Der verwundete Mensch (X) – Elemente einer christlichen Menschenkunde

AutorIn: Ulrich Meier

Es kann in hohem Maße verwundern, dass Christen ihr Menschsein im Blick auf den verwundeten und gekreuzigten Christus erfahren und entwickeln wollen. Geht es in der Religion nicht eher um die Verwirklichung ethischer Ideale als um die Konfrontation mit menschlicher Versehrtheit? In der Spannung zwischen der Tatsache der Sterblichkeit und dem Streben nach Unsterblichkeit kann aber das eigentliche Feld christlichen Lebens gefunden werden. Dazu soll mit dieser Artikelserie angeregt werden.

Der vorige Beitrag war dem menschlichen Wahrnehmen gewidmet, wie es sich vor und nach dem Sündenfall im Paradies in unterschiedlicher Weise gezeigt hat. Dabei habe ich an den Genesis-Vers angeknüpft, in dem vom Öffnen der Augen die Rede ist: Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, dass sie nackt waren (1 Mose 3,7). Im mittleren der drei abschließenden Beiträge zur ­Menschenkunde der Sündenkrankheit wende ich mich nun dem Thema der Nacktheit und dem Gefühl der Scham zu.
Ist im ersten Schöpfungsbericht am Ende von der Erschaffung des Menschen als Ebenbild der Gottheit die Rede, hebt der zweite Schöpfungsbericht (1 Mose 2,4–17) gleich mit dem Bilden des Menschen aus dem Staub des Erdbodens an, gefolgt vom Einblasen des Lebensatems: So wurde der Mensch eine lebende Seele (1 Mose 2,7). Erst danach wird vom Bau des Gartens Eden im Osten berichtet, vom Schaffen der Bäume mit den beiden Bäumen des Lebens und der ­Erkenntnis des Guten und Bösen in der Mitte sowie von den vier Strömen, die von Eden ausgehen. In diesen Garten wird der Mensch gesetzt, er soll ihn nicht beherrschen, sondern bebauen und schützen. Nun erst wird das Verbot des Essens vom Baum der Erkenntnis ausgesprochen, gefolgt von dem Vorhaben Gottes, Adam … eine Hilfe zu machen, die ihm ebenbürtig ist (1 Mose 2,18). Jetzt werden die Tiere erschaffen und es heißt: Aber eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig war, fand er nicht (1 Mose 2,20). Für das, was theologisch die Geschlechtertrennung genannt wird, bedarf es eines besonderen Vorgehens. Die Gottheit ließ … einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief. Und er nahm eine von seinen Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch; und Gott, baute die Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, zu einer Frau, und er brachte sie zum Menschen (1 Mose 2,21–22). Weiter heißt es: Da sagte der Mensch: Diese endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch; diese soll Männin heißen, denn vom Mann ist sie genommen. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und sie werden zu einem Fleisch werden (1 Mose 2,23–24). Zu diesem Zeitpunkt hat der Mensch offenbar ein erstes Verständnis der Entzweiung in die Geschlechter und ihrer Einung im Ein-Fleisch-Werden, aber er hat noch kein Bewusstsein von Scham und Nacktheit, wie der nächste Vers ausdrücklich betont: Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht (2 Mose 2,25). Damit ist der Zustand vor dem Eintritt des Falls in die Sonderung von Gott beschrieben.
Das Erkennen der Nacktheit ergibt sich schlagartig nach dem Essen der Frucht: Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, dass sie nackt waren (1 Mose 3,7). Übrigens hatte die Schlange diese Folge in ihrer Verführungsrede nicht erwähnt, auch nicht die damit verbundene Angst und Scham. Diese deutet sich aber im zweiten Teil des Verses an, wenn das Menschenpaar nach Schurzen greift: … und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Als sie von Gott gerufen werden, verbergen sie sich vor seinem Angesicht, und Adam begründet dies mit den Worten: Ich hörte deine Stimme im Garten, und ich fürchtete mich, weil ich nackt bin, und ich versteckte mich (1 Mose 3,10). Gott fragt nach der Schlange: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, ­davon nicht zu essen? (1 Mose 3,11). Adam nennt zuerst die Frau und diese dann die Schlange. Es folgt die Vertreibung aus dem Paradies, an deren Ende die Gottheit selbst die Feigenblätter durch erste Kleider ersetzt: Er machte dem Menschen und seiner Frau Gewänder von Fell und beklei­dete sie damit (1 Mose 3,21).


Nacktheit, Scham und Bekleidung

Die Blicke der im Sündenfall übermäßig an die Welt gefesselten Augen treffen auf den nackten Leib – und seine Seele reagiert im Erkennen mit Scham. Was liegt dem zugrunde? In seiner Erzählung Über das Marionettentheater1 greift Heinrich von Kleist diesen Punkt auf, wenn er den Tänzer von dem Problem des »Zierens« reden lässt, das die Reinheit der Tanzbewegung störe: Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Etwas später folgt: Solche Missgriffe, setzte er abbrechend hinzu, sind unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die ­Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Weiter ist in dem Dialog des Autors mit dem Tänzer von der Anmut und dann von der Grazie die Rede: Ich sagte, dass ich gar wohl wüsste, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße ­Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden. Dass sich mit dem aufkommenden Bewusstsein auch die Grazie verliert, müsse aber nicht der Endpunkt der Entwicklung bleiben, meint der Tänzer: … so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott. Kleist schließt die kurze Erzählung mit folgenden Worten: Mithin, sagte ich ein ­wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
Die Änderung des Bewusstseins im Blick, vor allem aber die seelische Reaktion auf den Verlust der Unschuld des Anfangs, ist ein Entwicklungsvorgang, den jedes Kind erlebt und nach und nach gestalten lernt. Die Anmut und Grazie, mit der kleine Kinder z.B. ihre Nacktheit zeigen oder nackte Menschen wahrnehmen, weicht im Übergang zur Pubertät dem berechtigten Schamgefühl, sich vor dem fremden Blick zu verbergen und die Blicke auf andere Menschen so zurückzunehmen, dass sie möglichst wenig begehrlich sind. Bekleidung und verhaltene Blicke gehören zu einer Kultur der Scham, mit der wir an den Folgen des Sündenfalls zu ­arbeiten beginnen. Dass mit unrechtmäßiger Beschämung und »falschen Geheimnissen« Men­schen manipuliert werden können, sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, da es nicht zentral zum Thema des Beitrags gehört.


Zehnte Wunde: Gefühle unter Einfluss von Lebenswirkungen

Im letzten Beitrag habe ich auf die Ausführungen Rudolf Steiners über die durch den Sündenfall bedingte »Unordnung« im Gefüge des menschlichen Wesens verwiesen, die bezüglich des ­Sehens verhindern, dass wir im Wahrnehmen der Sinneswelt »ein fortdauerndes ­Rieseln von waltendem Willen« der Gottheit erleben. Zugrunde liegt hier ein Übergewicht des physischen Leibes über den »Ätherleib«, sodass bei den Sinnesorganen »rein physikalische Wirkungen auftreten, die sozusagen ausgeschlossen sind von den allgemeinen Lebenswirkungen.«2 In Bezug auf das Verhältnis der Lebenswirkungen zum seelischen Empfinden ergibt sich ein an­deres Übergewicht, nämlich das des Ätherleibs über den »Astralleib«, den Träger der Seelentätigkeiten. Das bewirke, so Steiner – neben der Rückwirkung auf den physischen Leib, die ein Ausfließen der in den Drüsen gebildeten Sekrete bedingt – eine spezifische »gefühlsmäßige Eigenempfindung. Denn die Gesamtempfindung, das Gesamtbefinden des Menschen, sofern es sich in dem Leibesbefinden ausdrückt, das kommt durch dieses Übergewicht des Ätherleibs über den astralischen Leib zustande.«3


Heilung und Heiligung des Empfindens

Wie lässt sich in Bezug auf das Seelenleben mit diesem menschenkundlichen Befund umgehen? Was hat sich im Gesamtempfinden des Leibes gegenüber dem Unschuldszustand verändert, in dem Kleist Anmut und Grazie wieder­erkennt? Angst, Scham und das Bedürfnis, sich zu verbergen, sind zunächst nur die Symptome, mit denen die Seele auf das veränderte Körperempfinden reagiert. Kommen wir zurück zum Kleistschen Begriff der Ziererei, durch die die Grazie der Hingabe an die reine Bewegung gestört wird: Der mit dem Autor sprechende Tänzer beschreibt es für eine Kollegin so: … die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes …, für einen Kollegen anders: … die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen. Was liegt hier vor? Körpergefühl und seelischer Ausdruck sind zu eng aufeinander bezogen. Die Seele braucht mehr Abstand zum Leib und seinen Lebenswirkungen. Sie neigt dazu, etwas für ihr Eigenes zu halten, das teilweise aus dem Innern des Leibes und seinen Funktionen aufsteigt und nach außen drängt. Wie viele Gefühle erhalten letztlich eine sie befremdende Dynamik aus den Lebensprozessen des Leibes? Wie nach Steiner in unserem mechanischen Wahrnehmen eine Verstärkung des Staunens hilfreich sein könnte, so in der nächsten Schicht der Abstand, der in der Verehrung für das Erlebte entstehen kann. Das würde der latenten Leibgebundenheit der Gefühle eine Kultur der reinen Hingabe entgegensetzen. Diese kann, auch nach Kleists Auffassung, in aller wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Bemühung lebendig werden.

 

1  Hier zitiert nach: Projekt Gutenberg, www.projekt-­gutenberg.org.

2  Rudolf Steiner: Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes, GA 134, Dornach 1990, S. 51.

3  a.a.O., S. 51f.

 

Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg