Bilderflut und Bilderfasten

AutorIn: Renate Schiller

Erstens: Was ist ein Bild?« Diese Frage stellte sich zur Zeit des byzantinischen Bilderstreits im 8. Jahrhundert der Kirchenvater und Befürworter der Bilderverehrung Johannes von Damaskus. Seine an ihr entwickelten Gedanken erweisen sich als bis in die Gegenwart hinein aktuell. Er tat kund: »Ein Bild ist also nun ein Ebenbild … von irgend etwas, in sich das Abgebildete zeigend, aber das Bild scheint durchaus nicht in jeder Hinsicht mit dem abgebildeten Urbild identisch zu sein – das Bild ist nämlich eine Sache und das Abgebildete eine andere … Daher kann ich etwa sagen: Wenn das Bild des Menschen auch das geprägegleiche Bild des Körpers ausdrücken mag, so hat es doch nicht die geistigen Wirkkräfte, weder nämlich lebt es, noch denkt es oder gibt Laute von sich …«1

Zwei Prinzipien wurden gegenübergestellt: ein physisch sich manifestierendes Brett, Pigment und Binder als Grundlage eines leblosen Abbildes und sein lebendiges Urbild, ausgestattet mit geistigen Wirkkräften. Während das Abbild lediglich einen zeitlich eingefrorenen Moment wie­dergeben kann, weist das Prinzip des Urbildes, das in erster Instanz der Schöpfung zugrunde liegt, auf Allgegenwart hin. Nicht der Baum an einem bestimmten Tag im Januar ist der Baum. Als Urbild zeigt er sich erst in der sich wieder­holenden Folge der Jahreszeiten, deren Gesamtheit nicht mit physischen Augen erfasst werden kann. Er muss durch den betrachtenden Menschen als geistige Wirklichkeit der Zeitlichkeit entrissen und durch ihn in seinem Inneren zum imaginativen Bild geschmiedet werden. Der malerischen Findung des Urbildes sowie dessen Schau dienen die objektiven, je spezifischen Kräf­­te von Farbe und Form. Sachgemäß angewendet unterstützen sie den Transfer in den geistigen Raum, im dem sie auch selbst urständen.
Wohl jeder Künstler strebt danach, hinter seinem Bild etwas Urbildliches in Erscheinung treten zu lassen. Zeigten sich im 8. Jahrhundert dem religiös Vertieften ausschließlich göttliche ­Wesen, Madonnen, Heilige, Märtyrer und Ornamente – auch die heilige Geometrie des Ornaments weist auf Bilder kosmischer Energien hin, tritt doch Gottvater im Schöpfungsakt mit Zirkel, Lot und Winkelmaß auf –, so erweiterte sich das Spek­trum der Inhalte mit voranschreitender Zeit und ergriff alle Möglichkeiten der profanen Welt, zuletzt auch der begrenzten menschlichen Psyche und engen Befindlichkeit des Einzelnen.
Unter Einbezug jeglichen darstellbaren Gegenstandes begann sich fortan eine an Wucht und Geschwindigkeit zunehmende Bilderflut über die Sinne des Menschen zu ergießen und durch rastlose, willkürliche Eindrücke seine Fähigkeit, sich in ruhiger Besinnung der Schicht des Urbildes anzunähern, mehr und mehr zu be­drohen und abzulähmen.
Dass von Bildern gefährliche Wirkungen ausgehen können, stand zur Zeit Johannes’ von ­Damaskus außer Frage. In Byzanz fürchtete man sich vor magischen Praktiken. Hartnäckig hielt sich das Gerücht von gewissen Werkstätten, in denen unter der nach den Regeln der Kunst gestalteten Ikone eine weitere Schicht gemalt werde, die allerlei Teufelsfratzen darstellte. Auf diese Weise sollte das »wahre Bild« als Illusion erscheinen und seine heilenden Kräfte hintertrieben werden.
Zahlreiche Illusionen und Suggestionen solcher Art wirbelt die uns aktuell umtosende ­Bilderflut in unseren Gemütern auf. Mit entsprechenden Bildern können Ideologien untermauert, Moden und Mainstream erzeugt bzw. befestigt, Täuschungen begangen, Lügen verbreitet und Seelen bereits im Kindesalter abgestumpft und simplifiziert werden.
Allein der Anblick sich im Gleichgewicht befindlicher noch nicht zerstörter Natur vermag es, die Wahrnehmung zu läutern und der Seele einen Teil ihrer Unschuld zurückzugeben. Was kann uns die Kunst, deren Medium schließlich das Bild ist, bezüglich der Wiederherstellung entstellter, grotesker und überladener Darstellungen lehren? Welche Mittel hat sie anzubieten, um das Übermaß an Stoff zu überwinden und zum Sein vorzudringen?


Das schwarze Quadrat von Kasimir ­Malewitsch

Kasimir Malewitsch hat 1913 ein Bild geschaffen, das für den aktiven Menschen zu einem fortwährenden methodischen Weg werden kann, sich Urbilder zu erarbeiten und zu erhalten.
»Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld.«
Es wurde am 7. Dezember 1915 in der »0,10« genannten Ausstellung der Galerie Dobytina in Sankt Petersburg gezeigt. Seine spezielle Platzierung löste Empörung aus, nahm das sogenannte »tote Quadrat« doch den Ort ein, der in den Häusern traditionell der Ikone vorbehalten war.
Es folgten weitere, ebenfalls schwarze ­Quadrate. Malewitsch war gedanklich wie malerisch über einen beträchtlich langen Zeitraum mit dem von ihm gefundenen Motiv befasst. Es schien ihm eher ein Prinzip, denn ein Bildnis zu sein, zumal die Bildfindung mehr einer Empfängnis als einem bewussten gestalterischen Zugriff glich. Zudem war er inhaltlich zu dieser Zeit mit Fragen befasst, deren Antworten sich weder eins zu eins noch ausschließlich in dem schwarzen Quadrat wiederfinden ließen. Es war, als ent­zögen sich ihm immer wieder sichere Erkennt­nisse über dessen geheimnisvolle Erscheinung und Kraft. Er erlebte das Quadrat nicht nur als eine Neuschöpfung in der Welt der Kunst, sondern er empfand, dass es auch ihn selbst, seinen Schöpfer, umgestaltete. Seinem Gegenspieler Alexandre Benoîs gegenüber bezeichnete er sich als »Stufe«. Benoîs brachte dem von Malewitsch hervorgebrachten Werk keinerlei Verständnis ent­gegen und diffamierte es öffentlich als den »… aller, allerabgefeimtesten Trick in der Jahrmarktsbude der allerneuesten Kultur«,2 als wolle er einen Hinweis geben auf ein vollkommen herabgekommenes magisches Geschehen. An anderer Stelle sprach Malewitsch von sich als einer »Wende«, die er offenbar dadurch werden konnte, dass er sich »… in den Nullpunkt der Formen verwandelt [habe] und … über Null hinaus­ge­gangen [sei]«.3


Im Zustand des Entstehens

Nullpunkt, Wende, Stufe – alle drei Begriffe bezeichnen nichts Dauerndes, sondern weisen auf Bewegung und Übergang hin. Der Nullpunkt kennzeichnet den Beginn durch Verzicht, durch Wenden kann Erneuerung geschehen, die Stufe führt schrittweise zur Reife. Die zeitlich wie qualitativ unterschiedlichen Stationen dieses evo­lutionären Vorgangs innerer Entwicklungsschritte hat sich Malewitsch durch äußerste ­Reduzierung seiner Mittel und meditative Besinnung auf ihre Qualitäten erworben. Mit der Deutung und Beurteilung seiner Erfahrungen geht er vorsichtig um, lässt offen, statt zu zwingen, wartet, statt zu drängen. »Ich spreche von ihm, dem Quadrat, noch zaghaft … Es wäre wert, darüber nachzudenken, was das ist und was in ihm ist … und ich bin nun mit der un­verwandten Betrachtung seiner geheimnisvollen schwarzen Fläche beschäftigt … in ihm, dem Quadrat, sehe ich das, was die Menschen einstmals im Angesicht Gottes sahen.«4 Es wird ­deutlich: Malewitsch lebte in dem sicheren Bewusstsein, dass sich ihm mit dem schwarzen Quadrat etwas ganz Besonderes zugesellt hatte, was seinen Ausdruck in der Wortschöpfung mit der er seine neu entdeckte Kunstrichtung benannte, fand: »Suprematismus« nach Supremum: das Oberste, das Erhabene.

Zu Malewitschs schwarzem Quadrat gibt es eine Entsprechung aus dem 17. Jahrhundert. In einer Reihe von Kupferstichen hat der Arzt, Philosoph und Theosoph Robert Fludd die Genesis dargestellt. Das erste Bild, ein schwarzes Quadrat, an den Rändern beschriftet mit den Worten »Et sic in infinitum«, »Und so in Ewigkeit« zeigt das Nichts vor dem ersten Schöpfungsakt. Alles ist noch ungeschiedene »prima materia« oder Urstoff. Dann wird geschieden und aus der sich wiederholenden Unterscheidung entstehen Licht, Finsternis, Erde und Gewässer, Natur und Lebewesen, die »materia secunda«.
Dauerndes Unterscheiden, Teilen, Trennen, Gliedern, Auseinandernehmen und Spalten führt zwangsläufig zu Verzettelung und Zerstreuung und lässt zuletzt den Ursprung des Teiles in Vergessenheit geraten. In der künstlerischen Arbeit ist die Rückführung auf die prima materia ein notwendiger Schritt. Nur sie gewährleistet eine ungebundene Neuorientierung ohne einschränkende Richtungsbestimmung und nur durch sie wird die Wirklichkeit des Urbildes immer wieder neu erschaffen werden können.

Der imaginativ Erkennende wird sich durch ­Meditation in seinen Betrachtungen entsprechende Verhältnisse schaffen müssen. In diesem Sinne lesen wir bei Rudolf Steiner: »… in die ­Regionen dringt der imaginativ Erkennende ein, in denen die Impulse liegen, … die seine [des Künstlers] Bildgestaltung führen, die seine Hände führen, die ihn zum Bildner … machen, so dass er dasjenige, was er aus diesen Regionen als Anregungen empfängt, dem äußeren Mate­rial, dem äußeren Stoff einverleibt. … gerade in diejenigen Regionen rückt der imaginativ Erkennende ein, aus denen das Leben des künst­lerisch Schaffenden in Wirklichkeit quillt. Und wenn man dann wirklich berührt wird von dem, was in diesen Regionen zu finden ist, dann wird nicht Künstlertum, dann wird nicht produktive Kraft abgelähmt, … sondern dann wird dasjenige, was sonst im Dunkeln bleibt, durch ein helles Licht erst angeregt.«5                

1 Pascal Weitmann: Sukzession und Gegenwart, Wiesbaden 1997

2 Aus der Zeitschrift Die Sprache, 1916, in: Heiner Stachelhaus: ­Kasimir Malewitsch. Ein tragischer Konflikt, Düsseldorf 1989

3 Heiner Stachelhaus: Kasimir Malewitsch, a.a.O., S. 109

4 Heiner Stachelhaus: Kasimir ­Malewitsch, a.a.O., S. 106

5 Rudolf Steiner: Kunst und Anthro­po­­sophie, Der Goethe­anum-Impuls, Dornach 1921, GA 77b, S. 36

 

Renate Schiller, geboren 1947, Dozentin für Bildende Kunst an der »Freien Hochschule Stuttgart«(i.R.), Stuttgart