Als die Zeit erfüllet war – Die Weihnachtsbotschaft des Gentile da Fabriano (1370–1427)
Ncht beliebig oder willkürlich treten die bedeutsamen Weltereignisse in den Strom der Evolution ein. Vielmehr haben sie ihren ganz spezifischen Zeitpunkt, ihren eigenen »Kairos«. Das trifft insbesondere für das größte Ereignis der gesamten Erdenentwicklung zu: die Geburt Christi. Mit Recht verdient dieser Augenblick den Namen »Zeitenwende«. Denn Zeiten gehen nicht aus Menschenhänden hervor. Die Zeitenkreise, die »Äonen«, sind Angelegenheiten höchster Geistwesen. Einst wachten die Eingeweihten in den Mysterien darüber, dass die Schicksale der Völker im Einklang stehen mit den göttlichen Wesensmächten, durch deren Walten Altes zu Ende geht und Neues sich Bahn bricht. In der Zeitenwende erfüllen sich die Mysterien des Alten Bundes, die ihren Mittelpunkt im Allerheiligsten des Tempels haben. Ebenso kommen die außerjüdischen Mysterien an ihr Ende, zuletzt auch die Mithrasmysterien. Das eigentlich »Geheimnis« der Zeitenwende ist aber nicht ein Ende, sondern der gnadenvolle Neubeginn, über den Paulus, selber vom Kairos erfüllt, an die Christen schreibt: »Als aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, von einer Frau geboren!« (Gal 4,4). Die Liebe Gottes wird Mensch in dem Kind der Weihnacht. Hell und warm leuchtet uns diese Liebe aus dem Bild des Meisters Gentile entgegen.
Auf den ersten Blick erschreckend ist die Lagerstatt des Kindes: felsenharte, tote Erde … doch immer goldener beginnt sie zu strahlen von der Aura des Kindes – wie Sonne. Weihnachtssonne. Und alles, was wir sehen, wird durch ihren warmen Glanz sichtbar: die betende Maria, Auge in Auge zu dem Kind sich wendend. Die Hütte hinter Maria samt dem hell hervortretenden Dreiecks-Vordach bildet mit ihrer Gestalt eine harmonisch abgestimmte Einheit. Nicht nur flutet ihr wunderbares blaues Gewand bis dicht an die Schwelle der Hütte, auch der golden strahlende Dreiecksgiebel wirkt wie ein stiller Hinweis auf Marias Herkunft aus dem Bereich des Tempels mit seinen heiligen Symbolen, zu denen bereits die Trinität in Gestalt des Dreiecks gehört. Der kleine Giebel befindet sich an einer Ruinenmauer: ein Hinweis auf die historische Zerstörung des Tempels samt Babylonischer Gefangenschaft.
Neben Maria befinden sich auf dem Bild auch die beiden Tiere voll im Lichtschein des Kindes. Golden leuchtet die Futterkrippe. Ganz rechts hat Joseph sitzend im Schlaf seinen einsamen Platz. Wunderbar golden leuchtet der Stoff seines Manteltuches. Ein Zipfel dringt bis über den unteren Bildrand. Als sollte der andächtige Betrachter in »Tuchfühlung« mit Josephs innerem Wesen kommen! Desgleichen verhält es sich auf der linken Seite mit Marias Mantel, der bis an die Schwelle der Tempelhütte reicht. Das tiefe Blau seines Farbtones ist identisch mit dem Blau des Sternenfirmamentes über dem nachtdunklen Bergmassiv. Die Gestalt der Maria ist ein Kunstwerk für sich. Die von Joseph ebenso! Bei beiden ist die Aura gleich groß. Gentile rührt mit beiden Gestalten an die Tempelmysterien des Judentums. Das zentrale Mysterium der Juden war der Tempel, insbesondere das Allerheiligste hinter dem Vorhang. Diesen Raum durfte der Hohepriester nur einmal im Jahr betreten. Es war der Ort der Vorsehung. In diesem Allerheiligsten sah der fromme Jude die Wohnung Gottes auf Erden. Sie war für ihn die Hütte prophetischer Vorausnahmen des allerheiligsten Leibes, in welchem der kommende Messias einst wohnen wird. Die Bereitung dieser Leiblichkeit war höchste Aufgabe und Ziel der israelitischen Heilsgeschichte. Unter diesem Aspekt muss man das Walten höchster Vorsehung bei der Zusammenführung von Joseph und Maria sehen.
Nach dem apokryphen Evangelium des Jakobus wächst Maria seit ihrem dritten Lebensjahr im Tempelbereich auf. Als sie zwölf Jahre alt wird, stehen die Priester vor der schweren Frage: Wie weiter mit diesem Menschenkind? Der Hohepriester geht betend ins Allerheiligste und empfängt durch den Engel des Herrn die Weisung: Alle ledigen Männer sollen jeder einen Stab zum Allerheiligsten bringen. An wessen Stab sich am nächsten Morgen ein Wunder zeige, der sei für die Jungfrau bestimmt, um sie heimzuführen in sein Haus. Im letzten Augenblick begibt sich auch noch Joseph mit seinem Stab zum Tempel. Am folgenden Morgen holt der Hohepriester die Stäbe aus dem Allerheiligsten heraus ins Tageslicht, doch bei keinem zeigt sich ein Zeichen. So gibt er die Stäbe ihren Besitzern zurück. Doch als er den letzten Stab aufhebt – siehe, ein Zeichen stellt sich ein! Eine Taube entwindet sich dem Stab, umkreist das Haupt seines Besitzers und lässt sich auf dem Haupt desselben nieder. Es ist Joseph. Vom Hohepriester wird dann die Verlobung vollzogen. – Auf dem Bild schläft Joseph. Seine rechte Hand hat sich eben von dem Stab gelöst, der sich diagonal der hockend sitzenden Gestalt einfügt. – Oben auf der Höhe verkündet der Engel den Hirten die Geburt. Es ist derselbe »Engel des Herrn«, durch den sich (im Matthäusevangelium) das Rätsel der Geburt des Kindes für Joseph löst. Im Traum spricht der Engel zu ihm: »Joseph, du Sohn Davids! Fürchte dich nicht, Maria zu dir zu nehmen …« In seinem ewigen Ich wird Joseph angesprochen, nicht in seinem Alltags-Ich. Dieses ist hier ausgeschaltet. Die Kopfgedanken und Sinneswahrnehmungen schweigen. Nur im Wachzustand sind sie in Funktion! Im Schlafzustand gleichen Gehirn- und Nervenbaum einem kahlen »Geäst« wie bei dem Bäumchen neben Joseph. Er erlebt die Weihnacht »leibbefreit«. Dieser Ausdruck kommt übrigens einmal im Jahr in der Menschenweihehandlung vor: in der Epistel zur Mitternacht. Sein tiefstes geistiges Erlebnis hat Joseph in der Weihnacht. In dem wunderbaren Leuchten von Josephs Gewand lässt Gentile dieses Geheimnis transparent werden. Und noch mehr »Transparentes« können wir auf des Meisters Bild entdecken.
Auf dem Kind ruhen nicht nur die Augen Marias, sondern auch die der beiden Tiere. Von Mitternachtsschläfrigkeit bemerkt man keine Spur! Der Esel ist geradezu »fasziniert«. Auf der hinteren Kante der Futterkrippe kniend, reckt er Haupt und Nacken in Richtung Kind. Steht nicht ein Staunen ihm ins Gesicht geschrieben? Dieser wache Blick! Handelt es sich überhaupt um ein männliches Tier? Ist das nicht eine Eselin? Im Alten Testament begegnen wir einer berühmten Vorgängerin – in der Erzählung von dem Seher Bileam aus dem Morgenland, ca. 1000 Jahre vor dem Zug der drei Weisen zu dem Kind in Bethlehem. Da handelt es sich um die Eselin, die mit ihrem störrischen Verhalten schließlich dem auf ihr reitenden Bileam die Augen öffnet für den Engel des Herrn mit dem Schwert, wodurch der Seher vor einem großen Unglück bewahrt bleibt. Bileam, der über das magische Wort verfügt – im Segnen wie im Fluchen – soll nämlich das israelitische Volk verfluchen. Aber durch den Engel des Herrn verwandelt sich der Fluch dreimal in das Gegenteil. Der Seher spricht einen dreifachen Segen über das Volk, einen Geistesspruch, der die wunderbarste Weihnachtsprophetie des Alten Testamentes enthält: »Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel erstehen und die Fürsten der Heiden zurückdrängen« (4 Mose, 22 und 23). Was für ein offenbarendes Mysterienwort: vom Engel des Herrn inspiriert aus heidnischem Mund gesprochen und – »als die Zeit erfüllet war« – zur Weihnacht in Erfüllung gegangen!
Neben der Eselin sehen wir noch den Stier. Für eine weihnachtliche »Krippenfigur« ist er ungewöhnlich mächtig und groß – und dennoch von edler Art. Alles Wilde und Stierhafte ist wie in eine große Güte und Friedsamkeit verwandelt. Das kleine Kind samt der goldglänzenden Aura ringsum üben eine Art heiliger Magie auf sein Wesen aus. Im Menschen gibt es auch das Stierhafte. Darauf schauten die Mysterien, insbesondere die Mithrasmysterien. Da war der Stier Symbol für das Böse im Menschen. Überwinden konnte der Mensch es nur, indem er den Stier in sich selber tötete. Doch mit der Geburt des Kindes tritt eine gewaltige Wende ein. Das Böse wird durch die Kraft Christi nicht getötet – wie in den Mithrasmysterien, sondern verwandelt, in treuer Nachfolge Christi auf Erden. Auf dem Weihnachtsbild sehen wir nicht die symbolische Tötung des Stieres, vielmehr den verwandelten Stier, der dicht bei dem Kind kniet auf dem Strahlenrand der Christus-Weihnachtssonne.
Der größte Festtag innerhalb der Mithrasmysterien war – nach dem Eintritt der Wintersonnenwende – der 25. Dezember. Von diesem Tag an steigt die Wintersonne wieder, daher der Name »Sol invictus«, die »unbesiegbare Sonne«. Durch die Mithrasmysterium ist das der höchste Feiertag in der antiken Welt bis Anfang des 4. Jahrhunderts – die Urkirche begeht das Weihnachtsfest am 6. Januar als dem Tag des (vollen) Eintritts des Christus in Jesus. Die Geburt Jesu am 25. Dezember wird erst vom 4. Jahrhundert an gefeiert. Die Mysterien haben sich überlebt und verdämmern. Die historische Geburt in Bethlehem tritt als das eigentliche Weihnachtsfest in den Vordergrund. Der 6. Januar ist fortan der Dreikönigstag. – Das höchste Mysterium steigt zur Weihenacht vom Himmel herab: »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn hingibt« (Joh 3,16). Und es sind die »demütigen Hirten«, in deren Seelen ward gehört der Himmel Wort:
»Es offenbaret Gottes Geist sich in Höhen,
Und er bringet Frieden den Erdenmenschen,
In deren Herzen guter Wille wohnet«
(so am Anfang des Weihnachtsrituals für die Kinder).
Eine unermessliche Menschenaufgabe ist darin enthalten, ein neues allmähliches Zusammengehen von Menschenwelt und Engelmächten. Die Mysterien vor der Weltenwende haben sich mit Weihnachten erfüllt. Da gilt, was Paulus zusammenfasst in das Wort: »Das Mysterium, das seit Äonen verborgen gewesen ist, jetzt ist es … geoffenbart.« Die neue Zeit der christlichen Mysterien beginnt. Sie ist gleichfalls äonen-
groß. Und der Apostel fährt fort: »Jetzt ist es der Wille Gottes, dass wir erkennen, welche unermessliche Fülle von offenbarendem und verklärendem Licht für alle Völker in diesem Mysterium ruht: das ist der ›Christus in euch‹, das Hoffnungsunterpfand aller künftigen Offenbarung« (Kol 1,27).
Jürgen Franck, geboren 1941, Priester, Dresden