Der verwundete Mensch (IV) Elemente einer christlichen Menschenkunde

AutorIn: Ulrich Meier

Es kann in hohem Maße verwundern, dass Christen ihr Menschsein im Blick auf den verwundeten und gekreuzigten Christus erfahren und entwickeln wollen. Geht es in der Religion nicht eher um die Verwirklichung ethischer Ideale als um die Konfrontation mit menschlicher Versehrtheit? In der Spannung zwischen der Tatsache der Sterblichkeit und dem Streben nach Unsterblichkeit kann aber das eigentliche Feld christlichen Lebens gefunden werden. Dazu soll mit dieser Artikelserie, unter anderem in Anlehnung an Elemente des Vaterunsers, angeregt werden.

Der Versuch, einen inneren Zugang zu den ersten drei Bitten des Vaterunsers zu erschließen, dem die ersten Aufsätzen dieser Reihe gewidmet sind, mag kompliziert und schwer verständlich erscheinen. Begriffe wie Gottes­name und Gottesreich wirken abstrakt und weisen sprachlich in eine andere Zeit. Was lässt sich heute konkret unter dem Namen und Reich Gottes vorstellen? Versetzt man sich in die Lage Jesu Christi, der sein eigenes Gebet mit den Jüngern teilte, stellt sich die Frage vielleicht unmittelbarer: Worauf blickte der Gottessohn, wenn er sich im Beten an seinen Vater im Himmel wandte? Es ging ihm offenbar darum, sich vor dem Aussprechen der vier Bitten, die aus einer mehr ir­dischen Perspektive an den himmlischen Gott gerichtet werden, mit seiner betenden Seele zum Sein und Wesen des Vaters, in dessen allum­fassende Welt zu erheben. Erneut möchte ich hier auf Friedrich Rittelmeyer verweisen, der diesen Aspekt im Zugehen auf die Behandlung der dritten Vaterunser-Bitte in folgender Weise skizziert hat:
»Wir sehen, wie diese drei Gebetsrufe aus dem Christus-Ich selbst emporgestiegen sind. (…) Wir haben in der ersten Bitte: Geheiligt ­werde dein Name! das Weltenziel erschaut. Aber so, dass wir es aus dem Ursinn der Schöpfung ­entnahmen. Uranfänglich war alles göttlicher Name. Wir schauten in die Vergangenheit. Mit der zweiten Bitte: Dein Reich komme zu uns! wandte sich unser Blick der Zukunft zu. Was werden will, ist zuhöchst das göttliche Reich. Seinem Werden und Wachsen sind wir angelobt. In der dritten Bitte treten wir ganz ein in die Gegenwart. (…) Im Urbeginn gab Gott allen Din­gen seinen göttlichen Namen. Da war er alles in allem. Aus allem leuchtete sein Name hervor. Diese Zeit kehrt nicht wieder. Wenn wieder der göttliche Name in allem leuchtet, dann wird es geschehen, weil freie Menschen sich ihm mit ­ihrem eigenen Willen zugewendet haben.«1
Was mir für die Betrachtungen zum christ­lichen Menschenbild anhand des Vaterunsers am Herzen liegt, ist die Spannung, die sich daraus ergibt, dass wir uns einerseits als von Gott getrennt erfahren, andererseits aber unsere Sehnsucht auf die (Wieder-)Verbindung mit ihm richten. Diese Spannung wird vielleicht gerade deshalb in den ersten Sätzen des Vaterunsers so stark erlebt, weil sie sich im Erheben der Seele zu Gott deutlicher zeigt als im Erbitten dessen, was aus seiner Welt in unsere Welt kommen möge. Mein zweites Anliegen mit diesen Auf­sätzen zielt auf die Verantwortung von uns Menschen in der im Gebet gesuchten und gepflegten Verbindung mit Gott. Wir müssen uns ihm gegenüber nicht als rein passive Empfänger seiner Gnadengeschenke empfinden, sondern können uns aktiv in das Wirken Gottes unter den Menschen und in der Welt hineinstellen. Unser Beten ist weit mehr als das Nachsprechen einer überlieferten Vorgabe – im feinen Wechsel von Hören und Sprechen öffnen wir uns in dieser religiösen Tat für sein schöpferisches Wesen und arbeiten mit ihm als Gestalter an der Vergöttlichung der Erdenwelt.


»Dein Wille geschehe, wie oben in den ­Himmeln, also auch auf Erden«

Als Jugendlicher wurde die Frage nach der Allmacht Gottes, über die wir im Religionsunterricht interessante, aber ziemlich theoreti­sche Gespräche führten, für mich unerwartet existentiell. Rückblickend war es wohl der alters­gemäße Wandel in meinem seelischen Selbst­verständnis, der dazu führte, dass ich das Empfinden, im vollkommenen Willen Gottes aufgehoben und getragen zu sein, nicht mehr als ein selbstverständliches Geschenk, sondern auch als Sorge vor einem fremden und unüberschaubaren Willen empfand. Wenn Gottes Wille über allem Willen der Menschen steht, so ging mir damals durch den Sinn, wo findet dann mein ­eigener verantwortlicher Wille Raum? Ich e­r­innere noch sehr gut den Augenblick, als sich mir im Denken die Lösung ergab, dass es ja auch schon unter Menschen nicht so sein muss, dass Wille gegen Wille steht, sondern dass sich in ­einer Zusammenfügung verschiedener Willensströme so etwas wie »Wille-in-Wille« ergeben kann, ein nicht mehr unterscheidbarer Zusammenklang, der zu gemeinsamer Initiative führt.
Für den Wiederbeginn meines täglichen Betens aus eigener Kraft war diese Klärung eine Hilfe, weil sich die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Willen nicht mehr in einem Entweder-oder erschöpfte, sondern das Augenmerk auf den dynamischen Dialog im ­Sowohl-als-auch verlegte. In einem differen­zierten Verständnis der griechischen Worte des ­Vaterunsers wird dieses dialogische Verhältnis darin erkennbar, dass wir im Aussprechen des »Dein Wille geschehe« das über Zeit und Raum erhabene schöpferische Potential des göttlichen Allwillens in ein konkretes räumlich-zeitliches Werden hineinrufen. Karl Friedrich Althoff formuliert den damit verbundenen Entwicklungsaspekt von »… geschehe …« mit den folgenden Worten: »So lässt sich die Anrufung wohl übertragen: Es werde in den Werdestrom, in die Entwicklung gebracht Dein Wille.«2
Dialogisch erscheinen mir die in dieser Bitte liegenden Bewegungen auch deshalb, weil sie nicht auf eine Trennung der Welten hinauslaufen: Im Himmel der Wille des Vaters – auf der Erde der Wille des Menschen. Vielmehr ergibt sich eine Resonanz und Konsonanz zwischen beiden Welten: Unser betender Wille bejaht seinen Willen im Himmel und auf Erden. Anders gesagt: Im Gebet schwingen sich die irdisch verkörperten Seelen auf zu dem ewigen »Ja« aus dem allmächtigen Willen Gottes, das sich im ­geschichtlichen und aktuellen Werden als Licht, Liebe und Leben ausspricht. Was sich daraus weiter ergeben kann, soll im letzten Abschnitt aufgegriffen werden.


Vierte Wunde: Schwäche und Ohnmacht

In einem scheinbar vollständigen Widerspruch zur Machtfülle göttlichen Willens kann die mit der irdischen Existenz des Menschen unvermeidlich verbundene Erfahrung von Zeiten der Ohnmacht und Schwäche erlebt werden. Was wir in Machtlosigkeit und Versehrtheit tatsächlich durchmachen, muss jedoch nicht als eine mehr oder weniger starke Abwesenheit des Willens angesehen werden. Anstelle der fehlenden Kraft im Willen kann eine neue Willensqualität entdeckt werden, die sich in der Schwäche als innere Öffnung und Empfänglichkeit zeigt. Gehe ich ohne Angst und Widerstand in diese zunächst als unangenehm empfundenen Situa­tionen, erweisen sie sich womöglich als zwar resignative, aber dennoch in ihrer Offenheit fruchtbare Momente des Wandels.
Dazu gehört noch ein weiterer Aspekt: Wollten wir Gott nur die Seite des machtvollen Willens zuerkennen, würden wir nicht nur an der positiven Resignation des Schöpfers, sondern auch an den Gotteserfahrungen Christi vor­beigehen, die seine volle Menschwerdung in der Ohnmacht am Kreuz vorbereitete. Dietrich Bonhoeffer hat in den Briefen aus der Haft, die später in Widerstand und Ergebung3 veröffentlicht wurden, eindrücklich auf die Selbstauslieferung Jesu am Kreuz verwiesen, in der sich das stufenweise Zurücklassen der gött­lichen Allmacht ausspricht. Sie führte ihn schließlich in den Tod als nur in Ohnmacht zu erlebende tiefste Menschen­erfahrung. Sein Durchgang durch das Sterben zum neuen Leben in der Auferstehung lässt sich aus der Perspektive der Macht nicht verstehen, sondern erst in der Erfahrung der Hingabe des Opferns nacherleben.
Wie im Vorspann zu den Beiträgen angedeutet, können wir uns im Anblick des leidend sterbenden Menschengottes in zweifacher Weise mit ihm verbunden erleben: Gott neigt sich uns im Tode zu und nimmt damit sein eigenes Menschsein und zugleich auch unseres an. Bleiben wir in unserem eigenen Leiden und Sterben mit ihm verbunden, erfahren wir uns als Menschen nicht mehr nur im Schmerz der Ausgesetztheit und Verwundung. Vielmehr entdecken wir darin mehr und mehr auch die Möglichkeit, im Durchleben von Schwäche und Ohnmacht den zu uns gehörenden verbor­genen göttlichen Anteil zu finden, der uns in neuer Weise Kraft und Lebendigkeit schenkt.


Gotteswille im Menschenwillen

Zurück zur Frage der Verbindung von menschlichem und göttlichem Willen. Stand mir zuerst die Vermischung unterschiedlicher Ströme als Bild vor der Seele, so ergab sich später dazu noch eine Steigerung: Es wurde mir nach und nach zur Erfahrung, dass ich in der Verantwortung für meinen Willen nicht für mich allein stehen bleiben muss, sondern in Freiheit göttliche Ziele in den eigenen Willen aufnehmen kann. Gott erscheint mir dabei nicht als ein Gegenüber, sondern als der von den Mystikern beschriebene göttliche Funke im eigenen Inneren. Am stärksten geschieht dies, wenn ich die Liebe zum Menschen und die Liebe zum Lebendigen als einen wesentlichen Anteil göttlichen Willens in meinem Wil­len erfahre. Am deutlichsten habe ich dies in einer seelischen Reaktion auf die Erlebnisse eines Besuchs in der Gedenkstätte des Vernichtungslagers in Auschwitz erlebt. Der Umgang mit dem Beichtsakrament entzündet mich immer wieder neu für dieses Empfangen des göttlichen Willens als eine tief mit ­meinem Wesen verbundene Kraft, wenn es in den Worten des Sakraments heißt: »Lerne … deinen Willen durch Gottes Gnade empfangen.« Nicht nur den Willen Gottes, sondern durch ihn den tiefsten menschlichen Willen empfangen – das wäre noch eine weitere Stufe in diesem Erleben.

1  Friedrich Rittelmeyer: Das Vaterunser. Ein Weg zur Menschwerdung, Neuausgabe Stuttgart 2015, S. 56–57

2  Karl Friedrich Althoff: Das Vater­unser. Die Wortgestalt des Menschheits­gebetes auf ihrem Weg durch die Kulturen der Völker, Stuttgart 1978, S. 73
 
3  Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Gütersloh 2011