der vergangenen 100 Jahre zeigt sich mehr oder weniger deutlich von einem oder zwei dieser Extreme ­angezogen, doch die meisten Musiker versuchen dabei, meh­rere zu vermitteln, um anhörbar und begreif­lich zu werden. Leider zeigt sich, dass solche Vermittlung, wie sie ja noch für die Klassik ­typisch ist, heute nicht mehr fruchten kann, weil sie, wie oben schon von anderer Seite her angedeutet, immer in die Nähe eines »Mainstream« führt, der auch die edelsten Anliegen banalisiert und letztlich zu massentauglichem Pop verkommen lässt.     

          

1 Siehe dazu: Aus der Akasha-Chronik, GA 11, Kapitel »Die lemurische Rasse«

2 Auch der angenommene Aufbau des Atoms kann mit Einschränkungen im Sinne der Zahlenverhältnisse des Pythagoras gedeutet werben. Gerne wird auch das Atom mit dem Sonnensystem verglichen, was einen Bezug zur Sphärenmusik nahelegt.

3 Richard Wagner, Eduard Hanslick, s. Wikipedia

4 Es gibt die Sage, dass Edmund Pracht und Lothar Gärtner bei Wachgängen an der Ruine des ­Goetheanums die Idee der modernen Leier entwickelt haben.

5 Die Bedrohung des Ich durch Medien, Digitalisierung und künstliche Intelligenz und die damit verbundene Entsinnlichung der Welt liegt auf der Hand.

6 Rio Reiser mit »Ton-Steine-Scherben«

Der zweite Teil des Beitrags folgt im Februarheft.