»Mir stand ein fünftes Evangelium vor den Augen« | Ernest Renan und sein Buch »Das Leben Jesu«

AutorIn: Jörg Ewertowski

Er teilte das Schicksal vieler bretonischer Kinder. Der Vater war auf dem Meer verschollen, und so waren Mutter und Schwester seine wichtigsten Bezugspersonen. In Paris­ studierte er katholische Theologie, um Priester zu werden. Dabei kamen ihm jedoch bald Zweifel an der historischen Wahrheit der Bibel. Statt Priester wurde er Orientalist und hielt erste Vorlesungen. Es geht um Ernest Renan, der am 28. Februar dieses Jahres vor genau 200 Jahren in Treguier, einem malerischen Ort der nördlichen Bretagne umrahmt von den Flüssen Jaudy und Guindy und nicht weit vom Meer geboren wurde.
Wenn nicht Hortense Cornu, eine Freundin von Kaiser Napoleon III., Renan die Leitung ­einer Syrienexpedition vermittelt hätte, wäre sein Leben anders verlaufen – im Guten wie im Schlechten. So konnte er durch die Vermittlung dieser Frau 1860/61 im Alter von 36 Jahren die biblischen Landschaften Judäa und Galiläa bereisen. Es war dann das unerwartete und intensive Landschaftserlebnis, aus dem heraus direkt auf der Reise in täglicher Niederschrift jenes Buch entstand, das ihn berühmt machen sollte: Das Leben Jesu. Zu dessen Entstehung gehörten die intensiven Gesprächen mit seiner Schwester Henriette, die ihn begleiten konnte. Henriette hatte ihm schon in der Jugend wichtigen mora­lischen und finanziellen Beistand geleistet, als er den Priesterberuf aufgab; sie hatte ihm auch bis zu seiner Eheschließung jahrelang den Haushalt geführt. Nun besprachen die Geschwister mit­einander jede Seite des entstehenden Buches. Renan widmet es dann später »Der reinen Seele meiner Schwester Henriette«, die er dabei in der Widmung direkt anspricht: »Eines Tages sagtest Du mir, dass Du dieses Buch liebst, besonders weil es mit Dir zusammen gemacht wurde, aber auch, weil es nach Deinem Herzen war.«1 Dann erinnert er sie an die abendlichen Gespräche über das Leben Jesu unter den Sternen und fährt fort: »Mitten unter diesen sinnenden Betrachtungen berührte uns beide der Tod mit seinem Flügel; der Schlaf des Fiebers überfiel uns zu derselben Stunde; ich wachte allein auf! … Nun ruhst Du in dem Lande des Adonis, neben der heiligen Byblos und den geweihten Quellen, in welche die Frauen der antiken Mysterien ihre Tränen mischten. Enthülle mir, o Du, mein ­gu­ter Genius, mir, den Du liebtest, jene Wahrheiten, welche den Tod überwinden, die Furcht vor ihm verscheuchen und ihn fast ersehnen lassen!«2

»Aber alles hier auf Erden ist nur Symbol und Bild. Der wahrhaft ewige Teil eines ­jeden liegt in der Beziehung, die er zum Unendlichen hatte. In der Erinnerung Gottes ist der Mensch unsterblich. Da lebt unsere Henriette, ewig strahlend, ewig makellos, tausendmal realer als zu der Zeit, als sie ­darum kämpfte, aus ihren schwachen Organen ihre spirituelle Person zu erschaffen und als sie in einer Welt verloren war, die nicht verstand, wie beharrlich sie nach Vollkommenheit strebte. Möge die Erinnerung Gottes uns ein wertvoller Beleg dieser ewigen Wahrheiten sein, die jedes tugendhafte Leben aufweist. Ich persönlich habe nie an der Realität der moralischen Ordnung gezweifelt; aber jetzt ist es für mich offensichtlich, dass die Vernunft des ganzen Universums auf den Kopf gestellt würde, wenn solche Leben nur Täuschung und Illusion wären.

Ernest Renan: Henriette Renan. Souvenir pour ceux qui l'ont connu, Paris 1922 (1. Aufl. 1862), S. 97f.,  Übersetzung JE


Das Leben Jesu, 1863 veröffentlicht, erfuhr in den ers­ten drei Monaten nach seinem Erscheinen acht Auflagen. Innerhalb von fünf Monaten sol­len 60.000 Exemplare verkauft worden sein. Zwar kostete ihn die Veröffentlichung seine gerade erst angetretene Professorenstelle, aber er konnte es sich – rückblickend gesehen – leisten, auf die ihm angebotene Abfindung souverän zu verzichten. 1947 gab es zwölf Ausgaben sowie 84 Übersetzungen in zwölf Sprachen, davon 60 allein auf Deutsch. Renan hatte zunächst mit der Veröffentlichung gezögert, da ihm klar war, dass er Anstoß erregen würde. Es ist ein sehr menschlicher Jesus, den er uns zeigt, und zudem noch verändert und entwickelt sich dieser in den drei Jahren vom Jordan bis zum Kreuz. Anfangs war er unsicher und schwankend, dann aber auch entschlossen. Dieser Jesus trägt keinerlei übernatürliche Züge. Er hat sich den Bedürf­nissen seiner Jünger immer wieder angepasst. Aber Renan hat ihm so viel Größe verliehen, dass sich Friedrich Nietzsche später darüber maßlos empörte.
Nietzsche interessierte sich für keinen irgendwie gearteten historischen Jesus, sondern ausschließlich für das, was er den »Typus des Erlösers« nannte. Renans Tendenz, aus Jesus einen menschlichen »Helden« und genialen Menschen zu machen, fand er mit diesem »Typus« unvereinbar. Jesus sei schon in den Evangelien ganz anders, nämlich pathologisch dargestellt. ­Gegen Renans Rede vom »Genie« hält Nietzsche: »Mit der Strenge des Physiologen wäre hier ein ganz anderes Wort am Platz: das Wort ›Idiot‹«. Vermutlich dachte er an den Fürsten Myschkin, den unter Epilepsie leidenden Helden in Dosto­jewskijs Roman Der Idiot, der als literarische ­Jesus-Gestalt aufgefasst werden kann. Denn auch die Evangelisten hätten nach Nietzsche den Typus des Erlösers nicht gut getroffen. Es wäre ein ­Autor wie Dostojewskij erforderlich gewesen, um »den ergreifenden Reiz einer solchen ­Mischung von Sublimem, Krankem und Kindlichem zu empfinden«, die eigentlich darzustellen gewesen wäre.3

Tatsächlich, Renans Jesus ist ganz anders und durchaus kitschverdächtig. – Warum hat Rudolf Steiner nun ausgerechnet an Renan seine zentralen Überlegungen im 1902 erschienenen Christentum als mystische Tatsache angeknüpft – und nicht etwa an David Friedrich Strauß’ Das ­Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835) oder an die Geschichte Jesu des evangelischen Theologen Karl Hase (1876)?


Von der Leben-Jesu-Forschung zur Landschaftsoffenbarung

Mit den von Lessing 1778 herausgegebenen Frag­menten des Hermann Samuel Reimarus ­begann ein historischer Umgang mit den Evan­ge­lien. Dass Jesus nur Mensch war und nicht »wahrer Mensch und wahrer Gott«, wurde­ inzwischen vorausgesetzt. Alle Wundererzäh­lun­gen galten als Legenden und wurden durch ­natürliche Erklärungen ersetzt. Was dann von Jesus übrigblieb, war abstrakt – ohne Fleisch und Blut. Die eigenartige Spannung des Johannesevangeliums zwischen religiöser Lehre und sehr konkreten geschichtlichen Erzählungen, die die eines Augenzeugen zu sein scheinen, wurde g­e­waltsam dadurch gelöst, dass die geschicht­lichen Er­zählungen als bloß fik­tive ­allegorische Träger der jo­hanneischen Lehre aufgefasst ­wurden. Gesche­­h­nisse wie die Hochzeit zu Kana, das Nikode­mus­gespräch, die Brunnen­begegnung mit der ­Samariterin, die Heilung des Blind­ge­bo­re­nen, die Auferweckung des Laza­rus wurden so als unhistorisch zur Seite gelegt. Aber auch die unter den Synoptikern verblei­benden Wider­sprüche machten jede echte historische Rekonstruktion des Lebens Jesu so schwer, dass schließlich keine konkrete menschliche Gestalt übrigblieb.
Renan hatte all das studiert. Aber nun wurde das Erlebnis der biblischen Landschaft – be­sonders der Gegensatz zwischen der Wüste und dem Gebirge Judäas und der fruchtbaren Welt Galilä­as – für den Bretonen zur Erfahrung eines ganz realen Jesus. Die sich abzeichnende in sich zusammenhängende Geschichte seines Lebens wurde ihm zur Offenbarung eines »fünften Evan­ge­liums«.

 

»Ich habe diese evangelische Provinz in jeder Richtung durchstreift, habe Jerusalem, den ­Hebron, Samaria besucht; fast keine für die Geschichte Jesu wichtige Lokalität ist mir entgangen. So nahm diese ganze Geschichte, welche im Gewölke einer Welt ohne Realität zu schwanken schien, für mich einen Kör­per, eine Bestimmtheit an, die mich in Erstaunen setzte. Die schlagende Übereinstimmung der Orte mit den Texten, die wunderbare Harmonie des evangelischen Ideals mit der Landschaft, welche ihm zum Rahmen diente, wirkte auf mich wie eine Offenbarung. Mir stand ein fünftes Evangelium vor den Augen, zerstört, aber noch lesbar und nun sah ich durch die Erzählungen des Matthäus hindurch, anstatt eines abstrakten Wesens, das niemals existiert zu haben scheint, eine wunderbare menschliche Gestalt leben und sich bewegen.

Ernest Renan: Das Leben Jesu, a.a.O., S. 45


Renan sah den Autor des Johannes­evan­geliums als Zeitgenossen Jesu. Weil dieser sein Werk aber erst im Alter verfasste, verwob er nun seine inzwischen entwickelte religiöse Lehre mit der konkreten Erinnerung an Mit­erlebtes. Auch wo Johannes gar nicht dabei gewesen sein konnte, wie beispielsweise bei der Begegnung Jesu mit der Samariterin, erkennt Renan durchaus eine zugrundeliegende histo­rische Realität an. So würden die meisten Umstände der Darstellung der Brunnenszene »das auffallendste ­Ge­­präge der Wahrheit« tragen. Da­bei geht Renan dann an einem entscheidenden Punkt über den nur historischen und mensch­lichen Jesus und damit über die Grundvoraussetzung der Leben-Jesu-Forschung hinaus. In einem bestimmten Augenblick dieses Gesprächs sei Jesus nämlich »in Wahrheit der Sohn Gottes« gewesen. Das war der Augenblick, in dem Jesus auf die Frage der Samariterin nach dem rich­tigen Ort der Anbetung sagt, dass »die ­wahr­haftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine An­beter« (Joh 4,23).
Als Mensch habe sich Jesus dann aber, so fährt Renan fort, nicht auf dieser Höhe halten können.4 Und so wird er sich später in Betha­nien bei der Erweckung des Lazarus ganz menschlich verhalten, nämlich als einer, der dem Wunsch seiner Jünger zur Inszenierung ­eines Wunders nachgibt. Dass er aber – anders als der Tenor der Leben-Jesu-Forschung – der Betha­nien-Szene überhaupt historische Bedeutung zu­misst, erlaubt ihm, sie zur Erklärung des ­Beginns der Verfolgung Jesu zu machen. ­Dieses »Wunder« zog so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass daraufhin die Verfolgung und Hin­­richtung beschlossen wurde. – Genau darauf wird Rudolf Steiner in seinem 1902 er­schie­n­e­nen Buch Das Christentum als mystische Tatsache 1902 zurückkommen.

 

Rudolf Steiners Umschmelzung von Renans Lazarus-Deutung

Für David Friedrich Strauß (1835) entbehrte die Lazarus-Erweckung jeder historischen Grundlage, und auch die Auferstehung Jesu war nichts anderes als eine Legende. Karl Hase (1876) ist einer der wenigen Leben-Jesu-Forscher außer Renan, der die Erweckung des Lazarus als historisch sieht. Er erklärt sie, genauso wie auch die Auferstehung Jesu, als Überwindung eines extremen Schein- oder Nahtodzustandes. Zu bei­dem hätten die außergewöhnlichen Heilungskräfte Jesu entscheidend beigetragen. Für Renan aber endet das Leben Jesu am Kreuz. Nur im Herzen seiner Jünger habe er noch wochenlang weitergelebt.

Renan starb am 2. Oktober 1892 in Paris. Steiner schließt sich 1902 Renans These von der Schlüsselbedeutung des Bethanien-Wunders für die einsetzende Verfolgung an. Die Erweckung des Lazarus war auch für ihn ­historisch (anders als für Strauß). Sie war auch für Steiner – wie für Renan und Hase – keine ­»echte« Totener­weckung. Aber sie war deshalb weder eine Vortäuschung (Renan) noch eine Beihilfe zum Erwachen aus einem Scheintod (Hase). Es war vielmehr eine Nahtod-Erweckung. Und diese vollzog sich im Rahmen eines Einweihungsrituals. Dass in Bethanien eine Mysterienhandlung öffentlich durchgeführt wurde, erklärt erst wirklich die Verfolgung. Denn der Vorgang galt als ein Mysterienverrat, der geahndet werden musste.5
Steiner hatte das zuvor ausführlich vorbereitet. Er hatte dargelegt, dass die Evangelien vor dem Hintergrund der Mysterientraditionen gelesen werden müssen. Sie sprechen von einem historischen Jesus, stellen ihn aber nur indirekt dar. Sie erzählen eine typische Eingeweihtenbiographie. Jesus erscheint nicht geschichtlich konkret, auch nicht als Typus des Erlösers (Nietzsche), sondern als »Typus des Eingeweihten«. Und weil die vier Evangelisten aus vier verschiedenen Einweihungsströmungen stammen, trägt ihre jeweilige Darstellung eines typischen Eingeweihtenlebens unterschiedliche Züge. Die werden erst dann zu Widersprüchen, wenn man sie direkt als historische Berichte zu lesen versucht.
Für die ersten Leser des Steinerschen Buches in der Ausgabe von 1902 musste bei all dem freilich die Frage aufkommen, ob der historische Jesus selbst dann lediglich einer von vielen großen Eingeweihten war, vergleichbar etwa mit Buddha. Durch die Änderungen und Ergänzungen der Ausgabe letzter Hand von 1924 wurde jedoch klar, dass Jesus für Steiner jetzt kein Eingeweihter war. Der Tod und die Auferstehung Jesu wurden nun nämlich explizit als reale Vorgänge begriffen, die den rituellen »mystischen« Tod ins geschichtlich Reale und Unwiederhol­bare vollständig umgewandelt hatten.6 Die Erweckung des Lazarus bildete somit den Abschluss der alten Einweihungen. Am Kreuz von Golgatha vollzog sich die Umwandlung des Mysterien­rituals in ein weltgeschichtliches Ereignis. Dass die Evangelien das historische Leben des menschgewordenen Gottessohnes in der Form einer typischen Eingeweihtenbiographie erzählen, dass sie dadurch das Mystische im Historischen leben lassen, das erscheint als unumgängliche Darstel­lungsform dessen, der zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott war.
Tatsächlich: Wie sollte denn ein solches ­Leben sonst »realistisch« erzählt werden, ohne ­dabei zum Mythos oder zum Fantasy-Roman zu werden? Renan hat Jesus nur für einen ereig­nishaft kurzen Augenblick zum »Sohn Gottes« werden lassen. Deshalb konnte er das Leben Jesu romanhaft und teils romantisch, teils na­turalistisch erzählen, ohne Übernatürliches ein­fließen zu lassen. Für Steiner wird das Übernatürliche schließlich zwar in der Deutung zu einer historischen Tatsache, aber sie wird weder von den Evangelien noch von ihm als ­Geschichte erzählt und entgeht so ebenfalls der Mythologisierung.    
 

Dr. Jörg Ewertowski, geboren 1957, Leiter der Rudolf Steiner Bibliothek Stuttgart

1 Ernest Renan: La Vie de Jésus. 13. Aufl., Paris 1867, Übersetzung JE

2 Ernest Renan: Das Leben Jesu, 4. Aufl., Berlin 1864

3 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Abschnitt 29 und 31, KSA 6, München 1988, S. 199, 202. Zur nähe­ren Diff­e­renzierung der Beziehung zwischen Nietzsches
Begriff des »Idioten« und seiner Beziehung zum gleich­namigen Roman Dostojewskijs vgl.: Paolo Stellino: Jesus als ›Idiot‹: Ein Vergleich zwischen Nietzsches
Der Anti­­christ und Dosto­jewskijs Der Idiot, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, 14 (2007), S. 203–210.

4 Ernest Renan: Das Leben Jesu, a.a.O., S. 246f.