Sprachverwirrung als AufgabeRuth Ewertowski

AutorIn: Ruth Ewertowski

Man könnte sie, in Anlehnung an Lessing, eine »Erziehung des Menschengeschlechts« nennen: die Sprachverwirrung als Folge des Turmbaus zu Babel. So wie Lessing den Reinkarnationsgedanken ganz aus seiner pessimistischen Stimmung der buddhistischen Auffassung vom Leben als Leiden befreit, indem er den wiederholten Erdenleben eine große Entwicklungschance für jeden Einzelnen zuspricht, so liegt in der Vielfalt der Einzelsprachen eine Mannigfaltigkeit der Weltzugänge, die das Leben auf der Erde enorm bereichern und die Überwindung der Verstehensbarrieren zu einer menschheitlichen Aufgabe machen. In dieser Überwindung erfüllen wir unser Menschsein. Die Sprache des anderen verstehen zu lernen, könnte Inbegriff einer Selbstüberwindung sein, mit der wir aus den Grenzen der Selbstheit her­austreten.

Erst einmal aber mutet die Geschichte von der Sprachverwirrung eher wie eine strafende und zugleich prophylaktische Lahmlegung an: Ursprünglich verstand jeder jeden, denn »alle Welt« hatte »einerlei Zunge und Sprache« (1 Mose 11,1). Im Land Schinar wollte ein Volk, das hier offenbar für die ganze Menschheit steht und aus dem Osten kam,1 eine Stadt und einen Turm bauen, der bis in den Himmel reicht. Die er­klärte Absicht dabei war, sich »einen Namen« zu machen. Wenn man das nicht täte, so die Sorge, würde man in alle Länder zerstreut werden. – Das mutet seltsam an, denn »alle Welt« ist schon hier eine besondere Welt und eben nicht die ­ganze Welt. Wer sich einen Namen machen will, strebt eine Absonderung von anderen an, die diesen Namen nicht haben werden. Insofern will man wohl auch gar nicht zu »aller Welt« gehören, sondern eben etwas Besonderes sein. Und es besteht zugleich die Befürchtung, nicht vereint, sondern in alle Welt zerstreut zu werden, wenn man nicht die Kräfte auf jenes große Bauprojekt versammelt. Was aber schließlich geschieht, ist genau jene befürchtete Zerstreuung in alle Länder, gegen die man doch angehen wollte.

Der Plan misslingt. Zu diesem Misslingen ­gehört in der erzählten Geschichte schon die Tatsache, dass Gott herabsteigen muss, um zu sehen, was die Menschen da tun: So klein ist ihr groß angelegtes Bauwerk, dass Gott es aus der Himmelsferne nicht richtig sehen kann. Sein Herabsteigen ist schon fast beschämend für die Menschen, die etwas Großes zu tun meinten. Und doch sieht Gott hier die Anfänge einer ­ungehörigen Macht gegeben. Sie gründet in der gemeinsamen Sprache: »Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen« (1 Mose 11,6–8).

Dieser Eintritt in die Vielfalt der Sprachen ist zugleich der Übergang von der mythischen Urgeschichte in die Welt der Erzväter von Abraham bis Jakob. Der Name Abraham bedeutet bezeichnenderweise auch »Vater der vielen [Völker]«. Auf ihn führen sich schließlich auch drei Reli­gionen zurück.


Eine Kette von Vertreibungen – die »conditio humana«

Die Sprachverwirrung als Folge des Turmbaus führt zu einer Entmachtung des Menschen. Man versteht sich nicht mehr so ohne Weiteres. Der sprachliche Ausdruck unterscheidet sich von dem, was im Inneren erlebt, gefühlt, gedacht, gemeint wird. Verständigung wird zu einer mühsamen Angelegenheit. Man muss Verab­redungen über sprachliche Zeichen und ihre ­Bedeutung treffen. Missverständnisse sind unvermeidlich.

Was hier anklingt, ist die Vertreibung aus dem Paradies: Gott weist die Menschen in ihrem Streben nach dem Göttlichen in ihre Grenzen. Das ist beim Turmbau so wie beim Griff nach dem Apfel. Nachdem Gott gesehen hat, dass der Mensch durch das Essen vom Baum der Erkenntnis »wie unsereiner«, also selbst wie ein Gott geworden ist und weiß, was gut und böse ist, werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und ewig leben. Sie leben – aber im Schweiße ihres Angesichts, im Wissen um ihre Sterblichkeit und in den Ambivalenzen des sexuellen Begehrens.

Ähnliches geschieht auch bei der nächsten Grenzüberschreitung: dem Brudermord Kains. Unstet und flüchtig soll Kain auf der Erde sein. Der Acker, den er bebaut, soll ihm seinen Ertrag nicht geben, weshalb er immer weiterziehen muss. Er ist heimatlos, aber er soll nicht vogelfrei sein, denn er wird unter den Schutz eines göttlichen Zeichens gestellt, das dem Geist der Rache Einhalt gebietet (1 Mose 4,11–15).

Und als die Göttersöhne sich mit den Menschentöchtern mischten, weil diese ihnen so gut gefielen, dass sie sich zu Frauen nahmen, welche sie wollten, da setzt auch hier Gott den Menschen eine Grenze, in dem er ihre Lebenszeit auf höchstens 120 Jahre festlegt. Das geschieht, auch wenn hier die Grenzüberschreitung gar nicht von den Menschen ausging. Es wird aber jedes potentielle »übermenschliche« Selbstgefühl sogleich in seine Schranken gewiesen (1 Mose 6,1–4).

Radikal ist dann die Maßnahme der Sintflut. Nur ein Einziger, den Gott gerecht gefunden hat, wird zusammen mit seiner Familie und je einem Paar der Tiere die vernichtende Katastrophe überleben. So spricht Gott zu Noah: »Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde« (1 Mose 6,13). Und doch ist mit der Bewahrung des Einen auch die Grundlage für einen Neu­anfang gegeben. Als Noah nach dem Abtrocknen der Erde wieder festen Boden unter den ­Füßen hat, baut er als Erstes einen Altar und bringt Gott ein Opfer dar. Gott nimmt dieses Opfer an, und um dieses Einen willen gibt er der ganzen Menschheit eine Überlebenschance: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebet, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht« (1 Mose 8,21f).

Und so, wie Gott Kain ein Zeichen zu seinem Schutz gegeben hat, so setzt er nun ein Zeichen des Bundes mit den Menschen in die Wolken: Wenn es künftig regnet, so wird der Regenbogen Gott selbst an sein Versprechen erinnern, »dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die ­alles Fleisch verderbe« (1 Mose 9,15).

Tatsächlich ist die Antwort auf das nun noch gar nicht durchgeführte Projekt des himmel­erstürmenden Turms eine viel zurückhalten­dere, aber zugleich doch von ungeheurer Wirksamkeit. Die Menschen verlieren die gemeinsame Sprache. Die damit verbundene Entmachtung führt zu einer Verteilung der Menschen über die ganze Welt. Das im Schöpfungswort angesagte »… und füllet die Erde« (1 Mose 1,28) wird sich damit erst eigentlich erfüllen. – Mit all den Vertreibungen ist nun jeder Mensch in dem an­ge­kommen, was wir heute die »conditio humana« nennen. Sie ist die Bedingung seiner En­t­wick­lung.

Mit der Erzählung vom Turmbau und der Sprachverwirrung ist die Zeit des Mythischen beendet, und wir treten in eine neue Zeit ein, die mit ­Abraham beginnt und gewöhnlich mit dem Anfang des 2. Jahrtausends vor Christus angesetzt wird, ohne dass sich aber für den biblischen Abraham historische Zeugnisse finden lassen.


Sprache ist die Brücke zwischen uns in all unserem Getrennt-Sein

Der Eintritt in die Verschiedenheit der Sprachen geht einher mit einer Bewusstwerdung des Menschen, ebenso wie das Essen vom Baum der Erkenntnis durch das Gewahr-Werden der eigenen Nacktheit zu einer solchen führte. Das menschliche Bewusstsein inkarniert sich auf verschiedenen Ebenen. Dazu gehört die Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit wie die eines Innen­lebens, das sich sprachlich offenbaren will, dies aber nie in völliger Deckung kann. Sprache spielt zwischen dem Seelisch-Geistigen einerseits und dem Leiblichen andererseits. Wirklich sprechen kann nur der bewusste Mensch, der zu seinem Bewusstsein durch die Erfahrung seiner leiblichen Existenz gekommen ist, die ihn von anderen trennt. Das gilt auch für die Entwicklung des Kindes: Es ist unterwegs zur Sprache, wenn es beginnt, diese Zweiheit zu spüren.

In der Sprachentwicklung scheint jeder ein­zelne Mensch (Ontogenese) irgendwie die Menschheitsgeschichte (Phylogenese) neu zu durchleben. So wie dem Neugeborenen die Fähigkeit jed­wede Sprache der Welt zu erlernen in die Wiege gelegt ist, ganz gleich in welchem einzelsprach­lichen Kontext es dann seinen Weg ins Leben nimmt, so wohnt auch der Menschheit selbst ein grundsätzliches Sich-verstehen-Können inne, das aber im ganz konkreten Eintritt in die irdischen Verhältnisse verlorengeht, um erst eigentlich ­gefunden bzw. errungen zu werden.

Der Weg in ein Verstehen, dessen Selbstverständlichkeit mit der Vertreibung aus dem Paradies der Urgeschichte aufgehört hat, kann man als einen Bewusstseinsweg auffassen, auf dem der Mensch allmählich wieder aus der Verein­zelung in die Gemeinschaft findet. Sprache ist ihrem Wesen nach auf Verständigung angelegt. Sie ist die Brücke zwischen uns in all unserem ­Getrennt-Sein. Das Missverstehen, das immer auch mit ihr einhergeht, ist unsere Herausfor­de­rung. Wir überwinden uns selbst, wenn wir Ver­ständigung als Aufgabe erleben. Wenn wir uns wirklich darum bemühen, zu verstehen, was im anderen lebt, so verzichten wir auf die Selbsthaftigkeit unserer Perspektive.

Dass Sprache in ihrer Ausrichtung auf Verständigung auch eine moralische Note hat, macht sie zu einem ganz besonderen Entwicklungsträger für jeden Menschen. Mit dem bewussten Ergreifen des Sprachvermögens – und nicht zuletzt ganz konkret im Erlernen fremder Sprachen – erweitert jeder Einzelne seinen Umkreis und überwindet zugleich die Barriere seines Leibes.

Das Gegenstück zu Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist bekanntlich Pfingsten. Mit der Ausschüttung des Heiligen Geistes ­werden die, die von ihm erfüllt sind, in die Lage versetzt, sich so verständlich zu machen, als ­redeten sie in der Muttersprache derer, die sie hören. Es ist ja nicht so, dass nun alle wieder die eine Ursprache der mythischen Zeit sprechen. Vielmehr versteht jeder die Rede derer, die vom Geist erfüllt sind, als würden diese in der jeweiligen Sprache ihrer Hörer sprechen. Natürlich: das ist ein Wunder, das für Erstaunen, ja Bestürzung sorgt: »Als nun das Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eige­nen Sprache sprechen« (Apg 2,6). Um nichts Geringeres geht es: so zu sprechen, dass der andere versteht. Dazu gehört komplementär auch das Hinhören: sich so zu öffnen, dass wir den anderen verstehen.
– Das ist eine pfingstliche Gabe, aber diese Gabe ist für uns eine Auf-Gabe, und diese g­ehört in die »Erziehung des Menschengeschlechts«.
Sie ist eine christliche Aufgabe, denn man könnte es im Sinne Christi auch so sagen: Was ihr verstanden habt von einem von diesen meinen ­geringsten Brüdern, das habt ihr von mir verstanden (vgl. Mt 25,40).

 

1  In Kapitel 10 war zuvor allerdings schon von vielen Sprachen, Geschlechtern und Völkern die Rede, die alle von Noah und seinen Söhnen abstammen. Das Kapitel 11 greift mit dem Turmbau und der anschließenden Sprachverwirrung noch einmal in die unbestimmte Zeit einer geeinten Menschheit zurück.

 

Dr. Ruth Ewertowski, ­geboren 1963, Autorin und ­Redakteurin, ­Stuttgart