Zum 100. Geburtstag von Gerhard Kienle (1923–1983)

AutorIn: Peter Selg

Für uns [ist der Tod Gerhard Kienles] der ­Verlust einer leuchtenden, geistigen Kraft, die mit Vollmacht in die chaotischen Verhältnisse unseres Jahrhunderts hineinwirken konnte. Und dieses unvorhersehbare Ereignis des Übergangs hat einen seltsam bewegenden Charakter von Opfer. Ich bin persönlich überzeugt, dass aus diesem Opfer noch viel Licht und Kraft ­hereinstrahlen wird für diejenigen Menschen, die den Anschluss daran finden können.  Friedrich Benesch1

Der Tod Gerhard Kienles am 2. Juni 1983 auf der Intensivstation des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke kam plötzlich. Kienle starb, knapp sechzigjährig, inmitten so vieler Aufgaben – in der Zeit der Eröffnung seiner Universität Witten/Herdecke.
Es war ein Lebensweg im Zeichen des 20. Jahrhunderts gewesen, seinem Licht und seiner Fins­ternis. Mit 16 Jahren hatte Gerhard Kienle im faschistischen Berlin (1939) durch den Priester Otto Palmer Rudolf Steiners Philosophie der Frei­heit und damit die Anthroposophie entdeckt, als Weg in die Zukunft, der individuellen wie gemeinsamen. Auf Anraten des regimekritischen Vaters und von Otto Palmer hatte Kienle sich dann bei der militärärztlichen Akademie der Luftwaffe für das Medizinstudium angemeldet, weil beide Ratgeber der Meinung waren, die Macht der Nationalsozialisten könne nur durch die eigene Elitetruppe gebrochen ­werden. Gerhard Kienle litt unter der Kaserne und dem ideologisch überformten Curriculum, unter der geistigen Instrumentalisierung der ­Universität und dem System der Unfreiheit und Überwachung. Er las heimlich Steiners Bücher und hörte einen der großen Apokalypse-Vorträge von Emil Bock 1941 in der Potsdamer Straße vor 1000 Men­schen, kurz vor dem Verbot der Christengemeinschaft und der Inhaftierung der Priester. Bei seinem ersten Kriegseinsatz wurde Kienle am 28. September 1944 verwundet. Die auf dem Krankenlager mit nur 21 Jahren gefassten Gedanken zur Gründung eines anthroposophisch orientierten Gemeinschaftskrankenhaus und einer staats- und ideologiefreien Universität nach Ende des Krieges und des Totalitarismus, blieben für ihn lebenslang leitend, in absoluter ­Willenstreue. In den Stunden und Tagen auf der Intensivstation, in denen es ihm anfänglich etwas besser ging, arbeitete Gerhard Kienle an seinem letzten Buchmanuskript. Es war keine weitere Studie zur Nerven-, Sinnes- und Bewegungsphysiologie; das Manuskript handelte nicht vom Arzneimittelgesetz oder dem Doppelblindversuch, nicht von den Grenzen der medizinischen Statistik, der gefährlichen Medikalisierung der Gesellschaft, der Ökonomisierung der Kranken­häuser und des gesamten Gesundheitssystems. Es ging nicht mehr um die Problematik des Placebo-Begriffs und die Ausschaltung der ärztlichen Urteilskraft durch formalisierte und standardisierte Verfahren, um keines der Themen seiner vielen wissenschaftlichen Beiträge, mit denen er einen jahrzehntelangen Kampf für eine Medizin und Gesellschaft im Zeichen des Humanen geführt hatte. Es ging ihm vielmehr um die bisher »ungeschriebene Philosophie Jesu«, um den Versuch einer philosophischen Darstellung der »Bewusstseinsart Jesu« und den mit der Zeitenwende verbundenen Vorgängen. Kienles Auffassung zufolge brachte das Menschenbild der Evangelien in bildhafter Weise eine entscheidende Weiterentwicklung der Anthropolo­gie zum Vorschein, die auch zwei ­Jahrtausende später noch nicht hinreichend begrifflich ­erfasst worden war. Für ihn mündete die Unterweisung an die Jünger in den Erwerb einer individuellen Urteilskraft, einer durch eigene Erkenntniskraft erlangten »Wahrheit« im Sinne des Johannes-Evangeliums, einer Erkenntnis in einer beweglich verstandenen Welt des Werdens; die Jünger sollten sich dem Erkenntnisgeschehen aussetzen und sein Instrument werden, in einer Willensbewegung zur Welt. Der Mensch wurde, so Kienle, an der Zeitenwende zum ersten Mal aus Selbstbewegung handelnd gedacht, von der Erkenntnis bis zur Leibesgestaltung und Lebensführung. »Für das Neue Testament ist der Mensch ein seelisch-geistiges Wesen, das über die eigene Leiblichkeit hinausgeht, die Leiblichkeit ergreift und gestaltet, die Bewegung ist etwas, das aus dem Willen des Menschen hervorkommt«, hatte Kienle den Krankenpflegeschülern des Gemeinschaftskrankenhauses zwei Jahre zuvor in Vorträgen über die Beziehung von Christentum und Medizin gesagt.«2 »Das, was Luther mit ›Glauben‹ übersetzt, bedeutet: Wenn du dich individuell verbindest mit etwas Geistigem, verwandelst du dein Leben. Wir können auch sagen: Der Einschlag des Ich, die individuelle Willensentscheidung verwandelt das leibliche und seelische Schicksal des Menschen. Das ist die neue Idee im Neuen Testament: Das Individuelle taucht auf im Bild.«3 Das »technomorphe Modell«, die gegenwärtige Wissenschaft vom Menschen, sah Kienle als zutiefst »antichristlich« an, als das Gegenteil des Menschenbildes des Neuen Testamentes. Er hatte zu den Krankenpflegeschülern von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer »menschenbejahenden Medizin« gesprochen, einer Medizin mit Begriffen, die der geistigen Existenz des Individuums angemessen sind. »Eine christliche Medizin ist eine Medizin, die erfordert, dass der Mensch sich selbst als umfassende Individualität finden kann, die erfordert, die umfassende Individualität im anderen zu entdecken und zu bejahen und ihr Verhältnis zu leiblichen Vorgängen denken zu können.«4 Wie man wissenschaftlich so denken kann, hatte Kienle ab 1948 am Physiologischen Institut der Universität Tübingen, in seiner Promotion über die Chorea Huntington, in seinen Studien im Bereich der Heilpädagogik und in seiner Habilitation über die nicht-euklidische Struktur des menschlichen Sehraums eindrucksvoll aufgezeigt. In der »ungeschriebenen Philosophie Jesu« aber ging es ihm keinesfalls »nur« um die Physiologie und Medizin, sondern um eine geistige Grundlegung der neuen Universität in all ihren Fakultäten, um eine neue, fundamentale Anthropologie und Erkenntnislehre.
Die Universität wollte Gerhard Kienle wie das Gemeinschaftskrankenhaus in die volle Öffentlichkeit stellen, zugänglich für alle Menschen. Als im November 1969 das Kran­kenhaus mit fast 200 Betten eröffnet worden war, hatte der Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen über die Kollegial- und Sozialordnung des Hauses gesprochen und Rudolf Steiners Soziales Hauptgesetz zitiert. Bundespräsident Heinemann hatte bald darauf, im Dezember 1969, das Herdecker Krankenhaus besucht, in dem seine Schwester arbeitete, und wollte die geistigen Grundlagen der dortigen Gemeinschaftsbildung kennenlernen. Kienle war bei Heinemanns Besuch auf die Ärztegemeinschaft, aber auch auf die Bedeutung der Pflege eingegangen, die mit der Schicksalssituation des Kranken zu tun habe, in der modernen Nachfolge Christi. Die seelisch-leibliche Pflege sei gleichberechtigt neben der medizinischen Handlung zu sehen und ein »Herzstück der abendländischen Kulturentwicklung«.5 Das Kran­kenhaus hatte Gerhard Kienle seit 1950 vor­bereitet, um einen »christlichen Impuls in der ­Medizin« zu verwirklichen. Bereits im Juni 1951 hatte er in einem Brief geschrieben: »Mein Hauptbestreben geht dahin, gemeinsam mit ­anderen durch Bildung von tragenden Gemeinschaften die notwendigen Schritte zur Ausbildung einer neuen Medizin zu ergreifen.«6 Und in einem anderen Brief von ihm aus den 1940er oder 1950er Jahren hatte es geheißen: »Ein christlicher Arzt kann sich nicht damit begnügen, zu heilen, wenn auch unter spirituellen ­Gesichtspunkten, sondern er muss sich im ­Konkreten fragen, wie muss er ­therapeutisch handeln, damit auf der einen Seite das menschliche Wesen sich in der Leiblichkeit voll entfalten kann – die Hygiene – und auf der anderen Seite aus der Erkrankung eine Frucht für das ewige Wesen des Menschen entspringt, dass also in jeder Erkrankung ein Auferstehungsprozess eingeleitet wird. Das hängt engstens zusammen mit den sozialen Fragen des Zusammenhanges von Arzt und Patient.
Es muss ein sozialer Zusammenhang zwischen Arzt und Patient hergestellt werden, in dem sich das Schicksal des Menschen entfalten kann. Kommen die Gesichtspunkte für ärztliches Han­deln von außerhalb dieser Beziehung – Arbeitsfähigkeit, Krankenkassen, Zulassungen etc. –, dann wird das Verhältnis schicksalsverhindernd. Es muss das gesamte Feld der Erde den Gegenmächten abgerungen werden, damit sie ihrer Durchchristung entgegengeführt werden kann. Um diese Aufgaben lösen zu können, ist allerdings intensive Schulungsarbeit notwendig, weil man sich damit auf ein Weltforum begibt; man begibt sich unmittelbar in das Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzungen.«7 In das »Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzungen« um das Schicksal des Menschen hatte sich Kienle dann ab 1970 begeben, als es um die »Bereinigung des Arzneimittelmarktes von unwirksamen Medikamenten« gegangen war, durch die verbindliche Einführung des sogenannten »kontrollierten klinischen (Doppelbild-)Versuchs« zur Wirksamkeitsprüfung aller neuen und bereits auf dem Markt befindlichen Arzneimittel. Kienle hatte darin die Verbindung eines wissenschaftlichen Paradigmas mit Formen staatlicher Gewalt gesehen, vordergründig zum »Schutz« der Bevölkerung, tatsächlich jedoch zur Zementierung eines eindimensionalen medizinischen Systems, das dem ­»iatrotechnischen« Konzept des 19. Jahrhunderts verpflichtet war, aber auch industriellen Interessen und politisch-administrativen Kontroll-Anliegen folgte. Für Kienle war es ein Projekt der Entmündigung und Entwürdigung des Menschen gewesen. Er war mit wenigen Freunden dagegen vorgegangen und hatte aufgezeigt, dass die methodischen Schwierig­­keiten der propagierten Verfahren wissenschaft­lich erheblich waren – und in Herdecke mit ­se­inen Mitarbeitern dafür 2500 klinische Stu­dien kritisch ausgewertet. Er hatte die Bonner Abgeordneten gewarnt, der gezielt in den Me­dien gestreuten Behauptung zahlreicher Schul­mediziner und Pharmakologen Glauben zu schenken, derzufolge eine große Gefährdung der Bevölkerung durch »unwirksame« und die ­eigentliche Behandlung verzögernde Medikamente bestehe. Demgegenüber hatte er vorgerechnet, welche statistisch nachgewiesenen Schädigungen globalen Ausmaßes durch die »großzügige« Verordnung wirkungsstarker ­schulmedizinischer Präparate existierten. Kienle hatte sich am Ende durchgesetzt, und im bundesdeutschen Arzneimittelgesetz des Jahres 1976 war dank ihm erstmals ein Wissenschafts-
pluralismus festgeschrieben worden. »Nach einmütiger Auffassung des Gesundheits-Ausschusses kann und darf es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, durch die einseitige Festlegung bestimmter Methoden für den Nachweis der Wirksamkeit eines Arzneimittels eine der miteinander ­konkurrierenden Therapierichtungen in den Rang eines ­allgemein verbindlichen ›Standes der wissenschaftlichen ­Erkenntnisse‹ und damit zum ausschließlichen Maßstab für die Zulassung eines Arzneimittels zu erheben.«8 Von da an war Kienle als unabhängiger Sachverständiger bei anderen wichtigen gesundheitspolitischen Themen und Entscheidungen gefragt gewesen; er hatte auch an Kongressen zur künftigen Medizinerausbildung teilgenommen und in vielen Feldern gegen die Tendenzen und Kräfte der Forma­lisierung und Entpersonalisierung, gegen die Gefahr einer »Zerstörung« der ärztlichen Tätigkeit und der medizinischen Wissenschaft, gegen den Richtspruch von postulierten »Expertengremien« gekämpft – und für die Ausbildung ­ärzt­licher Urteilskraft und einen reflektierten Umgang mit wissenschaftlichen Paradigmen an freien Universitäten der Zukunft. Damit wollte er in Witten / Herdecke beginnen.

Friedrich Benesch hatte recht – mit Gerhard Kienle war eine »leuchtende, geistige Kraft« verbunden, »die mit Vollmacht in die chaotischen Verhältnisse unseres Jahrhunderts hineinwirken konnte.«

 

1  Peter Selg: ­Gerhard Kienle. ­Leben und Werk, Band 1, Dornach 2003, S. 592.

2  Gerhard Kienle: Die Würde des Menschen und die Humanisierung der Medizin. Aufsätze und Vorträge, Arlesheim 2009, S. 79.

3  Ebd., S. 41.

4  Ebd., S. 99.

5  Ebd.

6  Peter Selg, a.a.O., S. 201.

7  Gerhard Kienle,  a.a.O., S. 137f.

8  Peter Selg, a.a.O., S. 476.

 

Peter Selg, geboren 1963, ­Goetheanumleitung