Sich zum Feindlichen leicht hinüberlehnen ...
Ulrich Meier | Ich wünsche mir heute ein widerständiges Gespräch mit dir, denn das Thema des Heftes ist »Feindschaft und Feindesliebe – Was verbindet uns?« Beim Finden des Themas dachte ich an eines unserer Beziehungskunst-Seminare über das Thema »Trennung«. Du hast uns damals einen Gedanken geschenkt: Manchmal kann man sich von der Trennung nicht trennen. Was stand dir dabei vor Augen?
Claudine Nierth | Ja, ich erinnere mich. Das Thema ist heute noch viel aktueller, es geht so oft um Spaltung, um das Trennen und Auseinanderdividieren. Die schmerzlichste Erfahrung, die wir in unseren Konflikten mit anderen Menschen machen können, ist die Erkenntnis: Du bist nicht ich. Und solange du nicht (wie) ich bist, trenne ich mich. Dann versuchen wir uns zu trennen, und merken plötzlich, wie sehr der andere doch ich ist. Und dann kommen wir mit der Trennung nicht durch. Dahinter steckt aber die andere Frage: Warum trennen wir uns heute eigentlich so viel? Ich erlebe es in der Politik, ich erlebe es in den Beziehungen im Privaten, aber auch im Beruflichen. Ich sage dann: Leute, trennen geht immer! Aber wirklich bleiben, das ist die Herausforderung.
Ulrich Meier | Ist das unsere Angst vor Feindschaft, die uns so in die Flucht treibt?
Claudine Nierth | Das ist eine gute Frage, ob es die Angst vor Feindschaft und vor dem Verlust der eigenen Identität ist oder ob es der fehlende Mut ist, aufeinander zuzugehen. Die Spaltung, die wir draußen erleben, findet ja eigentlich nur in uns statt. Es spaltet sich nichts von uns ab, nichts in der Welt. Beobachte dich mal: Wann du etwas hörst oder siehst, wie du dich innerlich distanzierst, dich zurückziehst: Wie schnell stoßen wir andere ab? Wir wen-
den uns ab und möchten nicht mehr mit dem anderen an einem Tisch oder im gemeinsamen Raum sitzen. Wir verbannen Menschen aus unserem Freundeskreis und aus der Gesellschaft. Wir spalten! Und zwar täglich. Und die Spaltung beginnt in uns, nirgendwo sonst. Wir können Meinungen und Positionen verachten, aber nicht Menschen.
Ulrich Meier | Was bedeutet das?
Claudine Nierth | Da ich viel mit Demokratie und Politik zu tun habe, suche ich nach einem neuen Begriff, nach einer Demokratie der Zuneigung. Das heißt: Demjenigen, den ich am allermeisten meiden will, den ich nicht angucken will, dem ich nicht zuhören will, zugewandt bleiben. Einfach dableiben und nicht ausweichen. Das ist der erste Schritt. Und dann zu spüren: Was heißt es denn, wenn ich mich jetzt mal ganz leicht hinüberlehne? Das ist nur eine innere Geste. Dem Feind, dem ich nicht in die Augen blicken will, mit dem ich am wenigsten zu tun haben will, dem neige ich mich ein bisschen zu. Das verändert das System komplett. Ich glaube, so ein feines Hin-Neigen ist ein soziales Prinzip, das auch unsere Haltung bei Kriegen umfassen könnte. Wo Kriege entstehen, da möchtest du zunächst mit dem Feind nicht in einem Raum sein. Der Feind hat Schlimmes getan und du fühlst dich im Recht – klar, das ist der Ausdruck der Feindschaft, des Konfliktes. Wenn du jetzt aber sagst: »Ich bleibe!« – und nur einer neigt sich ein bisschen zu, nur innerlich, verändert sich alles. Jeder möge hier seine eigene Erfahrung machen. Mir persönlich gelingt es am ehesten, wenn um mich herum eine Gemeinschaft, ein Kreis ist, der das mitkriegt. Dann merke ich: Ich muss nicht flüchten und allen zeigen, dass ich mit dem Feind nichts zu tun haben will. Aber ich habe eine Chance, zu sagen: »Momentan stößt mich alles von dir weg, aber ich neige mich dir zu.«
Ulrich Meier | Ist nicht das meiste, was Spaltung ausmacht, eine nicht losgelassene Trennung? Dass wir uns zurückziehen, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben wollen. Dabei ignorieren wir aber, dass uns der Konflikt, diese Befremdung, zutiefst verbindet. Für mich ist das Sich-Zuneigen, von dem du gerade sprichst, eine Art symbolische Handlung. Denn man hat es gerade nicht im Kopf, aber doch im Leib: dass wir miteinander etwas zu tun haben.
Claudine Nierth | Ich sehe zum Beispiel das in feindlicher Trennung befindliche Elternpaar vor mir, das dem ganzen Umfeld zeigt, wie mächtig es sich getrennt hat, sich aber kalt und feindselig jedes Wochenende an der Türklinke die Kinder übergibt. Das ist die Trennung, die sich nicht von der Trennung trennen kann. Solange auf diese Weise die Trennung aufrechterhalten wird, kann sie sich nicht vollziehen. Die beiden Partner halten damit aktiv am Schmerz fest, den sie sich immer wieder gegenseitig zeigen müssen. Damit manifestieren sie genau das, was sie überwinden wollen. Beziehung will fließen und sich verändern, nie stocken. Aber wenn du den Fluss hinderst, indem du Staudämme baust, erzeugst du einen immensen Druck. Genau darunter leiden Paare und vor allem Kinder: der Dauerdruck. Im Grunde ein Ausdruck von Trauma. Was meint: Eine Erfahrung in der Vergangenheit, die unverarbeitet bleibt und ihren Schatten ständig auf die Zukunft wirft.
Ulrich Meier | Kann man das auch auf die politische Ebene übertragen?
Claudine Nierth | Im Prinzip ja. Nehmen wir ruhig die große Dimension dazu: Rüdiger von Fritsch, von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau, hat zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine darauf hingewiesen, dass es auch nationale und kollektive Traumata gibt, die zu Kriegen führen. In diesem Fall bildlich gesprochen sogar eine »Trennung«, von der sich Russland nicht trennen will. Unverarbeitete traumatische Erfahrungen, also Erlebnisse, die nicht vom Bewusstsein durchdrungen und verdaut wurden, kennen wir als (emotionale) Blockaden. Diese haben ein erstaunliches Trigger-Potenzial und neigen dazu, uns in endlose Wiederholungsmuster zu verwickeln. Fast alle Konflikte und Probleme, die sich in unseren Biographien wiederholen, haben ihre Ursachen in unverdauter Vergangenheit. Das ist die »Doppelgängerstruktur« des Ich. Den Konflikt mit seinen tiefen Emotionen erlebst du immer wieder, als würdest du eine Zeitreise in die Vergangenheit machen. Etwas hält dich fest, sodass du in der jetzigen Situation mit einem unangemessenen alten Muster reagierst, meistens überreagierst, und damit die Zukunft ausschließt. Um aber bei unserem Paar-Beispiel zu bleiben: Wir können uns von der Trennung nur trennen, wenn wir die Trennung annehmen, uns ihr also zuneigen. Wir können uns erst dann trennen, wenn wir eine Beziehung zur Trennung haben. An diesem Punkt kommt Bewegung in die Stauung, es kommt wieder etwas ins Fließen. Darin sind unsere »Doppelgänger« wirksam, die abgespaltenen Anteile, die wir mit unserem Ich nicht durchdringen. Solange wir das nicht können, bleibt es ein gestauter Schatten, von dem wir uns nicht trennen.
Ulrich Meier | Mein Wunsch war ja, mit dir auch über Feindesliebe zu sprechen. Der Begriff klingt heute nach Überforderung, nach abgehobener Romantik: Ich sollte da etwas können, was ich überhaupt nicht können will. Es ist doch schon viel geleistet, wenn ich meine Feinde nicht hasse, nun soll ich sie auch noch lieben? Frage an dich: Was macht meinen Feind liebenswert?
Claudine Nierth | Das ist die große Frage: Was liebe ich, wenn ich liebe? Was scheint durch das Antlitz des Gegenübers hindurch, das mein Interesse weckt, das ich lieben kann? Ich glaube, in jedem Menschen brennt ein Licht, wie man so schön sagt, aber was davon scheint auch wirklich durch sein Antlitz hindurch? Du kannst dunkle Wolken vor deinem Antlitz haben und trotzdem gibt es dahinter ein Licht. Ich spreche ja viel mit Politikern, also auch mit Menschen, deren Position ich nicht gut finde oder die ich nicht wählen würde. Ich könnte mich also völlig darauf versteifen, was diese Person jeweils alles nicht ist. Stattdessen versuche ich aber herauszufinden, was die Person noch ist. Das ist keine leichte Übung. Ich meine, stell dir mal Donald Trump vor und versuche hinter all den dunklen Wolken die dich vielleicht von ihm abstoßen, das zu finden, was Licht ist. Wo schimmert mir bei diesem Menschen das Menschliche, das Lichtvolle oder vielleicht sogar das Liebenswerte entgegen? Haha, verdammt schwer, oder? Ich meine, du hast mich nach Feindesliebe gefragt, also wo ist Schlüssel zu ihr? Das ist für mich auch etwas tief Christliches. Was uns alle miteinander verbindet, ist das menschliche Licht des Ich. Ich glaube, dass das, was uns alle miteinander verbindet, so viel größer ist als das, was uns voneinander trennt. Feindesliebe bedeutet für mich, mir meines Verhältnisses zum Feind bewusst zu werden und dadurch in Beziehung zu ihm zu gehen. Und das heißt nicht, sich gemein mit ihm und seinen Absichten zu machen! Im Gegenteil. Der Feind zeigt mir erst einmal etwas über mich selbst, nämlich wo ich stehe, was ich denke und fühle. Es gibt Feindesliebe, die mich konkret herausgefordert hat. Am 13. März 2022, drei Wochen nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine gab es überall riesengroße Friedensdemos. Ich bekam die Gelegenheit, in Berlin an der Siegessäule vor 60.000 Menschen fünf Minuten zu sprechen. Ich habe den ganzen Tag zuvor überlegt: Was kann, soll oder muss ich unbedingt sagen? Ich habe Papiere gewälzt, Zeitungen gelesen, wichtige Zitate gesucht. Irgendwann gab ich auf, habe die Augen geschlossen und mich gefragt: Was willst du der Welt eigentlich sagen? In diesem Moment habe ich eine sehr starke Verbindung zu allen Frauen auf dieser Welt erlebt. Aber vor allem eine Verbindung zu den ukrainischen Müttern und zu den russischen Müttern. Mir wurde klar: Jede Mutter bangt um ihre Söhne und um ihre Väter. Uns Frauen liegt das Kriegerische, glaube ich, ziemlich fern. Aus diesem Gefühl der weiblichen Verbundenheit mit den Frauen in der Ukraine und in Russland, aber auch mit den Frauen in der ganzen Welt begann ich zu fragen: Was ist eigentlich unser weiblicher Beitrag, der friedensstiftend ist? Und aus dieser Verbindung heraus habe ich dann zu allen Frauen dieser Welt gesprochen. Das ergab für mich das Bild: Wenn ich Staatsfrau wäre, würde ich alles versuchen, um die gesamte Weltgemeinschaft zusammenzubringen, damit der Konflikt innerhalb der Weltgemeinschaft befriedet werden kann. Nicht mit der Frage: Was war in der Vergangenheit? Was hast du mir angetan? Was habe ich dir angetan? Sondern mit dem Blick: Wer bist denn du, in dieser Weltgemeinschaft und wer bin denn ich? Was ist denn überhaupt deine und meine Rolle? Und was könnten wir in der Zukunft eigentlich gemeinsam wollen oder auch nicht wollen? Weltgemeinschaft heißt für mich eben: Jenseits aller Gräben im Schulterschluss mit allen Nationen, mit der Vielfalt aller Länder gemeinsam die Zukunft der Menschheit gestalten. Ich glaube, die Zukunft der Welt ist nur gesichert, wenn wir begreifen, dass jeder Teilnehmer auf dieser Welt etwas beizutragen hat, ohne das es nicht geht. Erst der Schulterschluss in der Vielfalt ermöglicht uns die Zukunft auf diesem Planeten. Unser aller Füße stehen auf derselben Erde! Das ist das Mindeste, das uns verbindet. Feindschaft zu überwinden oder zumindest anders mit ihr umzugehen, gelingt, wenn wir merken, dass die erlebten Gemeinsamkeiten viel größer als das sind, was uns trennt. Wie anfangs gesagt: Trennung geht immer. Was ist das Gemeinsame zwischen den Nationen? Und ist es nicht gerade das Unterschiedliche, die Vielfalt, die unser Überleben sichert? In solchen konkreten Fragen lebt bereits die Feindesliebe.
Ulrich Meier | Noch einmal nachgefragt: Wo bewegt sich etwas mit jemandem, mit dem ich mich ganz konträr fühle? Meine These: Ich muss Abstand zu ihm gewinnen, damit ich ihn gelten lassen kann, ich muss ein Stück zurückgehen. Und dann lehne ich mich innerlich ein Stück zurück und es wird im Abstandnehmen schon wärmer. Ich bin ihm nicht mehr so nah, dass wir Begegnung vermeiden müssen.
Claudine Nierth | Hochinteressant! Du sagst: »Dann lehne ich mich innerlich zurück«, weil du vorher in entgegengesetzter Richtung zu nah warst? Du änderst die Bewegungsrichtung! Das war eine Ich-Bewegung. Ich glaube, es geht darum, dass du die Richtung änderst in dem Geschehen, und in dem Moment passiert etwas. Das ist so etwas wie Weltrevolution: Du änderst die Richtung und es kommt Raum, etwas Freies herein. Die Richtung ändern zu können, heißt Freiraum schaffen können! Und das ist etwas, was Begegnung erst möglich macht.
Ulrich Meier | Ich lasse ab, etwas zu fordern; ich lasse ab, dich anders haben zu wollen, als du bist. Das war für mich dieses Zurücklehnen. Das war dieses Loslassen, das wir vorhin zu fassen hatten: Man kann sich von der Trennung nicht trennen. Sich von der Trennung zu trennen kann aber auch heißen: Ich mache diesen kleinen Schritt zurück und kann dann anders auf den anderen schauen.
Claudine Nierth | Und was ist das in dir, was den anderen anders haben will?
Ulrich Meier | Nach unserem Gespräch jetzt würde ich sagen: Das Anders-haben-Wollen galt eigentlich mir. Das Problem war ich, auch das vermeintliche Problem des anderen.
Claudine Nierth | Das ist spannend!
Ulrich Meier | Ich habe mich in dem anderen so sehen wollen, wie ich selbst nicht war, aber wie ich sein wollte.
Claudine Nierth | Das kann man auch bei der Paarberatung erleben. Sie erzählen, wie furchtbar der andere ist, aber in dem Moment entsteht vor allem nicht ein Bild des anderen, sondern desjenigen, der spricht. Das Interessante: Warum regt ihn das so unglaublich am anderen auf?! Sich damit auseinanderzusetzen, ist ein Schlüssel. »Dann lehne ich mich zurück, dann lasse ich den anderen …« Das ist bereits die Veränderung.
Ulrich Meier | Ich komme zum Schluss noch einmal zurück zum Anfang, weil ich dir sehr dankbar dafür bin, dass du das so deutlich gemacht hast: Zu der sichtbaren Bewegung des Loslassens gehört die andere, meist unsichtbare, interessevolle kleine Bewegung zum anderen hin dazu. Sie ist wahrscheinlich auch meinem Zurücklehnen vorausgegangen oder sie verlief parallel dazu, aber unsichtbar. Etwas in mir wollte diese Beziehung neu und wollte sich nicht weiter eingraben in das Spaltende oder Trennende.
Claudine Nierth | Ich finde das spannend, denn du hast die Geste des Zurücklehnens eingebracht, und ich bin mit der Geste des Zuneigens gekommen. Wir haben, glaube ich, dieselbe Qualität im Blick: Das Befreiende in dem Konflikt, in der Trennung und in der Liebe zu dem, was anders ist als ich und trotzdem ein Ich ist.
Ulrich Meier | Vielen Dank, ein schönes Schlusswort!
Claudine Nierth, geboren 1967, Facilitatorin, Künstlerin, Politaktivistin, Raa-Besenbek