Verlieren und Wiederfinden des Heiligen
Ein Siebtklässler, schwarz gekleidet und mit herausforderndem Blick, fragte mich neulich im Religionsunterricht: »Wieso müssen die Menschen einen Gott erfinden, wenn sie für etwas keine Erklärung haben?« Nachdem er sich in die dunkle Seite der Kirchengeschichte vertieft hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass die Menschen ohne Religion besser dran wären und dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Naturwissenschaft alles erklären könne.
Szenenwechsel: Ein Junge im Kindergartenalter wird abends ins Bett gebracht. Nach dem Gebet folgt wie gewohnt das Schutzengel-Lied, bei dem die Mutter zu dem Bild über dem Kinderbett aufschaut. Da blickt der Kleine seine Mutter verwundert an und fragt: »Wieso guckst du immer da hin? So sieht mein Engel gar nicht aus!«
Ein anderes Kleinkind ist im Garten versunken in den Anblick eines Gänseblümchens und fragt den Vater, wer die Blume gemacht habe und woher der Baum und die Kieselsteine kämen. Und nach der tastenden Erklärung ist dem Kind vollkommen klar, dass die kleine Gießkanne nicht aus diesem Bereich des Heilig-Lebendigen stammt, nicht vom lieben Gott erschaffen wurde …
In der Kindheit ist offenbar noch etwas vorhanden, was im Heranwachsen durch Enttäuschungen verlorengeht: jene vertrauensvolle Glaubenssicherheit, die uns schützend umhüllt. Wir treten in der Jugend ein in eine Welt der Fragen und Zweifel, die sich kalt anfühlen kann und in der wir auf uns selbst gestellt sind.
Die Geschichte der Menschheit scheint einen ähnlichen Gang zu nehmen: Im Mittelalter erlebte der Mensch die Mitwelt noch als beseelt und von göttlichen Kräften erfüllt. Er fühlte sich mit seinem geozentrischen Weltbild umhüllt vom schützenden Kosmos mit seinen Sphären: der Planetensphäre, dem Tierkreis, den Engelhierarchien und der göttlichen Trinität, die alles trug, ordnete und heilte. Und in der Tiefe der Erde drohte als Gegengewicht die Hölle mit dem Fegefeuer. Es gab klare Regeln, wie diese Gefahr gebannt werden könne und was für die Erlösung der Seele zu tun sei. Doch die Geborgenheit in dieser Glaubenssicherheit ging auf Kosten der Freiheit. Wer dieses Weltbild in Frage stellte, wurde als Ketzer verbrannt.
Dann dämmerte, angestoßen von Wissenschaftlern wie Nikolaus Kopernikus, eine neue Zeit. Die Erde begann sich um die Sonne zu drehen und der Mensch bewegte sich hüllenlos durch den kalten, leeren Weltraum. Die Ehrfurcht vor der Erde als lebendigem Wesen ging verloren, als man sie als Globus von außen betrachten konnte. Sie wurde zum gewinnbringenden Objekt, das benutzt und ausgebeutet wird!
Stefan Ruf stellt in seinem lesenswerten Buch Klimapsychologie diese Entwicklung ausführlich dar, und er fragt, ob wir nicht heute ein neues, atmosphärisches Bewusstsein ausbilden müssten. Denn der Klimawandel lasse sich nicht allein durch Wissen und Verbote aufhalten, sondern es brauche ein neues Mitfühlen, um anders zu handeln und der Krise begegnen zu können.
Das Auseinanderklaffen von dem, was wir erkannt haben, und dem, was wir tun, ist erschreckend. Solange ich nur eine Grafik zum Klimawandel sehe oder beunruhigende Nachrichten höre, schafft mein Verstand es erstaunlich gut, das Problem von mir abzuspalten und beschwichtigende Erklärungen zu finden: Wer eigentlich an der Krise schuld ist; dass ich ja sowieso nichts tun kann; dass ich ja bereits dieses und jenes tue, das eigentlich Erforderliche aber meine Möglichkeiten (oder meine Bequemlichkeit) übersteigt usw.
Vermutlich treten so viele Jugendliche deutlich konsequenter auf in Fragen des ökologischen Lebenswandels, weil sie sehr deutlich fühlen, was wir der Atmosphäre, den Tieren, den Pflanzen, der Erde antun. Es scheint zum Erwachsenwerden dazu zu gehören, diese Stimme des Mitgefühls pragmatischen Gesichtspunkten zu opfern. Die Ideale der Jugend halten der Lebensrealität, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen oft nicht stand.
Auch die amerikanische Soziologin Eileen Crist (Schöpfung ohne Krone) sucht nach einem Weg, wie wir ein Leben in Einklang mit dem Planeten wiederfinden können. Sie beschreibt, wie die Natur um das Jahr 1700 zum materiellen, seelenlosen Objekt erklärt wurde, über das der Mensch als Krone der Schöpfung herrschen darf, da in einer zunehmend mechanisch verstandenen Welt Moralvorstellungen an Bedeutung verlieren.
Andererseits gibt es auch heute noch indigene Stämme, welche die Natur nicht nur als lebendig, sondern sogar als heilig betrachten. Und hier kommen wir offenbar zu einer großen Schwierigkeit der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft. Denn das Wort »heilig« ist einerseits durch den Machtanspruch der Kirche und ihr dramatisches Fehlverhalten über Jahrhunderte verdächtig und andererseits durch den nüchtern-objektiven Blick der modernen Wissenschaft dem heutigen Menschen obsolet geworden.
Der biblische Auftrag, der Mensch solle sich die Schöpfung untertan machen, er solle die Krone der Schöpfung sein, hat im Laufe der Menschheitsgeschichte zu unendlich viel Unheil und Leid geführt. Es werden sogar Stimmen laut, die behaupten, es würde der Erde besser gehen ohne den Menschen – auf jeden Fall besser ohne Religion.
In dieser Radikalität kann ich da nicht mitgehen. Es scheint mir, als sollte mit der nötigen Reformation das Heilige gleich mit abgeschafft werden. Denn der Mensch ist geschaffen zum Bilde Gottes, zur Krone der Schöpfung. Aber vielleicht sind wir dem gleichen Missverständnis erlegen wie die Zeitgenossen Jesu, die sich einen König als machtvollen Herrscher vorstellten und daher nicht wahrnehmen konnten, dass der Gottessohn sich vor den Menschen niederkniete und ihnen die Füße wusch. Die nicht hören wollten, dass Jesus Christus davon sprach, einer möge den anderen höher achten als sich selbst. Und die nicht erkannten, dass er zum Lehrer der Menschenliebe wurde und Demut und Hingabe vorlebte.
Mit der Himmelfahrt veranschaulichte der Auferstandene uns Menschen, wie der Gang zum Vater und das Aufsteigen in den Himmelsraum zwei Beschreibungen der gleichen Wahrheit sind. Das Göttliche wurde groß und weit, erhob sich in das Wolkensein, in den Zwischenraum. Christus ermöglichte dadurch ein neues atmosphärisches Bewusstsein, durch das wir uns nicht mehr überheblich abzukapseln brauchen, sondern allen Wesen mit Liebe begegnen können, weil wir alle verbunden sind.
Manchmal begegnen mir Menschen, die in einem langen Leben viele bedeutende Schriften gelesen und viele Vorträge gehört haben. Sie wissen sehr viel über die geistige Welt und über Christus. Aber dann taucht in einem Gespräch plötzlich die bange Frage auf: »Ist Christus nur eine Idee, die mir hilft, ein moralisch gutes Leben zu führen? Ich kann all diese Gedanken denken, aber sie bleiben im Kopf, erreichen mein Herz nicht, fühlen sich unwirklich an …«
In der Priesterweihe wird davon gesprochen, wie wichtig es ist, das Göttliche nicht nur zu denken, sondern es auch zu fühlen und zu wollen! Religion ist eben keine Wissenschaft, sondern gelebte und tief empfundene Ehrfurcht vor dem Höheren, Unergründlichen, Lebenspendenden, aus dem wir alle hervorgegangen sind und in das wir alle zurückkehren. Und das umschließt auch die Erde als lebendiges Wesen in all ihrer Heiligkeit.
Tabea Hattenhauer, geboren 1975, Priesterin, Hamburg