Ein himmlisches Jerusalem in irdischem Maß | Romanik erspüren
Prähistorischer Vorspann
Hat nicht alle Kultur im Religiösen, Rituellen, Sakralen ihren Ursprung genommen? In der Hinwendung zu einer höheren Sphäre, abseits der täglichen Notwendigkeiten des Lebens?
Jene Menschen, die beginnend vor mehr als 30.000 Jahren an den Wänden der Chauvet-Höhle (Ardèche, Südfrankreich) vollkommene Felsmalereien schufen, haben nachweislich nicht in dieser Höhle gelebt. Es war für sie ein Heiligtum, ein von der Erde geschenkter Raum für rituelle Zusammenkünfte. Ja, das Malen dieser Tiere muss selbst etwas Kultisches gewesen sein. Denn wie lebensnah und in manchem Detail realistisch der ihrer damaligen Umwelt entsprechende Tierkosmos auch wirkt – als dessen eigenmächtige Darsteller werden sie sich kaum gefühlt haben, vielmehr geführt durch eine spirituelle Kraft. Von der Art ihrer Religiosität können wir mit heutigem Bewusstsein kaum etwas erahnen. Doch eines lässt sich sicher sagen: Tiere massenhaft auszubeuten hätte sie nicht erlaubt. Zu den Tierwesen blickte man auf. Wer die minutiös nachgeschaffene Chauvet-Höhle (Chauvet 2) betritt, mag sie vor allem als einen faszinierenden Kunstraum unvorstellbar ferner Zeiten erleben. Den sakralen Charakter haben offenbar die Entdecker und Erforscher der Höhle stark gespürt – im Zusammenwirken der Zeichnungen mit dem Raum.
Raumgestaltung aus christlichem Glauben
Südöstlich von den Schluchten der Ardèche, kaum 140 Kilometer entfernt, liegen zwei der schönsten romanischen Klöster der Provence: Sénanque (nahe Gordes, Dpt. Vaucluse; gegründet 1148, geweiht 1178) und Silvacane (im Tal der Durance; gegründet 1144, erbaut zwischen 1175 u. 1230). Ungefähr noch einmal die gleiche Distanz in südöstlicher Richtung trennt sie von dem dritten und ältesten dieser Zisterzienserklöster: Le Thoronet (Dpt. Var; 1136 gegründet, erbaut 1160–80), das wohl am tiefsten beeindruckt.
Wir machen einen Zeitsprung in das 11./12. Jahrhundert n. Chr., eine Epoche, in der eine eigenständige christliche Baukunst ausgeformt wurde. Wie die Kirchen vorangehender Jahrhunderte fußt sie auf Grundformen der römischen Architektur (Basilika bzw. Zentralbau, Rundbögen, Säulengestaltung). Doch nun tritt – mit einzelnen integrierten Reminiszenzen an das antike wie auch byzantinische Erbe – ein eigener Stil zutage. Nach meinem persönlichen Empfinden ist in den romanischen Kirchen- und Klosterbauten eine christliche Essenz früherer Zeit zu spüren, die uns auch heute noch (oder wieder) etwas sagen kann. Was für ein Glaubensgeist spricht sich in dieser Art von Architektur aus? Was ist erlebbar, wenn wir uns in diesen Räumen, insbesondere in den von Zisterziensern erbauten und gestalteten, bewegen?– Hier ein Versuch: Voranschreiten auf einem Weg zum Höchsten und Innersten, Orientierung, Sammlung, Andacht, Spüren der eigenen Schritte, Selbstbesinnung, schützende Umhüllung wie auch Überwölbung des Menschenmaßes, hoffnungsvolle Lichthelle im dominierenden Raumdunkel durch wenige, signifikant angeordnete Fenster, Perspektiven, Durchblicke, stimmige Proportionen, Klarheit, Schönheit des Mauerwerks, Klangraum – die Augen, von kaum einem ornamentalen Detail abgelenkt, vernehmen die Harmonie der Bauformen. Stein und Licht und Wölbung. Stille. Besinnung. Meditation.
Innere Mitte und äußerer Raum
»Was ist Gott?«, fragt Bernhard von Clairvaux und erklärt: »Er ist zugleich Länge, Breite, Höhe und Tiefe. Diese vier göttlichen Eigenschaften sind Gegenstand unendlich vieler Betrachtungen.« Deutet der räumliche Charakter dieser Bestimmung vielleicht auch auf eine Orientierung für mögliche Bauformen und deren Proportionen hin? Schon in der alten Kirche waren Kirchenbauten als Abbild des himmlischen Jerusalem gesehen worden. Bernhard hat das von ihm 1115 gegründete Kloster Clairvaux (erster Bau errichtet zwischen 1135 und 1145) als »Jerusalem« bezeichnet. Dies sicherlich nicht zuletzt, weil sich die Mönche durch innere Hingabe ganz dem himmlischen Jerusalem verbanden. Der romanische Klosterbau konnte dabei die Empfindung stärken, dass Gott im Innern waltet, als höhere tragende Kraft und Hoffnung gebendes Ziel menschlicher Wege.
Doch nicht alle Romanik ist von der Formstrenge, die allein den Bau, den Raum als christlichen sprechen lässt. Das ist ein Signum der Zisterzienser.
Es gibt wunderbare romanische Wandmalereien. Diejenigen in St. Georg auf der Reichenau zum Beispiel, aus dem letzten Viertel des 10. Jahrhunderts, also noch ottonisch geprägt, zählen zu den frühesten. Etwas Urbildliches geht von diesen Darstellungen aus. Und auffallend ist, dass sie bevorzugt die Wunderheilungen Jesu zeigen – selten die Stationen seines Leidensweges und seinen Kreuzestod –, und den Christus der Offenbarung, einen thronenden Christus im Zentrum des Kosmos. Beim Durchblättern eines Bildbandes über romanische Wandmalerei wurde mein Blick von einem Fresko besonders angezogen: »Christus im Himmlischen Jerusalem« (San Pietro al Monte bei Civate, Lombardei, 11. Jh.) [Abb. 1]. Spontan stellte sich das Empfinden jener Geistigkeit wieder ein, die sich mir wenige Monate zuvor in den drei Zisterzienserklöstern der Provence durch den Raum mitgeteilt hatte. Worin gründet dieser Zusammenhang?
Die Christusgestalt in San Pietro nimmt die Mitte einer quadratischen Fläche ein, die von den in Rundbögen platzierten Büsten der zwölf Stämme Israels eingerahmt ist. Sie schließt an den im 5. Jahrhundert eingeführten Typus der Maiestas Domini an und unterscheidet sich doch deutlich von ihm. Christus hat hier keinerlei Züge eines äußeren, weltlichen Herrschers, die den Bildern aus karolingischer und ottonischer Zeit oder auch dem byzantinischen Umkreis oft noch anhaften. Seine Augen sind geschlossen, er sitzt auf einer angedeuteten runden Fläche (nicht auf einem Thron), und der Stab in seiner Hand ähnelt dem eines Hirten. Er ist eine ruhige, starke, gesammelte göttliche Mitte, deren Anblick im Menschen erlösend wirkt und die Zuversicht wecken mag, ein solches Zentrum in sich selbst finden zu können. Christus im Himmel, umgeben von paradiesischen Pflanzen. Einzig das seinem Gewand eingeschriebene Symbol des Lammes weist auf seinen Opfertod.
Das Quadrat als Zentrum der Klausur und Maßeinheit des Kirchenbaus
In den Klöstern bildete der Kreuzgang um den Innengarten die räumliche und spirituelle Mitte der Gesamtanlage [Abb. 2]. Idealerweise war er quadratisch, wie schon der älteste Klosterplan von St. Gallen (um 825) zeigt. Mit dem Paradiesgarten brachte man diesen allerinnersten Raum der Klausur in Verbindung, oder auch mit dem »neuen«, dem »himmlischen« Jerusalem der Offenbarung. Das Quadrat ist auch ein Grundmaß romanischer Kirchenarchitektur. Das Vierungsquadrat aus Querschiff und Mittelschiff wurde als Maßeinheit genommen, die, vervielfacht in die vier Himmelsrichtungen geschlagen, Länge und Breite des Hauptschiffs bestimmte, die Größe des Chors sowie Länge und Breite des Querhauses. Es legte auch das Maß für alle Joche fest. Halbiert oder geviertelt ergaben sich daraus die Abmessungen für Seitenschiffe, den Chorumgang usw. Solche klare geometrische Proportion mit ihren geistigen Bezügen verleiht dem Raum eine Wirkung, die sich im Gehen und Schauen erleben lässt – und im Hören: die Klosterkirche von Le Thoronet hat eine außergewöhnliche Akustik.
»Der stille Gott stillt alles«
In den Zisterzienserklöstern ist der Säulenschmuck auf wenige Blattmotive beschränkt. Insgesamt gesehen aber ist gerade die reiche Skulpturenkunst an Kapitellen und Tympana, gearbeitet im Halb- oder Hochrelief, ein Charakteristikum der Romanik. Wie wunderbar ist z.B. die Gestaltung biblischer Motive an den Kapitellen von St. Trophime (Arles) oder in den Kirchen Burgunds. Und werden einzelne Szenen der Leidensgeschichte Jesu gezeigt, so liegt der Akzent doch auf der Erlösung. Romanische Kruzifixe zeigen Christus eher aufrecht, in ruhiger Haltung am Kreuz, mit Krone (statt Dornenkrone) oder Aureole, als Sieger über den Tod, nicht als »Schmerzensmann«. Das alttestamentliche Motiv von Daniel in der Löwengrube – auch ein Sinnbild der Auferstehung Christi – findet sich öfter dargestellt. Ungebeugt und von der Mitte aus gehalten, so sehen wir diesen Menschen in der Situation höchster Gefahr zwischen zwei Löwen. Seine Mitte – am Kapitell von St. Lazare in Autun spiralförmig betont – kann an den Betrachter appellieren, die eigene Mitte zu suchen.
Dieses Bild hätte Bernhard von Clairvaux, der auf einen rigorosen Minimalismus der Raumgestaltung pochte, wohl am ehesten zulassen können. Er, der den Zisterzienserorden in kontemplativer Hinsicht entscheidend geprägt und seine Verbreitung mächtig vorangetrieben hat, schreibt an Papst Eugen III.: »Um aus der Meditation Nutzen zu ziehen, empfehle ich dir vier Themen: dich selbst und was du unter dir hast, was hinter, vor und neben dir und was über dir ist … Bei dir musst du beginnen, zu dir zurückkehren […]« Unabhängig davon, ob und inwieweit Bernhard von Clairvaux auf Baupläne Einfluss genommen hat – die drei provenzalischen Klöster bringen die Ideale, die er in seinen Schriften formuliert hat, baulich zum Ausdruck, lassen sie im und am Raum erleben. »Der stille Gott stillt alles, und den Ruhenden betrachten ist Ruhen«, so beschließt er in seinen Predigten über das Hohelied eine Passage, in der er gegen alle bildlichen Darstellungen wettert, die faszinieren oder gar Schrecken erregen. Der sakrale Raum soll eine durch Kontemplation zu erfahrende Gotteserkenntnis fördern. Schlichtheit, Reinheit und Reife sind das Ziel.
Sakrales Mauerwerk im Licht
Licht und Stein und Landschaft gehören zum essenziellen Erleben der romanischen Zisterzienserklöster der Provence. Dreifältig strömt Licht ein durch drei schmale, nebeneinanderstehende Fenster im Chor von Le Thoronet, Silvacane und Sénanque. An der Südwand der Kirche von Sénanque werden zwei Lanzettfenster von einem großen Rundfenster bekrönt [Abb. 3]. In Silvacane korrespondiert der Lichteinfall in der Chorwand deutlich mit dem der gegenüberliegenden Westwand. Zur Dreifaltigkeit wandten sich die Mönche mit ihren gesungenen Gebeten: laudes, bei Sonnenaufgang, und complet, bei Sonnenuntergang. – Stein und Mauerwerk können froh stimmen, wenn das Auge sie abtastet. Aus dem Kalkstein der jeweiligen Umgegend wurden diese Klöster erbaut. Dementsprechend unterscheidet sich die Färbung: Während Sénanque eher lichtgrau wirkt, spielt bei Silvacane und vor allem Le Thoronet im Sonnenlicht etwas leicht Gelbliches und Rötliches hinein. Wie mühsam es für die Gemeinschaft der Mönche und Konversen war, das geeignete Baumaterial zu finden, in Steinbrüchen herauszuschlagen und dann die Quader maßgenau zuzuhauen, davon vermittelt der Architekt François Pouillon in seinem fiktiven Tagebuch des Baumeisters von Le Thoronet einen lebhaften Eindruck. Spröde war dieser Stein, er splitterte und brach, dabei mussten die Quader für die unverfugten Außenmauern exakt passen. – In abgeschiedenen Tälern baute man, an Wasserläufen. Rodete das Land. Fügte einen christlich geprägten Bau der Landschaft ein, in die er seinerseits ausstrahlte durch Kultivierung der Erde.
Ein enges, kurviges Sträßchen führt steil bergan und dann … öffnet sich der Blick auf die Abtei Sénanque, wie sie da am Ende des tief eingeschnittenen Tales des Flüsschens Sénancole liegt. Lavendelfelder davor. Weder atemberaubend noch faszinierend oder gar sensationell ist dieser Eindruck zu nennen. Vor Augen liegt vielmehr ein Ziel, das in baulicher Schönheit Ruhe, Frieden und Klarheit verspricht.
1 Siehe Werner Herzogs Film: Die Höhle der vergessenen Träume.
2 Siehe U. Köpf: »himmlisches Jerusalem« in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1998ff, S. 448f.
3 Otto Demus: Romanische Wandmalerei, München 1992.
4 Ekkehard und Barbara Meffert: Klöster der Zisterzienser, Stuttgart 2012.
5 »Über die Selbstbesinnung« an Papst Eugen III. Zit. nach der Einleitung von Manfred Baumotte zu Bernhard von Clairvaux: Das Herz weit machen, Zürich u. Düsseldorf 1997.
6 Ihrer Bedeutung nach eine »Westwand«. Bedingt durch die Talform musste die Kirche – statt wie üblich Richtung Osten – Richtung Norden gebaut werden.
7 François Pouillon: Singende Steine, Ostfildern 1996.
Dr. Evelies Schmidt, geboren 1953, Lektorin, Stuttgart