Wofür Leben? Göttliche und menschliche Geistesziele

AutorIn: Christward Kröner

Bevor die Jugendlichen konfirmiert werden, blicken sie in der Regel auf ihr bisheriges Leben zurück und schreiben eine Art Lebenslauf. Das ist ein wichtiger Bewusstseinsvorgang, der wirksam den Schritt in immer größere Selbst­verantwortung bei der eigenen Lebensgestaltung vorbereiten kann.
Die Kindheit liegt hinter ihnen und das ­ganze weitere Leben vor ihnen. Die Konfirmation mar­kiert die Schwelle, den Übergang oder auch das Tor, durch das sie gehen, indem sie den großen un­bekannten Raum des weiteren Lebens betreten.
An dieser Schwelle tritt vielleicht erstmals die Frage auf, die uns Erwachsene jeden Tag ­begleiten kann: Wofür lebe ich eigentlich? Wozu ist mein Leben da, was bedeutet es für mich, was für andere? Was will ich aus und mit meinem Leben machen?
In der Taufe, die ja oft 14 Jahre zurückliegt, wenn ein Mensch auf die Konfirmation zugeht, wird in denkbar knapper aber auch rätselhafter Form imperativisch der Sinn des Lebens beschrieben, wenn es heißt: »Sie (die Seele des Täuflings) soll der Geistessphäre leben, aus göttlichem Geistesziel.«
Die Kernaussage ist: die Seele soll geistorientiert leben. Der Imperativ kennzeichnet etwas, das keine Selbstverständlichkeit ist, nicht ohnehin schon da ist, sondern erst erreicht, errungen bzw. hervorgebracht werden muss.
Wenn jemand an uns das Wort »du sollst …« richtet, sind wir für gewöhnlich nicht begeistert. Wir fühlen uns schnell ermahnt, bedrängt oder bevormundet. Das ist selbst dann so, wenn der liebe Gott zu uns spricht, wie etwa in den zehn Geboten. Nur wenn es uns gelingt, aus ­eigener freier Einsicht und aus eigenem freien Entschluss heraus, das »du sollst« in ein »ich will« zu verwandeln, fühlen wir uns wieder frei und im Einklang.
Der zitierte Satz aus der Taufe spricht von zwei Gegebenheiten: von der »Geistessphäre« und dem »göttlichen Geistesziel«. Mit diesen Gegebenheiten soll sich die Seele spezifisch in Beziehung setzen. Sie soll aus dem göttlichen Ziel heraus so leben, dass sie sich in ihrem ganzen, gerade beginnenden Erdenleben der Sphäre des Geistes zuwendet.
Wenn es zentral um die Sphäre des Geistes geht – hätte die Seele da nicht im Himmel bleiben können? Wozu der ganze Umstand?
Offensichtlich scheint es aus der göttlichen Perspektive heraus entscheidend zu sein, dass wir lernen, uns unter Erdenbedingungen, in der bewusstseinsmäßigen Distanz zur geistigen Welt und in den Verhältnissen, die das Leben in der physisch-materiellen Welt mit sich bringt, aus ­eigenem Antrieb und suchend der göttlichen Welt, der »Geistessphäre« zuzuwenden.
Und was hat es mit dem »göttlichen Geistesziel« auf sich? In der Taufe wird von der vorgeburt­lichen Existenz der Seele gesprochen und davon, dass sie in die Erdengemeinschaft gesandt wurde. Wäre es denkbar, dass die sich inkarnierende Seele ihren eigenen Willen ganz mit dem gött­lichen Willen verbunden hat, dass das göttliche Geistesziel, aus dem heraus wir das Erdenleben gestalten sollen, zugleich unser ganz eigenes und bejahtes Inkarnationsziel ist?
Aber: wenn wir dann verkörpert sind und im Erdenbewusstsein erwachen – dann haben wir das alles vergessen! Wie kann das sein?
Oder könnte jemand so ohne Weiteres seine vorgeburtlichen Inkarnationsintentionen erinnern? Vermutlich die wenigsten. Warum bloß ist das so? So unbequem, so mühsam?
Vielleicht, weil das göttliche Geistesziel es not­wendig macht, uns die Chance zu geben, uns zu freien und schöpferischen Wesen zu entwickeln. Und das könnten wir nicht, wenn wir im »Himmel« blieben, wenn wir als »Geist unter Geistern« in der andauernden Wahrnehmung und im permanenten Bewusstsein der göttlichen Ge­gen­­wart lebten. Das können wir nur auf der Erde.
Und an der Stelle, wo die himmlische Mitgift vom Anfang des Lebens weitgehend aufgezehrt ist, wo der Schritt in die Erdenreife hinein getan wird, wo die Empfindungen der Gottverlassenheit und der möglichen Sinnlosigkeit des Lebens in der Seele Platz greifen können – an dieser biographischen Schwelle feiern wir das Sakrament der Konfirmation.
In ihr begegnet uns wieder das Wort vom »Geistesziel«. Nun ist aber nicht mehr vom göttlichen Geistesziel die Rede, sondern von den­ ­eigenen und individuellen Geisteszielen derer, die die Konfirmation empfangen. Beim segnenden Auflegen der Hände wird der jugendliche Mensch direkt angesprochen. Und es wird darum gebeten, dass seine Lebenskräfte, seine Seelenmächte und seine Geistesziele vom Christusgeist durch die Freuden und Leiden seines Lebens geleitet werden mögen.
Was sind denn Geistesziele? Vielleicht Ideen, die wir aus freiem Erkennen heraus fassen und für uns zu Idealen machen? Könnten Geistesziele Kraftzentren sein, aus denen heraus etwas auf Erden und unter Menschen entstehen kann, was rein aus den Naturkräften um uns und in uns nicht entstehen würde? Haben Geistesziele, die sich in der Erdenwelt zu realisieren beginnen, immer etwas mit dem Verwandeln von Gegebenem zu tun? Auch in mir? Braucht es immer wieder Überwindungskraft, um diesen Zielen treu zu bleiben? Und liegt darin nicht auch ein schöpferisches Tätigsein, durch das etwas ganz Neues entstehen kann?
Warum spricht Christus im Neuen Testament so oft in Gleichnissen vom »Reich der Himmel«? Will er damit eine Welt beschreiben, die nach­todlich für den Menschen erfahrbar wird? Oder könnte es sein, dass er, der nach der Auferstehung »der Herr der Himmelskräfte auf Erden« wurde, wie das Credo es sagt, uns anregen möchte, aus Geisteszielen heraus zu leben und so zu wirken, dass hier auf Erden immer »himmlischere« Verhältnisse entstehen können?
Wir Menschen können einander die Hölle auf Erden bereiten – das dürfte hinlänglich deutlich sein. Aber können wir auch am »Himmel auf Erden« mitbauen? Das wäre sicherlich ein Grund, das vorgeburtliche Geistesdasein zu verlassen – denn der Himmel auf Erden kann ja gar nicht in der geistigen Welt entstehen. Und wenn hier auf der Erde etwas Himmlisches entstünde – bedeutete das auch für den Ursprungshimmel etwas Neues, Entwicklung und Bereicherung?
Wovon handeln denn die Gleichnisse und Erzählungen? Oft von einer Art himmlischer Logik, die im Widerspruch zur nur irdisch effizienten Logik steht, etwa beim Sämannsgleichnis, bei den Arbeitern im Weinberg, bei der königlichen Hochzeit oder beim verlorenen Schaf. Der Umgang mit ihnen kann einen höheren Blickpunkt erschließen, der unser Empfinden leise verwandelt. Aber auch alle Unterweisungen in der Berg­predigt oder die Geschichten vom verlorenen Sohn oder dem barmherzigen Samariter – alles dies und auch das beispielgebende Handeln Jesu Christi selbst künden insgesamt von einer Lebensorientierung, die dem »ersterbenden Erdendasein« neues Leben und eben »Himmelskräfte« einverweben kann – vorausgesetzt es gelingt uns, etwas davon für unser eigenes Leben im Sinne von selbständig gefassten Idealen fruchtbar werden zu lassen.
Frei geübte Selbstüberwindung und Opferbereitschaft sind der Boden, auf dem diese ­Himmelsfrüchte gedeihen können. Das ist nicht einfach. Aber wer sagt denn, dass das christliche Leben in erster Linie angenehm sein soll? Christ-Werden hat auch etwas mit Schmerzen zu tun, mit Geburtsschmerzen. Wenn die Menschheit dereinst tatsächlich die Hierarchie der Freiheit und der Liebe werden soll, dann geht es um viel, ja um alles. Jeder Tag ist ein Stück des Weges auf dieses Ziel zu – mit all seinen Höhen und Tiefen. Es geht durch Freuden und Leiden. Aber: auf diesem Weg geht jemand mit uns. Tröstend und helfend. Davon spricht die Kon­firmation, wenn sie das Motiv aus der Taufe ­weiterführt und zart von den Geisteszielen des Jugendlichen spricht, der gerade das Tor in sein Erwachsenen-Leben hinein durchschreitet.