Priestertum als Schwellenerlebnis Zum 50. Todestag von Friedrich Doldinger (1897–1973)
Am 2. September jährt sich zum 50. Mal der Todestag von Friedrich Doldinger, einem Gründungspriester der Christengemeinschaft 1922. Friedrich Doldinger wurde am 2.12.1897 in Radolfzell geboren, in der Nähe des unterirdischen Zusammenflusses von Rhein und Donau im Aachtopf. Die Signatur dieser nordwest-südöstlichen Kreuzung im Leben Doldingers ist bezeichnend: Sein Leben verlief immer an Schnitt- und Kreuzungspunkten, an Brennpunkten mit hohem Konfliktpotenzial und der Lösungsmöglichkeit in einer höheren Synthese. Mit dem Rhein fließt die urchristliche Strömung der iroschottischen Kirche in Doldingers Biographie ein, mit der Donau strömen vom Balkan und dem Schwarzmeerraum der manichäische Impuls der Bogomilen und die orphischen Mysterien in sein Leben und Wirken ein. Griechisches und Keltisches befruchten sich in seinem Schaffen, bedingen aber auch die voraussetzungs- und kompromisslose Freiheitseinstellung Doldingers. In der Dynamik dieser Europa vom Nordwesten nach Südosten durchschneidenden Diagonale liegt auch Doldingers Inspiration zum Schaffen im kultischen und poetischen Wort begründet. Sprachmagie der Druiden und orphische Hymnen vermählen sich zu einem persönlichen Stil, der die Fülle der an den jungen Doldinger heranbrandenden übersinnlichen Erfahrungen in Form zu gießen sucht.
Am Ufer des Bodensees, die Insel Reichenau vor Augen, öffneten sich Doldingers innere Augen schon früh für das Weben und Wirken der geistigen Welt. Was er dort erlebte, erwies sich als hochdramatisch, schicksalhaft, ganze Welten gingen auf und unter, wurden in Explosionen von Farben und Klängen neu geboren. Apokalyptisches war ihm in die Wiege gelegt. Daraus erwuchs eine prophetische Feurigkeit, die für seine Mitmenschen verletzend sein konnte. Mit dem, was in ihm brannte, konnte er andere verbrennen. Auch er selbst drohte von diesem inwendigen Feuer verzehrt zu werden. Ein Herzleiden bewahrte ihn vor dem Militärdienst, hätte seinem Leben aber auch ein frühes Ende setzen können.
Als Wanderer zwischen den Welten, als einsamer Grenzgänger erschien er seiner Umgebung. Es ist bezeichnend für ihn, wie er alles, was seine Umgebung prägte, radikal hinter sich ließ. Die katholische Kirche erschien ihm von Christus verlassen, wie eine leere Hülle, deren barocke Scheinlebendigkeit die ätherische Wirksamkeit des wiederkommenden Christus in Unmengen von Gips mumifizieren will. Davon ließ er sich nicht betören. Doch auch der abstrakte Rationalismus im Bildungswesen schreckte ihn ab. Er verließ Kirche und Schule, machte sein Abitur als Externer und meditierte auf dem Freiburger Alten Friedhof zwischen den versteinerten Engeln vergangener Zeiten. Die brennende Frage quälte ihn: Wo findet er die christliche Spiritualität der Gegenwart?
Die Antwort auf diese Schicksalsfrage fand Doldinger bei einem Vortrag Rudolf Steiners in Stuttgart 1916. Mit der ihm eigenen Konsequenz vertiefte er sich in die Grundschriften Steiners, gründete an der Freiburger Universität eine Hochschulgruppe und stellte seine philosophische Doktorarbeit auf die Grundlage der seelischen Beobachtung des Denkens. Genau hier kommt es zur Überschneidung der geistigen Welt mit dem freien selbstständigen Bewusstsein des Menschen. Steiners Philosophie der Freiheit wurde für Doldinger zum Kernimpuls seines geistigen Daseins, auch als Priester und Lenker in der Christengemeinschaft. Dies führte den jungen Philosophen zum Durchbruch zu einem zentrierten Ich-Haltepunkt im apokalyptischen Strömen der höheren Welten. Spirituelle Gesundung durch den »heilenden Geist« bahnte sich an.
Wenig später – im Chaos der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg – stellte sich die Weltenuhr auf Dreigliederungszeit. Wieder war Doldinger mittendrin. Wie vermag eine zeitgemäße soziale Gestaltung den freien Ich-bin-Impuls mit dem sozialen Organismus zu vereinen, um gleichzeitig dem Wirken der geistigen Welt durch menschliche Initiativen eine Heimat im Sozialen zu vermitteln? Doldinger begriff die soziale Dreigliederung weniger als organisatorische Aufgabe, die nach bestimmten Leitlinien in die Praxis umzusetzen sei, sondern als ganzmenschlichen Bildungsimpuls, der für Existenz und Evolution der Menschheit die unverzichtbare Voraussetzung darstellt. Das Scheitern der Dreigliederung 1920/21 versetzte Doldinger erneut in den apokalyptischen Horizont, an dem sich Katastrophen und Kriege abzeichneten. So hatte sich Doldinger auch im Sozial-Weltgeschichtlichen mit allen Seelenkräften an den Brenn- und Schnittpunkt seiner Zeit gestellt. Doch auch hier ging es Doldinger primär um das Wie, um die innere Prozessualität, die in aufeinander aufbauenden Schritten einen Weg in die Zukunft bahnen kann. Dabei sind fertige Antworten und Rezepte nur hinderlich.
Der dritte Schritt zur sozialen Wirksamkeit im Ich-Bin des Christus trat an Doldinger von außen heran. Jede Bewegung in der Philosophie der Freiheit und der Sozialen Dreigliederung war aus der Initiative Doldingers erfolgt. Dagegen ging die Initiative zur Mitwirkung an der Gründung der Christengemeinschaft von Rudolf Steiner aus. Doldinger erlebte diese Anfrage als Berufung! Und während sich Doldinger im Kreis überwiegend junger Theologen mit protestantischen Wurzeln sehr schwer tat, ging Steiner sogar noch einen Schritt weiter und empfahl den Gründern der Christengemeinschaft, Doldinger in den engeren Lenkungskreis aufzunehmen. Steiner sah in Doldinger eine Wirksamkeit im Sinn des Heiligen Geistes und des dritten Zeitalters der christlichen Entwicklung: des johanneischen Christentums. So ging es um nicht weniger als um die Verschmelzung des exoterischen und des esoterischen Christentums.
Blickt man auf das Gründungsgeschehen der Christengemeinschaft im September 1922 im Holzbau des Ersten Goetheanum zurück, erweist sich dieser lebendige Grundstein einverwoben in das Schicksal dieses modernen Tempelbaus. Menschheitsentwicklung und Christusgegenwart durchdrangen sich in zueinander hinströmenden Wellen. Dreieinhalb Monate nach der Gründung der Christengemeinschaft ging dieser Menschheitsbau in Flammen auf, ätherisiert ging er in das »Buch des Lebens« ein und umhüllte den wiederkehrenden Christus in seiner Geistgestalt. Dieser Sprung in eine höhere Dimension, der dem Lebensfeld der Erde angehört, wurde zum Leitmotiv für Doldingers Wirken. Als Imagination des »Xristus aller Erde« eröffnete Doldinger damit die erste Buchreihe im Verlag der Christengemeinschaft. Die Gründung verankerte sich eine Oktave höher im Auferstehungsreich des Christus.
Immer wieder stand Doldinger an dieser Grenze zwischen Tod und Auferstehung, zwischen Verlust im Irdisch-Physischen und Himmelfahrt ins Ätherisch-Überzeitliche. Der Tod des Geisteslehrers führte an die nächste Schnittstelle, Doldinger komponierte für Steiners Begräbnis eine »Charfreitagsmusik« für drei Violinen. Die einschneidenden Krisen in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft, aber auch der Christengemeinschaft schlossen sich an. Nach »oben« zu sterben, wurde für Doldinger immer unumgänglicher. Seine ganze Entwicklung arbeitete auf diesen Schwellengang (wie eines seiner Gemälde heißt) hin.
Gleichwertig, aber nicht gleichartig stehen Doldingers Schöpfungen in Bild, Wort und Klang nebeneinander und beleuchten sich gegenseitig. In mehr als 50 Jahren hat seine Art, sich auszudrücken, tiefgreifende Wandlungen erfahren. Höllenfahrt und Himmelfahrt folgten aufeinander. Das Aufkommen des Nationalsozialismus durchschaute Doldinger als erste Stufe in der Manifestation des Antichrist, aber zugleich auch als Schattenwurf, den das Liebes- und Freiheitslicht des ätherischen Christus in die Welt wirft. Diese Dialektik zwischen Christ und Antichrist ließ Doldinger in seinem »Wolkendurchleuchter«-Drama eine auch heute noch aktuelle Gestalt annehmen. Im Untergang Mitteleuropas 1945 erblickte er die Geburt der »Ewigen Stadt«, des Neuen Jerusalem. Zeitgeschichte und Schicksalswirken wurden ihm zur »Menschen-Weihe-Handlung«. Dabei wurde er selbst immer ätherischer, durchlässiger. Formen zerfließen zu Bewegungen, Worte zu zarten, spielerischen Andeutungen. Dissonanzen erhöhen sich zu Konsonanzen, zu Harmonien, die kontrapunktisch zusammenspielen.
Vielen Zeitgenossen entzog sich Doldinger mit dieser Entwicklung immer mehr. Er wurde als unzeitgemäßer Außenseiter angesehen. Rudolf Frieling hatte seinerzeit genauer hingesehen und in ihm den »Innenseiter« ausgemacht, der seiner Zeit voraus gewesen ist.
Worin besteht die Basis der Christengemeinschaft? Negativ formuliert besteht sie in der Abwesenheit von Dogmen, Regeln und Gesetzen. Doch für viele Menschen definiert sich die Identität einer Institution durch die Grenzen, die ihnen gezogen werden. Das Fehlen einer solchen Identität wird als Vakuum empfunden. So konnte es nicht ausbleiben, dass die Christengemeinschaft als »Anthroposophenkirche« empfunden wurde. Doldinger dagegen war geradezu ein spiritueller Hüter des absoluten inneren Freiraums. Dies führte nicht nur zu Konflikten mit Priesterkollegen, sondern stieß auch auf Unverständnis seitens mancher Gemeindemitglieder.
Wenn es aber darum geht, die Identität von Christengemeinschaft positiv zu füllen, kann Doldinger eine zukunftsweisende Inspirationsquelle sein. Im Zentrum seines Wirkens steht das Geheimnis der Substanzbildung. Diese geschieht in Schwellensituationen, in Grenzüberschreitungen, in Berührungen und Begegnungen. Dabei bleibt es nicht bei Tasterfahrungen, bei denen Auge und Ohr noch verschleiert sind. Bei Doldinger hebt sich dieser Schleier, Augen und Ohren öffnen sich. Ein »Goetheanismus« der Christuserfahrung baut sich darin auf. Worte und Klänge ertönen, die Verbindlichkeit mit Offenheit paaren. Dazwischen liegen Pausen, die noch wesentlicher als das Wesentlichste sind:
Achte der Pausen, der kleinen,
die unversehens das Schicksal
oft dir gewähret! Es kommt
einst auch der Kommende so!
Spendenaufruf
Im Verlag des Ita-Wegman-Instituts wird der Druck eines umfangreichen Bildbands Friedrich Doldinger. Der Christus-Maler vorbereitet. Für die Druckkosten werden noch Sponsoren gesucht! Interessenten wenden sich bitte an den Autor dieses Artikels: gubznf-arff@jro.qred.bew@ssen-samoht
Thomas Neß, geb. 1965, Philosoph und Heilpraktiker, Dresden