Verantwortung als Beziehungsgeschehen | Vom inneren Königtum der Seele

AutorIn: Christward Kröner

Was sollen wir tun?«, fragten die Menschen nach ihrer Taufe im Jordan durch Johannes den Täufer. Sie hatten in einer Art Nahtod­erlebnis auf ihr bisheriges Leben aus der Per­spektive des Geistes geschaut und suchten nun Orientierung, um der von ihnen neu erkannten Eigenverantwortung für ihr Tun gerecht zu werden.
Wir alle sind spätestens mit dem Beginn ­unserer zwanziger Jahre nicht nur »hoffnungslos erwachsen«, sondern auch dauerhaft aufgefordert, Verantwortung für unser Leben zu übernehmen. Aber oft nicht nur für uns, sondern auch für diejenigen, die entweder noch nicht oder nicht mehr die eigene Lebensverantwortung tragen können. Dabei finden wir uns in einem doppelten Verantwortungsgeschehen wie­­der: un­seren eigenen Lebensidealen oder G­e­staltungsimpulsen gegenüber auf der einen Seite und dem, was von uns gefragt und erwartet wird durch den Berufs- oder Lebensumkreis auf der anderen Seite. Im Idealfall begegnen, durchdringen und steigern sich die zwei Ströme. Etwa wenn der Lehrer seinem Lehrauftrag ebenso­ ­gerecht wird wie den Bedürfnissen und Entwicklungszielen der Schüler. Oder der Priester, dessen Auftrag es ist, der geistigen Welt und ­zugleich seiner Gemeinde zu dienen. Oder der Arzt, der sich sowohl den Patienten als auch ­seinen ärztlich-ethischen Impulsen gegenüber verpflichtet fühlt.
Fortwährend steht der gesunde, erwachsene und handlungsfähige Mensch in einem Beziehungsgeschehen vielfältiger Verantwortung, sei es im beruflichen oder im sogenannten privaten Leben. Dabei ist grundsätzlich festzuhalten: Als Verantwortungsträger muss ich mir meiner Verantwortung bewusst sein – eine Verantwortung haben und nichts davon zu wissen, hebt die Verantwortung wieder auf. Außerdem brauche ich gewisse Fähigkeiten und einen Gestaltungsspielraum, in dem ich frei entscheiden kann – ohne diese wäre »Verantwortung« ein leeres Wort.
Wird jemandem Verantwortung übertragen, so spricht sich darin immer eine Seelenhaltung von Zutrauen und Vertrauen aus – wobei aufgrund des Freiraums keine Garantien möglich sind und der, der die Verantwortung übertragen hat, sich über die Fähigkeit und Bereitschaft dessen, der sie erhalten hat, getäuscht haben kann. Er trägt immer eine »Restverantwortung«, die auf ihn zurückschlägt, wenn es schiefgeht.

Manche Verantwortung bekommen wir quasi von Natur aus übertragen – etwa, wenn wir ­Eltern werden. Natürlich ist dies dann auch im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert, aber ihr ­eigentlicher Quell liegt in dem unendlichen Vertrauen, das der sich verkörpernde Mensch seinen Eltern entgegenbringt und auf das diese antworten. An dieser Lebenstatsache können wir für die unter Umständen ganz zarte und kaum ­vernehmbare Frage erwachen, die uns in bestimmten Situationen oder Schicksalsaugen­blicken entgegenkommt: Willst du in diesem ­Augenblick Verantwortung übernehmen? Willst du dich verantwortlich machen, die Verantwortung ergreifen? Man könnte in diesem Zusammenhang an den barmherzigen Samariter denken, der diese Frage empfunden und gehört haben muss und sie durch sein beherztes und lebensrettendes Handeln mit »Ja« beantwortet. Wer ist in einem solchen Fall der, der die Verantwortung übertragen hat?

In dem ganzen Geflecht der Verantwortungsbeziehungen kommt es auf möglichst viel Bewusstheit und Klarheit an. Je klarer die Zuständig­keiten – die Verantwortlichkeiten – geregelt sind, um so gesünder für den sozialen Organismus.

Wie leicht kann es geschehen, dass sich jemand aus der Verantwortung stehlen möchte – und wir dann eine Verantwortung nachträglich zugeschoben bekommen, die wir nie bewusst übernommen haben oder hätten? Oder dass wir selbst uns vor einer übernommenen Verantwortung zu drücken versuchen?

Und wie steht es damit, Rechenschaft über den Umgang mit der übernommenen Verantwortung abzulegen? Gibt es nicht immer auch eine – innere oder äußere – Instanz, der gegenüber wir verpflichtet sind, Rechenschaft abzu­legen?

Können wir empfinden, dass bei jedweder Art von Verantwortung, in der wir in der Freiheitssphäre des irdischen Lebens stehen, noch andere Augen auf uns als Verantwortungsträger blicken, erwartungsvoll, hoffend oder fragend – vielleicht sogar urteilend, wenn schon nicht ­verurteilend? Im Besinnen dieser Frage kann ein tiefer Schicksalsernst in die Seele einziehen.

Eine Verantwortung, der wir uns ganz sicher ­lebenslänglich nicht entziehen können und für deren Vorhandensein wir möglicherweise im Erwachsen-Werden erst erwachen müssen, ist die für unser eigenes Seelenleben. Wie unendlich viele äußere Ursachen machen wir dafür verantwortlich, wie es uns seelisch geht. Das Verhalten des Mitmenschen, das Wetter, die Börsenkurse, das – zugegebenermaßen bedrängende – Weltgeschehen. Wir blicken auf un­zäh­lige Ursachen, an denen wir nichts ändern können, und fühlen uns als Opfer. Dabei übersehen wir, dass wir in jedem Augenblick die Möglichkeit haben (seelische Gesundheit vorausgesetzt), unseren inneren Zustand zu ver­ändern, König im eigenen Seelenreich zu werden bzw. unser inneres Königtum zu ergreifen. Wieso gebe ich meine innere Souveränität an den ab, der mich verletzen oder kränken möchte? Wieso erlaube ich den Empfindungen des Zornes oder der Enttäuschung vollständig die Kon­trolle über mein Inneres zu erlangen? Wer wacht an der Pforte meiner Seele und bestimmt, wer herein darf und wer nicht? Wie ist es mit den zahlreichen un­gebetenen Gästen, die sich in mir breitmachen und anschicken, kürzer oder länger die Herrschaft in meiner Seele zu übernehmen? Der Sprachgeist ist da sehr weise: Ich ärgere mich, ich gräme mich – aber eben auch: ich freue mich, ich überwinde mich. Der Zustand und das ­Befinden meiner Seele liegt ­ultimativ in meiner Ver­antwortung. Diese Entdeckung kann unangenehm sein, hinsichtlich der schmerzhaften Selbsterkenntnis, sie kann aber auch befreiend und beflügelnd wirken, weil ich aus dem passiven Erdulden in einen aktiven, ja schöpferischen Zustand des Gestaltens der ­eigenen Seelenwirklichkeit eintrete.
Das Interessante ist: je mehr es mir gelingt, diese innere Verantwortung zu ergreifen (und vermutlich ist jeder hinsichtlich dieser Aufgabe lebenslänglich unterwegs), um so geeigneter erweise ich mich, die »äußeren« Verantwortungen des Lebens zu tragen.
Goethe spricht in den Kapiteln zur »pädagogischen Provinz« in Wilhelm Meisters Wanderjahre von den drei Arten der Ehrfurcht: gegenüber dem, was über uns ist; gegenüber dem, was um uns ist; gegenüber dem, was unter uns ist. Damit sind zugleich die drei großen Verantwortungsfelder bezeichnet, in denen wir uns als Mensch auf der Erde vorfinden: gegenüber dem Himmel, gegenüber unseren Mitmenschen und gegenüber der Erde und aller Kreatur. Und wir können die vierte Verantwortung (und Ehrfurcht) hinzufügen: gegenüber uns selbst und den in unserer Seele wirksamen Kräften.

Das ganze Evangelium können wir auch begreifen als eine »Anleitung«, uns dieser vierfachen Verantwortung immer bewusster zu werden und aus diesem Erleben heraus unser Leben zu führen.