Hören, Schweigen und Sprechen in der Christengemeinschaft | Vom Suchen, Finden und Weitersuchen der Rolle als Gemeindemitglied

AutorIn: Gottfried Seitz

Angestoßen vom 100-jährigen Jubiläum der Christengemeinschaft und der damit verbundenen Reflexion über eventuell anstehende, zeitbedingte Veränderungen derselben, einem Pfarrerwechsel in der Gemeinde und noch anderen Faktoren möchte ich meinem wachsenden Bedürfnis nachkommen, das, was mich umtreibt als Gemeindemitglied, in eine sprachliche, schriftliche Form zu bringen und so mit anderen zu teilen. Mündlich habe ich in der Gemeinde schon mehrfach solche Versuche unternommen. Allerdings erlebe ich in mir große Widerstände gegen die Äußerung dieses Bedürfnisses, deren Klärung bei mir erst am Anfang steht, sie scheint irgendwie gegen unausgesprochene Regeln des Gemeindelebens zu verstoßen.
Bei diesem »Umgetrieben-Sein« kristallisiert sich als Thema die in der Überschrift genannte Reihenfolge von Hören, Schweigen und Sprechen in der Christengemeinschaft heraus.

Ich beginne lebensweltlich/persönlich mit meinem Weg zur Christengemeinschaft.
Zu dieser kam ich in den 1970ern über meine Frau, die mich auf menschlich warme, nicht missionierende oder besserwisserische Art mit der Christengemeinschaft und deren Kultus ver­traut gemacht hat. Dazu kam ihre familiäre, ehrwürdige Deszendenz (großväterlicher Friedrich Rittelmeyer). Die erste Menschenweihehandlung hat mich völlig überfordert, quasi überschwemmt und überwältigt. (Ich halte diesen Aspekt für wichtig bei der Diskussion über neue und an der Christengemeinschaft interessierte Menschen.) Ich erlebte einen nicht überbrückbaren Gegensatz zu meiner bisherigen Welt-Sicht­-
weise (Spät-68er-Stimmung, »kritische Theorie«, studentische Wissenschaftsorientierung, ­»alles hinterfragen«, nichts glauben …), es blieben aber ein zarter innerer Anreiz und eine Neugierde, »irgendetwas muss doch dran sein«.
Die Rolle meiner Frau als Gemeindemitglied wirkte auf mich glaubwürdig, treu, gut verwurzelt, selbstverständlich, unaufgeregt, irgendwie moralisch hochwertig, was in mir über die ganzen Jahre großen Respekt hervorrief. Ich habe dann begonnen, Musik zur Menschenweihehandlung zu machen, später habe ich regelmäßig ministriert, bei diesem Tun fühlte ich mich in einer beschützten und definierten Rolle, ­quasi am religiösen Rande stehend, nicht ­tiefergehend Stellung über meine Beziehung zu religiösen ­In­­halten beziehen müssend (Vermeidung der Gretchenfrage). Ich hoffte insgeheim, durch Teil­nahme, Mitmachen, »unauffälliges« und ­ge­-
­räuschloses Anpassen an von mir wahrgenommenen Regeln und Abläufen des Gemeindelebens und des Kultus in den Bereich »heiligen« Wirkens und dessen Segnungen zu kommen, in einer Art einschleichender Geste, die ich dem Hören und Schweigen zuordne. Diese Rolle behielt ich dann jahrzehntelang bei.

Zum nächsten Schritt in Richtung des Sprechens veranlasste mich der folgende biographische Einschlag: Vor zehn Jahren wurde bei meiner Frau ein Hirntumor festgestellt, seit ca. fünf Jahren wird sie zunehmend pflegebedürftig, ich gerate schmerzhaft und ungewollt in die Rolle eines »pflegenden Angehörigen«, Stichwort 24/7 care. Dabei erlebe ich grob unterteilt die Berührung mit zwei Welten:

■  1. ein ahnungsweises Geborgensein in einer höheren Ordnung von Sinnhaftigkeit, mit einer Chance für mich, daran, wenn auch mühevoll, teilzuhaben und einen Weg zu gehen, der mir eine bisher ungewohnte Form von Tätigsein abverlangt (ich verzichte jetzt bewusst auf die Anwendung anthroposophischen Vokabulars wie Karma, Hierarchien etc.).

■  2. große, mich stark belastende, aber von mir als ›kleinlich‹ bewertete Ängste vor zwei Szenarien:
→ den nach ca. 40 anstrengenden Berufsjahren erhofften Rentner-Privilegien verlustig zu gehen und nahtlos, überfordert und in einer anderen Branche weiterarbeiten zu müssen und nicht zu meinen lange zurückgestellten Freizeitwünschen zu kommen,
→ meine tief verwurzelte Beheimatung in der ca. 50-jährigen Partnerbeziehung zu meiner Frau zu verlieren, durch krankheitsbedingten »scheibchenweisen« seelisch-körperlichen Abschied von ihr.

Die o. g. »ungewohnte Form meines Tätigseins« bringt mich zu zwei Perspektiven und damit zu einer vertieften und veränderten Beziehung zur Christengemeinschaft:

■  1. Ich stelle mir wiederholt die Frage (angelehnt an den Buchtitel von Ilse Wellershoff-Schuur): Wozu brauche ich die Christengemeinschaft – oder die Christengemeinschaft mich? Meine Antwort unterscheidet sich je nach Einnahme zweier »menschlicher« Einstellungen:
→ Im Zustand von Bedürftigkeit, Unsicherheit, Angst stützt mich die Selbstvergewisserung in einem harmonischen, sinn­vollen über meinem Fassungsvermögen stehenden Weltganzen, in das ich mich ein(unter)ordnen kann und das mir Unterschlupf bietet.
→ Im Zustand von Selbstsicherheit nutze ich dieses Weltganze und seine Vertreter als Widerpart meiner Selbstbehauptung und meines Autonomiebedarfs.

■  2. Das bisherige Gemeindeleben und mein Platz in ihm verpflichten mich vor allem zu einem ehrlichen Dank: Alle seit meinem Christengemeinschafts-Beitritt 1993 tätigen (fünf) Pfarrer, die jeweiligen Gemeinderäte und andere Akteure sowie natürlich die »übrige« Gemeinde haben alles nur Denkbare und Beste für mich und den Bestand der Gemeinde ge­-
tan. Die Gemeinde »funktioniert« eigentlich wie es sein soll, ich habe keinerlei Grund jemandem der o.g. Personen, v.a. nicht den Pfarrern, Vorwürfe zu machen. Ich sehe jetzt aber »systemische, strukturelle« Probleme der Christengemeinschaft. Etwa seit der Erkrankung meiner Frau wächst bei mir ein Unbehagen an und eine Suche nach einem Verankert-Sein in der Gemeinde jenseits von dem, was Ge-
meindeglieder üblicherweise tun (Beitrag zahlen, Putzen, Mitwirkung in Gemeinderat, Musiker- und Ministrantenkreis, …). Sehr übertreibend und vereinfachend, niemand verletzen wollend formuliere ich es folgendermaßen:

In der Gemeinde herrscht eine Sprechstörung (»kommunikative Einbahnstraßen«) in zwei ­Formen, angelehnt an die medizinische Diag­nose einer sensorischen (sprechen, aber nicht hören können) und motorischen (hören, aber nicht sprechen können) Aphasie:

■  1. Der Pfarrer spricht ständig, hört aber nicht, will heißen: Er wird im Sprechen ausgebildet, ist da hoch kompetent (Seminarschwerpunkt?), hält Predigten, Vorträge, publiziert Artikel und Bücher, hält Religionsunterricht (so sehe ich auch den sog. Evangelienkreis), schafft Themen für Gemeindeabende, reichert die anknüpfenden Gespräche durch sein Wissen an, »verantwortet« den Gesprächsverlauf, er ist »auf Sendung«. Er ist Mitglied einer i.d.R. solidarisch korporierten und verfassten, im Grundsatz gleichgesinnten Kollegenschaft (»Synode«) mit dem kontinuierlichen Angebot einer Selbstvergewisserung. Er muss anspruchsvolle Hürden zur Erlangung einer »Weihe« nehmen.

■  2. Die Gemeinde hört ständig, spricht aber nicht, will heißen: Sie hat keine ausgebildete Sprechkompetenz, ist »auf Empfang« (oder auch nicht), ist ohne artikulierte Antwort auf die »Sendung« des Pfarrers, ist im »Verdauen« des Aufgenommenen sich selbst überlassen, dieses Verdauen wird zur Privatsache eines Einzelnen, es ist dem Zufall eines Austausches, vielleicht im Smalltalk nach der Menschenweihehandlung überlassen. Er bringt vielleicht in der (deswegen wenig frequentierten?) Beichte allein mehr oder weniger formlos das ungewohnte Sprechen über die Lippen, das kontinuierliche Zuhören und Passiv-Sein vereinseitigt ihn, das vom Pfarrer Mitgeteilte droht irgendwo zu versacken oder vergessen zu werden, auch wegen des ständigen »Nachschiebens« neuer Botschaften ähnlicher Art. Die Gemeindemitglieder sind extrem he­terogen, unorganisiert und in der Gemeinde mehr oder weniger verbindlich vernetzt, sie müssen keinerlei anspruchsvolle Hürden nehmen, können also »voraussetzungslos« am Kultus teilnehmen.

Ich schildere nun Perspektiven eines Sprechens in der Christengemeinschaft, die eine Lösung unterstützen könnten.
Jürgen Habermas  unterscheidet drei Ebenen religiösen Tuns (»epistemische Einstellungen«):
→ meditative, kontemplative Versenkung in die eigene Innenwelt als eine Art Göttlichwerdung, »Leben in Gott« (s.u.), grammatisch erste Person, »Ich«
→ Kommunikation, Gebet, das Göttliche oder die Gemeinde als Gegenüber, Gesprächspartner, Reagierender, Wahrnehmender, Beziehungsstiftender, grammatisch zweite Person, »Du«
→ Theologie, Anthroposophie, Wissenschaft als vergegenständlichtes Behandeln religiöser Inhalte in z.B. Vortrag, Predigt, Schriften, Religionsunterricht, grammatisch dritte Person, »Es«.

Rudolf Steiner selbst scheint der ersten Ebene für zukünftige Priester die wichtigste Bedeutung zuzumessen, indem er sich folgendermaßen an diese wendet: »Sehen Sie, auch die Theologie ist ja leider bei dem Standpunkt angekommen, dass man das Wissen von Gott immer höher stellt als das Leben in Gott, das Erleben des Göttlichen in der Seele. Das Erleben des Göttlichen in der
Seele, das ist dasjenige, was einem die Kraft gibt, gerade auf den einfachsten, unverbildetsten Menschen zu wirken, und das müsste eigentlich ausgebildet werden«.
Braucht dann der z. B. »einfachste und unverbildetste« Adressat priesterlichen Wirkens nur auf das Erlangen dieses Erlebens des Gött­lichen beim Priester hoffend, zu verharren, so wie ich es lange Zeit getan habe (s.o.)? Muss/darf er nicht mehr tun? Ich denke, er sollte dazu die Möglichkeit aus freier Entscheidung haben.
Georg Dreißig setzt in einem Artikel für die Priesterausbildung zwei Schwerpunkte, die ich auch für Gemeindemitglieder hilfreich finde:
■  1. Die Seminarangebote lediglich als Hilfsmittel, um dem
Seminaristen dazu zu verhelfen, sein eigener Dozent im Finden des Göttlichen in sich zu werden. Jeder Mensch und auch das Kind sind schon »vorgeburtlich götterbelehrt«, dieses Belehrt-Sein müsse lediglich freigelegt werden. Abgesehen vom Zelebrieren des Kultus könnte das Gemeinde­mitglied nun ebenso »sein eigener Priester« sein, unter tatkräftiger und sprechender Zuhilfenahme der »Hilfsmittel« des Gemeindelebens.
■  2. Das intensive Miteinander der Seminaristen in der Gruppe, in der Begegnung und im Austausch, so auch der Gemeindemitglieder z.B. in einer Art Gemeindeforum (s.u.), um zum Sprechen, Antworten und einer Gemeindemitglieds-Verantwortung zu kommen.
In diesen beiden Schwerpunkten Dreißigs könnte man eine Art religiöse Selbsthilfeidee erblicken, auch realisiert und flankiert durch eine Selbsthilfegruppe, eingebettet in die Gemeinde. Schon lange bekannt sind gute Effekte von Selbsthilfegruppen in vielen gesellschaftlichen und auch ­religiösen Kontexten, auch in der Zusammenarbeit, nicht Konkurrenz mit professionellen Fachleuten.
Wünschenswerterweise sollten Zugänge und Raum für alle drei von Habermas dargestellten Sichtweisen in ausgewogenem Gleichgewicht in der Gemeinde gepflegt werden, idealerweise in einem fortlaufenden, gegebenenfalls kurskorrigierenden Gespräch in/mit der Gemeinde, ähnlich wie man ja auch die Finanzen immer im Blick haben muss.
Eines unserer Gemeindemitglieder hat die Gepflogenheit einer Nachbargemeinde bei uns eingeführt, von uns »Gemeindeforum« genannt: Die Teilnehmer äußern je ihre Sichtweisen und Anliegen, die für sie aktuell sind in eigener freier Entscheidung und Verantwortung, als »Ich-Botschaft«. Diese werden nicht kommentiert oder diskutiert und sind keine Rechtfertigung schuldig. Sie werden gehört, stehen gewürdigt und respektiert im Raum, sie ermöglichen so eine bewegende Erfahrung. Pfarrer sind gerne willkommen als Teilnehmer auf Augenhöhe und müssen keine Verantwortung für den Gesprächsverlauf übernehmen, könnten z.B. diesen gerne als Wahrnehmung der Gemeinde nutzen.
Dies ist eine der Konkretisierungen, die schon dreimal bei uns stattfinden durfte mit außerordentlich wohltuender und segensreicher Wirkung.
Letzteres ist ein gutes Beispiel einer Möglichkeit, die kommunikativen Einbahnstraßen zu vermeiden, den Pfarrern eine Erlaubnis zum Hören und den Gemeindemitgliedern zum Sprechen zu geben, also Hören, Sprechen und Schweigen, nun kultiviert im Dreiklang.

 

Gottfried Seitz, geboren 1950, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Heilbronn