In Frieden auseinandergehen können Abschieds- und Bestattungskultur heute
Ulrich Meier | Ich möchte für unsere Leserinnen und Leser im Gespräch mit Ihnen als Bestatterin das Feld der Abschiedskultur ansteuern. Was kann uns in der Begleitung unserer Angehörigen und Freunde in die Welt der Verstorbenen helfen? Beginnen möchte ich mit einer persönlichen Frage: Wie sind Sie dazu gekommen, diesen Beruf auszuüben?
Annette Link | Bestatter ist kein geschützter Beruf, man muss also keine bestimmte Ausbildung absolviert haben, um sich so nennen zu dürfen, und die Zugänge zu diesem Beruf können ganz unterschiedlich sein. Meiner ist, dass ich vorher Theologie studiert und auch die landeskirchliche Pastorenausbildung für die evangelische Kirche gemacht habe. Zu meiner Zeit gab es aber viel mehr Absolventen, als die Kirche Bedarf hatte. Außerdem hätte ich in meine württembergische Landeskirche zurück müssen, hatte mich aber hier in Hamburg verliebt und fand keinen Tauschpartner. So war die Frage: Was mache ich, wenn das Studium nicht in den Pastorenberuf führt? Ich erhielt dann zufällig die Anfrage, eine Trauerrede zu halten. Ich habe diese Bestattung also nicht als Pastorin gehalten, aber als christliche Feier. Später habe ich immer mal wieder für das Bestattungsunternehmen, das damals die Bestattung durchgeführt hat, Trauerfeiern gestaltet und bin so peu à peu in die Branche hineingerutscht. Es wurde zu einem beruflichen Feld, in dem ich einen Teil meiner Ausbildung wunderbar einsetzen konnte. Nach einiger Zeit wurde ich Mitarbeiterin in einem großen Bestattungsunternehmen – was damals für Frauen nicht so einfach war.
Ulrich Meier | Inzwischen haben Sie ja längst selbst das Unternehmen »in medio« gegründet.
Annette Link | Dafür war mir ein Beispiel wegweisend, wo es um die Aufbahrung ging. Hier im Norden hat man den Menschen eher beigebracht: Wollt ihr euch den Anblick eurer Toten wirklich zumuten? Behaltet sie lieber lebend in Erinnerung und tut euch den Schock der Konfrontation mit dem Verstorbenen nicht an! So habe ich das gelernt und fand das auch sehr human. Anders kannte ich es aus der Tradition in Süddeutschland. Da war der Sarg immer offen gewesen bis eine halbe Stunde vor der Trauerfeier, sodass jeder, der wollte, vom Toten Abschied nehmen konnte. Nun ergab sich ein Gespräch mit einer Angehörigen, die sagte: »Ich habe solche Phantasien, dass mein Mann noch lebt. Ich habe ihn in der Menge gesehen.« Eine andere Witwe berichtete: »Da war jemand, der hat mich so an ihn erinnert, dass ich mich jetzt mit Phantasien quäle: Was, wenn er nicht gestorben ist, wenn mir alles nur vorgegaukelt wurde? Vielleicht wollte er nur, dass ich denke, er ist tot, und er lebt noch? Können Sie mir beweisen, dass er wirklich begraben wurde?«
Da konnte ich ihr nur sagen: »Nach Aktenlage war es Ihr Mann, aber ich kann es Ihnen nicht belegen.« Sie war nicht die Einzige. Ich dachte: Ist es denn wirklich so freundlich, wenn man den Leuten sagt: »Tut euch das nicht an!« Jemand, der beim Waschen des Leichnams mitgemacht oder zumindest den Toten gesehen hat, würde bei solchen Verunsicherungen sagen: Das kann ja nicht sein, ich habe ihn ja angefasst, ich weiß, dass er tot ist; das kann gar nicht anders sein!
Ulrich Meier | Für das Abschiednehmen spielt die Aufbahrung eine zentrale Rolle. Ich sehe Sie in meiner Erinnerung vor mir, wenn Sie bei Trauerfällen, wo wir Hand in Hand gearbeitet haben, in einer wunderbaren Ruhe einen Raum gebildet haben, in dem die Menschen Zeit und Muße fanden, um im Anblick des Leichnams den Abschied zu finden. Was bedeutet es für die Angehörigen, wenn sie am offenen Sarg, am aufgebahrten Leichnam stehen?
Annette Link | Ich biete es immer an und sage den Leuten auch, dass ich es möglich mache und dass wir den Verstorbenen für eine solche Begegnung auf behutsame Weise so herrichten, dass keine traumatischen oder belastenden Bilder entstehen. Natürlich würde ich niemanden dazu nötigen, der Angst davor hat, aber ich würde immer eher dazu ermutigen.
Ulrich Meier | Nach meiner Erfahrung kann man auch schon Kinder ermutigen, selber zu spüren: Möchte ich diesen Anblick? Kann ich mich dem aussetzen, möchte ich das erleben oder nicht? Hilft mir das Anschauen auf meinem Weg von Abschied und Trauer?
Annette Link | Ich habe durch diese Arbeit viel für mich gelernt. Zum Beispiel bin ich im evangelisch-christlichen Milieu mit der Aussage groß geworden: »Die Toten sind in Gottes Hand, da soll man sie auch lassen und soll nicht groß fragen: Wo sind sie denn?« Das gilt für mich noch immer, aber meine Lernerfahrung aus dem Beruf geht noch in eine andere Richtung: Auch Tote können manchmal bedürftig sein; auch Toten muss manchmal noch etwas gesagt werden, damit sie gut und in Frieden gehen können. Das ist überhaupt mein Berufsideal: Der Bezugsgemeinschaft, die um einen Verstorbenen herum ist, und auch dem Verstorbenen selbst ermöglichen, gut und in Frieden auseinandergehen können.
Ulrich Meier | Darin kann ich mich gut wiederfinden, und mir gefällt dieser Gedanke: Auch der Verstorbene hat ja seinen Abschied zu nehmen. Er hat das im Laufe des Sterbevorgangs in der einen oder anderen Weise für sich getan oder es geschehen lassen. Für die Aufbahrung hieße das: Auch dieser Abschiedsmoment ist bedeutsam für den Verstorbenen, nicht nur für Hinterbliebene.
Annette Link | Intensiv habe ich das bei einer Verstorbenen erlebt, die mich ziemlich an meine eigenen Grenzen gebracht hat. Sie ist relativ jung an einem Hirntumor verstorben. Ich hatte keinen Kontakt zu den Angehörigen, ich wusste nur: Meine Aufgabe war, den Abschied vorzubereiten und die Angehörigen in Empfang zu nehmen. Für mich war das damals eine interessante Entdeckung in meiner Arbeit: Es ist oft noch so viel da, was diesen Menschen ausgemacht hat, da ist nicht nur tote Materie, sondern da ist noch spürbar, was das für ein Mensch war und was er für ein Umfeld hatte. Und von dieser Verstorbenen ging etwas Bedrückendes aus, sodass ich mir Hilfe holen musste, um sie überhaupt in den Raum bringen zu können. Ich habe mir damals überlegt: Verkraftest du den Beruf nicht? Ist das, weil sie ungefähr so alt ist wie du? Ich weiß ja, dass ich sterblich bin und dass ich kein Anrecht habe, neunzig zu werden. Schließlich kam der Schwager der Toten und ich fragte: »Möchten Sie schon allein hinein oder sollen wir noch auf die anderen warten?« Und er meinte: »Nein, da kommt sonst niemand; ich bin von der Familie abgestellt worden, diesen Dienst zu tun. Ich bin Feuerwehrmann, und man hat gesagt: Du kennst dich aus mit Toten. Und ich soll jetzt nur schauen, ob sie das anhat, was sie angezogen haben wollte, und ich soll ihr die Bilder ihrer Kinder in den Sarg legen.« Als der Schwager ihr die Bilder ihrer Kinder in den Sarg legte und sagte: »Ich verspreche dir, dass wir uns alle um deine Kinder kümmern!«, da ging das, was als eine Last auf mir lag, wie von mir weg, und es war für mich kein Problem mehr, mit der Toten allein zu sein. Ich hatte das sichere Gefühl: Das musste dieser Frau noch gesagt werden, diese Zusage brauchte sie, um loslassen zu können und in Frieden gehen zu können. Vorher war da etwas Bedrückendes um diese Tote herum, und das war weg, als der Mann ihr das Versprechen gegeben hatte.
Ulrich Meier | In der Bestattungskultur gibt es immer weniger festgefügte, aber auch Orientierung stiftende Traditionen, aber eine immer größere Vielfalt dessen, was sich Sterbende und Angehörige wünschen. In unseren Gemeinden sorgen wir dafür, dass es genügend Austausch darüber gibt, welche Art Feier als stimmig erlebt werden kann. Aber es wird oft nicht deutlich genug darüber gesprochen. Was würden Sie aus Ihrer Lebens- und Berufserfahrung dazu sagen?
Annette Link | Stimmig ist es für mich dann, wenn das Leben des Menschen, der verstorben ist, noch einmal gewürdigt wird in der Abschiedsfeierlichkeit, wenn ich diesen Menschen spüre und mir eine Vorstellung machen kann, was das für ein Mensch war. Aber gleichzeitig sollten auch die Angehörigen ihren Platz haben, die ja nun ohne diesen Menschen weiterleben müssen. Deswegen fremdle ich zunehmend mit den sogenannten Bestattungsvorsorgen. Überall wird man ja darauf gestoßen, dass es gut sei, wenn man vorsorgt und seine Hinterbliebenen dadurch entlastet. Das ist zwar richtig, aber das ist natürlich auch ein Riesenmarkt. Als Unternehmerin müsste ich sagen: So viel Vorsorge wie möglich, das steigert den Wert meines Unternehmens. Gleichzeitig finde ich es aber problematisch, weil es denen, die nachher mit dem Tod leben müssen, oftmals zu wenig Raum lässt. Man kann und sollte dem Sterben nicht vorgreifen – auch nicht mit genauen Plänen über Trauerfeiern. Deswegen empfehle ich den Menschen eher: Schreibt es auf, damit die Bestattungspflichtigen wissen, was ihr wollt – Erdbestattung oder Feuerbestattung, auf welchem Friedhof –, aber formuliert es so offen, dass die es eben auch ändern könnten, wenn irgendetwas von dem, was man jetzt noch nicht weiß, plötzlich ganz andere Wege öffnet. Zum Beispiel gibt es ja jetzt eine neue Bestattungsform, von der man noch nicht weiß, ob sie kommt oder nicht, die »Reerdigung«. Wenn ich jetzt sage: Ich möchte eine Erdbestattung oder eine Feuerbestattung und in zehn Jahren sagen dann vielleicht die Angehörigen: Die »Reerdigung« würde zu dem Menschen passen!, dann kann man es nicht mehr machen, wenn es zu streng festgelegt ist. Wenn man sagt: Unter jetzigen Verhältnissen würde ich mir aus dem oder dem Grund das vorstellen, aber sollte es plötzlich anders nötig sein, bin ich damit auch einverstanden; dann sind diejenigen, die nachher mit dem Tod umgehen müssen, handlungsfähig. Und das ist für sie ja ganz wichtig, dass sie handeln können und nicht in eine Ohnmachtsposition gedrängt werden.
Ulrich Meier | Können Sie zu dem Stichwort »Reerdigung« für unsere Leser ein paar erläuternde Worte sagen?
Annette Link | Es geht bei dieser neuen Bestattungsform um Humankompostierung. Der Leichnam wird für 40 Tage auf Heu und Pflanzenmaterial in einem Edelstahlgefäß (man nennt es »Kokon«) gebettet. Unter Sauerstoffzufuhr wird die Zersetzung des Körpers beschleunigt. Der Hintergrund für diese Initiative ist, dass wir die Särge mit zwei Metern Tiefe eigentlich zu tief beisetzen. Die den Leichnam zersetzenden Organismen können in dieser Tiefe nicht überleben. Deswegen faulen die Körper, statt sich zu zersetzen und zu Erde zu werden. Man versucht mit diesem Verfahren, die Erdbestattung im Grunde zu beschleunigen. Was nach den 40 Tagen übrig bleibt, wird dann in die Erde gebettet – vergleichsweise wie bei der Feuerbestattung.
Ulrich Meier | Das erscheint ja auf den ersten Blick wie eine verlangsamte Verbrennung …
Annette Link | … der große Unterschied ist, dass bei der Humankompostierung mehr Biomasse übrig bleibt als bei der nach der Verbrennung übriggebliebenen Asche, etwa das 1,5- bis 2-Fache. Nun ist die Frage: Wie kann man das dann in würdiger Form in ein Grab betten?
Ulrich Meier | Was denken Sie über diese Neuerung?
Annette Link | Unsere Bestattungskultur hängt ja sehr stark mit den Fragen der Zeit zusammen. Als die Feuerbestattung im christlichen Abendland wiederentdeckt wurde, nachdem sie ja über tausend Jahre erst einmal tabu war, geschah dies aus dem hygienischen Gedanken einer möglichen Infektion. Heute bewegt die Menschen eher die Nachhaltigkeit, das ökologische Bewusstsein. Da ist die Frage: Will man für die Kremation so viel Energie, um den Körper zu zersetzen? Da ist natürlich die »Reerdigung« eine nachhaltigere Form.
Ulrich Meier | Und warum ist sie noch nicht anerkannt?
Annette Link | Bestattungsrecht ist ja Länderrecht. In Schleswig-Holstein und in Hamburg – ich weiß nicht, wie es in anderen Bundesländern ist – ist sie in der Erprobungsphase. Das Problem ist, dass die Anbieter dieser neuen Bestattungsart die Substanzen nicht offenlegen, die sie zu diesem Prozess zuführen. Es gibt Wissenschaftler, die eine Offenlegung fordern. Die Anbieter fürchten aber, dass ihr Verfahren von jedem nachgemacht werden kann. Für mich gibt es noch eine andere Frage: Ist es notwendig, für die beschleunigte Verwesung Kokons aus Edelstahl zu bauen, oder sollten wir vielmehr dafür sorgen, dass die Erdbestattung nicht mehr so tief erfolgen muss? Da ist, glaube ich, noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ob es dann zu der »Reerdigung« kommt oder ob die Diskussion zu einer neueren Form der Erdbestattung führt, muss man abwarten.
Ulrich Meier | Herzlichen Dank für das Gespräch!