Unterwegs im Sprachen-Archipel

AutorIn: Evelies Schmidt

Irrtümer und eine biblisch überlieferte ­Tragödie

Ziel – endlich mal ein Wort, das mir völlig bekannt vorkommt in dem Text, an dessen Wortgeländer ich mich vorwärtshangele. Aber irgendwie … passt die mir aus der Muttersprache vertraute Bedeutung in diesem Satz doch nicht. … een simpele ziel … Was soll hier ein »simples Ziel«? Hätte ich das Wort mit seinem stimmhaften s-Laut am Anfang gesprochen gehört, wäre mir gleich eingefallen, dass es um die Seele gehen könnte, d.h. in diesem Fall wohl um ein »einfaches, ein schlichtes Gemüt«. Ich bin im ersten Augenblick auf einen der zahlreichen »falschen Freunde«1 hereingefallen, die es zwischen dem Niederländischen und dem Deutschen gibt. Gerade bei enger Verwandtschaft der Sprachen bieten sich solche Gesellen gern irreführend an.

Eigentlich gar nicht so überraschend, dieses Phä­nomen. Nähe kann eben auch zu falschen Schlussfolgerungen führen. Neigen nicht auch Menschen, die einander besonders nahestehen, häufig dazu, von einem fraglosen Einverständnis, ja Einssein mit dem anderen auszugehen – in ihren Gefühlen, ihren Äußerungen, ihrer gan­zen Weltwahrnehmung? Bis sich vielleicht eines Tages ein ganzer Graben voller Missverständnisse zeigt. »Ach, du hast das gar nicht so gemeint?« Es tut weh, zu erleben, wie eine vermeintliche Einheit verloren geht, zu erfahren, dass man nicht »eines Sinnes« ist, sondern sich um gegenseitiges Verstehen bemühen muss.
Vor Missverständnissen ist niemand gefeit, und zugleich ist Verstehen immer möglich, auch ­zwischen Sprechern sehr weit voneinander entfernter Sprachen. Die bewusste Annäherung an das Andere, das Hören und Erlernen der fremden Sprache bereiten den Weg. Denn offenbar gibt es eine höher gelegene Bedeutungsebene, die den Austausch über Sprachgrenzen hinaus ­erlaubt. Und, wie Georg Kühlewind mehrfach betont: Wir sind als Menschen zum Verstehen gestimmt.2

Wie ist es überhaupt so weit gekommen, dass sich über die ganze Welt hin bei verschiedenen Völkern sehr unterschiedliche Sprachen herausbildeten? Strukturen, eigen geprägte Insellandschaften, zwischen denen wir immer wieder selbst Brücken spannen müssen, falls wir nicht die bequemen Schnellboote einer Dolmetscherin (vielleicht auch eines digitalen Dienstes) oder die fein erprobte Fähre eines Übersetzers in Anspruch nehmen wollen.

Einst war da eine allumfassende Einheit, wird in der Genesis berichtet. »Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache«, lautet dieser Satz in der Übersetzung Martin Luthers. Die Geschichte vom Verlust dieser Einheit, »Der Turmbau zu Babel«, gehörte für mich in der Kindheit zu den erschreckendsten Berichten im Alten Testament. Ich sehe dazu noch ein Bild von ­Pieter Brueghel vor mir. Ohne Not, aus reinem Hochmut und Ehrsucht (»um sich einen Namen zu machen«), errichten die Menschen die Stadt Babel und in ihr einen Turm, der bis in den Himmel reichen soll. Eine Art zweiter Sündenfall. Denn was nun folgt – als Gottes Strafe –, ist eine weitere Vertreibung aus einem anderen ­Paradies. Dem Zustand nämlich, in dem alle ­einander ohne Weiteres verstanden und zusammen waren. Jetzt werden sie über alle Welt zerstreut, und eine Sprachverwirrung überkommt sie. Wie furchtbar ist mir das damals ­erschienen!

 

An Bord der Sprachenfähre

Aber es dauerte nicht lang, da lernte ich die Freude kennen, die es macht, über den Tellerrand der Muttersprache hinauszulangen, den Geschmack einer Fremdsprache zu kosten. Von wegen Verlust – ein unerwarteter Reichtum tat sich auf. Englisch stand am Anfang. Seinen Klang kannte ich schon – Johnny Cash, Elvis Presley und die Beatles wurden im Sender AFN gespielt. Auch die Bedeutung der Wörter love und tender und train. Offenbar eine nicht so schrecklich weit vom Deutschen entfernte Sprache. Und doch aufregend anders: die Wörter, die Aussprache, der Satzbau. Selbst lange Satzge­füge kommen noch schlank und gelenkig daher. Welcher umständliche Aufwand muss oft betrieben werden, um sie auf Deutsch wiederzugeben. (Ein englischer Text ergibt in seinem deutschen Pendant bis zu einem Drittel mehr an Umfang.) Ich mochte Englisch, aber bezaubert hat mich die Sprache nicht. Ihren unaufdringlichen, kühlen Charme, ihre großartige Offenheit und Schönheit habe ich erst viel später beim Literaturlesen entdeckt. The early bird catches the worm – nun, ich war keine Frühaufsteherin.


Französisch dagegen hat mit seinem Klang und seiner Satzmelodie augenblicklich meine Begeisterung geweckt. Es war meine erste große Sprachliebe, und sie ist niemals erloschen. Unterstützt von Sommerferienaufenthalten im Land, deren jeder mit der Entdeckung wenigstens eines Chansons verbunden war: von »Amsterdam« (Jacques Brel) über »La Bohème« (Charles Aznavour) bis zu »Le Métèque« (Georges Moustaki). Die Texte zu verstehen gelang von Mal zu Mal besser. Zum Beispiel »Nathalie« von Gilbert ­Bécaud, der 1964, zuzeiten des Kalten Krieges, eine Liebesgeschichte zwischen sich und einer Moskauer Studentin, seiner Stadtführerin, erfand. Nathalie traduisait – sie dolmetschte zwischen Französisch und Russisch. 1965 war der Chansonnier dann auf Tournee in Moskau und wurde damit auf seine Art zum Dolmetscher – übrigens: diesem Wort liegt das türkische dilmaç, Vermittler, zugrunde.

 

Wo sind die hellen Wörter geblieben?

Auf dem Roten Platz, der Place Rouge, Krásnaja Plóschtschad,3 stand ich erst viel später, als ich mich selbst verständigen konnte. Da war Russisch längst zu meiner zweiten großen Sprachliebe geworden. Im Slawistik-Studium hatte ich sie gesucht und schließlich zu ihr gefunden. Nicht so leicht wie bei Französisch, in dessen fließende, elegante, klangharmonische Bewegung ich mich, befreit vom Korsett harter deutscher Wortgrenzen, hineinlösen konnte wie bei einem inneren Tanz, und dessen Nasallaute ich liebte. Welche Kontraste dagegen in dieser ebenfalls schönen und auch melodischen russischen Sprache. Vom hellsten, jubilierenden »i« bis hinab zum tiefsten, dumpfen »o» oder »u«. Das auffäl­lige Zungen-R. Harte und ganz weiche, sogenannte »palatalisierte« Konsonanten – ungefähr so, als würde noch ein Hauch von »i« in sie hineingenommen, bevor der Vokal (stets aus der hellen Skala: »i« bis »e«) erklingt. Dazu ein ganzes Quartett von – häufig vorkommenden – Zisch- und Reibelauten: »z, tsch, sch, schtsch« (ц, ч, ш, щ). Und nicht zu vergessen der harte Reibelaut »ch« (wie in dt. »ach«). Mne chólodno – Mir ist kalt. Aber auch, auf der weichen Seite, ein stimmhaftes »s«, wie in »Sonne« und »Seele«, ­bezeichnet durch den Buchstaben »з«. Und jener Laut, den wir nur aus französischen Lehn­wörtern wie Journal kennen: »ж«. Der prinzi­piell freie Wortakzent liegt für jedes einzelne Wort fest, kann sich jedoch in Zusammenhang mit der Flexion verschieben. Rhythmik ist ein Charakteristikum dieser Sprache. Den geschmeidigen – schwer übersetzbaren – Versrhythmus eines Alexander Puschkin ermöglicht sie ebenso wie das Bodenstampfen von Tanz- oder Stiefelfüßen. Derzeit, und nun schon seit einem Jahr, spüre ich die dunkle, wilde, erschreckende Seite des Russischen im Vormarsch. Wo sind die hellen Wörter geblieben? Ljubów – Liebe, mílost – Gnade und mir – Frieden (und Welt).


An innerslawischen Sprachgrenzen

Von einer Freundin bekam ich vor vielen Jahren ein Wörterbuch Russisch-Französisch, Französisch-Russisch geschenkt, erschienen in Leipzig 1903. Um jene Jahrhundertwende blühte der sprachliche und kulturelle Austausch zwischen den Menschen im Osten (wostók) und Westen (sápad). Noch war die Revolution nicht ausgebrochen und auch nicht der Erste Weltkrieg. Es herrschte noch Frieden. Aus dem Jahr 1945, als nach zwei Weltkriegen endlich wieder Frieden war, stammt ein dickes ukrainisches Liederbuch: Lira. Narodni pisni (Die Leier. Volkslieder), erschienen in einem ukrainischen Musikverlag, gedruckt in Wien. (Dieselbe Freundin schenkte es mir.) Am 24. Februar 2022 fiel es mir wieder ein. Ich fand es sofort, versuchte – ohne Ukrainisch-Kenntnisse, vom Russischen ausgehend und mit etwas Beihilfe des Polnischen – ein paar Liedtexte zu verstehen. Gar nicht leicht, nur annähernd möglich. In einem Lied fliegen Vögelein – ptáschetschki – über Berge und Täler (ptaszki hätte es auf Polnisch geheißen; ptítschki auf Russisch). Von einem Grab am Felde, so meinte ich zu verstehen, ist in einem anderen Lied die Rede und von einem Gefährten, den der Fluss ins Jenseits getragen hat. Das Wort für Grab, mogíla, teilen sich Ukrainer und Russen einträchtig. Ach, Gräber … Ist dafür die Sprache da? Sie könnte so viele vorzeitige von ihnen verhindern.
Das aus dem Griechischen stammende Wort Harmonie gibt es auch im Russischen, wo es ­allerdings, in Ermangelung des Hauchlautes, garmónija lautet. In der Musik wird es natürlich verwendet, teilweise auch im zwischenmenschlichen Bereich. Dort viel häufiger aber ist das Wort soglásie – Einklang, wörtlich: Zusammenstimmen. Hier ist die menschliche Stimme – ­gólos – gefragt und Verständigung – soglaschénie. Auch die einst von Gorbatschow in Gang ge­setzte und international bekannt gewordene glasnost gehört in diese Wortfamilie, die im ­altkirchenslawischen glas – Stimme – ihren ­Ursprung hat. Mit Waffen haben Stimme und Wörter offenkundig nichts zu schaffen – obwohl man auch mit ihrer Hilfe »streiten«, sein Gegenüber »verletzen« und Macht gewinnen kann. Grundsätzlich eröffnet Sprache die Möglichkeit der Kommunikation, des Dialoges, in welcher Situation auch immer. Waffeneinsatz, militärischer An- und Übergriff dagegen ist jenseits von Frage und Antwort. Der Überfallene kann sich nur noch mit Waffen wehren. Vernichtung geschieht, und tiefer Hass macht sich breit, wo das Wort hätte vermitteln können.


Bellen, klingeln oder anklopfen?

Aber es ist an der Zeit, uns wieder den Sprachübergängen zuzuwenden, die einfach nur Vergnügen machen. Lachen statt Leid.
Wenn Sie zufällig demnächst in Den Haag oder Amsterdam vor einer Haustür stehen sollten und Einlass begehren, dann tun Sie getrost das, was Sie gewohnt sind: klingeln Sie – auch wenn auf dem Türschild gelieve te (bitte) bellen steht. Ein Hund wird nicht gebraucht. In diesem Fall steht das niederländische Verb einem englischen Nomen sehr viel näher, das wir aus einem Weihnachtslied wohl alle kennen.

Und noch etwas: Wer an eine Sprachentür klopft, dem wird sie sich öffnen. Ob knarrend und klemmend oder locker und leicht. Sie ist nie fest zu, nur angelehnt. Der Logos ist da. Wir können verstehen. Und wenn Sprache, wie ­Georg Kühlewind erkannt hat, »kein Zeichensystem von Dingen, Verhältnissen, Vorgängen [ist], sondern ein Zeichensystem des Verstehens«,4 dann kann sich uns mit jeder neuen Sprache, die wir lernen, ein anderer Zugang zum Wahrnehmen und Verstehen der Welt erschließen.

Das Wort »Logos« verdanken wir den Griechen der Antike, die durchaus Kriege führten, aber eben auch philosophierten und disputierten. ho lógos bedeutete für sie »Wort«, »Rede« und »Denkkraft«. Sprache und Denken stehen in ­Zusammenhang. Und das höhere Wort, das schöpferische, es war im Anfang, wie Johannes verkündet hat: en archḗ.

 

1  So die Bezeichnung in der Inter­linguistik.

2  Siehe z.B. Georg Kühlewind: Meditationen über Zen-Buddhismus, Tho­mas von Aquin und Anthroposophie, Stuttgart 22006, Kapitel I.

3  Franzosen und Russen sind sich darin einig, dass »Platz« femininen Geschlechts ist.

4  Georg Kühlewind: Der sprechende Mensch. Ein Menschenbild aufgrund des Sprachphänomens, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1991, S. 38.

 

Dr. Evelies Schmidt, geboren 1953, Lektorin, Stuttgart