Der verwundete Mensch (XI) Elemente einer christlichen Menschenkunde
Es kann in hohem Maße verwundern, dass Christen ihr Menschsein im Blick auf den verwundeten und gekreuzigten Christus erfahren und entwickeln wollen. Geht es in der Religion nicht eher um die Verwirklichung ethischer Ideale als um die Konfrontation mit menschlicher Versehrtheit? In der Spannung zwischen der Tatsache der Sterblichkeit und dem Streben nach Unsterblichkeit kann aber das eigentliche Feld christlichen Lebens gefunden werden. Dazu soll mit dieser Artikelserie angeregt werden.
In den abschließenden Beiträgen dieser Artikelreihe geht es um drei zentrale Aspekte christlicher Menschenkunde: Zunächst wurde der Frage der durch den Griff nach dem Baum der Erkenntnis gewandelten Wahrnehmung nachgegangen, die einen wesentlichen Anteil menschlichen Erkennens ausmacht. Im vergangenen Beitrag ging es darum, wie sich menschliches Fühlen durch den Sündenfall verändert hat und in Zukunft wieder geheilt werden kann. In einem dritten und letzten Schritt richtet sich das Augenmerk nun auf das Geheimnis von Nahrung und Verdauung, spielt doch in den Bildern der Paradieserzählung das Essen eine Schlüsselrolle. Das Aufnehmen der verbotenen Frucht in den eigenen Leib steht am Wendepunkt des Dramas von der Entfremdung des Menschen von Gott, verbindet sich jedoch zugleich im Ansatz bereits mit deren Überwindung. Ging es zuerst um die geöffneten Augen, im zweiten Schritt um das Gewahrwerden der Nacktheit, so kommt nun die Frage in den Blick, wie der Mensch die Verheißung einlösen kann, wie Gott zu sein oder zu werden. Die Schlange spricht gegenüber Eva von diesem Ziel, als würde es sich mit dem Biss in den Apfel bereits erfüllen: … Gott weiß: An dem Tag, da ihr davon esst, werden euch die Augen geöffnet, und ihr werdet sein wie Gott und werdet erkennen, was Gut und Böse ist! (1 Mose 3,5). Bereits im ersten Schöpfungsbericht war es jedoch die Gottheit selbst, die von der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott geredet hat: Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! (1 Mose 1,26). Hier wird aber zunächst vorsichtig von dem Bild, von einer Ähnlichkeit gesprochen. Wenn es zum Abschluss der Ereignisse im Paradies noch einmal direkt ausgesagt wird, verbindet sich damit der Hinweis auf den anderen Baum in der Mitte des Paradiesgartens, den es durch die Entfernung des Menschenpaares aus dem Paradies zu schützen gilt: Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, indem er erkennt, was Gut und Böse ist; nun aber – dass er nur nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baum des Lebens nehme und esse und ewig lebe! (1 Mose 3,22). In feiner Weise wird hier von einem ganz andersartigen Essen gesprochen. Nicht der unmittelbar bevorstehende Tod wird darin verheißen, sondern ein vielleicht in der Zukunft mögliches Essen, das den Menschen zum ewigen Leben führt.
Elfte Wunde: Physische Nahrung essen müssen
Wieder möchte ich auf Vorträge von Rudolf Steiner aus dem Jahr 1914 zurückkommen. In der dort entfalteten Menschenkunde wird jeweils der Unterschied zwischen der ursprünglich von der Gottheit vorgesehenen Verfasstheit des Menschen und deren Veränderung durch den Sündenfall gesprochen. In Bezug auf Nahrung und Verdauung findet sich dort zunächst nur ein Gedanke, der die Auswirkung vom Übergewicht des Astralleibes über den Ätherleib zum Inhalt hat: »Denn im Paradiese sein heißt nichts anderes, als ein geistiges Wesen zu sein und nicht nötig zu haben, physische Nahrungsmittel aufzunehmen und sie in sich zu verarbeiten.«1 Am folgenden Tag spricht Rudolf Steiner darüber, dass alle Materie ihren Ursprung im Geist habe. Im Übergang zum Sinnlichen trete aber eine deutliche Veränderung ein: »Materie liegt zugrunde ein Übersinnliches, das an die Grenze seines Wirkens gekommen ist und an dieser Grenze zerbirst.«2 Was bedeutet das im Zusammenhang mit der Ernährung? Nimmt der Mensch irdisch-materielle Nahrung zu sich, bekommt er es stets mit einem zerborstenen Geistigen zu tun. Auch für seinen materiellen Leib gilt ja das für alle Materie Dargestellte. Die irdische Nahrung muss jedoch dem menschlichen Leben fremd bleiben. In einem anderen Zusammenhang führt Rudolf Steiner dazu aus: »Man denkt ja heute: Wenn der Mensch diesen oder jenen Stoff (…) isst, so bleibt er im menschlichen Organismus im Grunde genommen dasselbe. Das ist aber nicht wahr. Annähernd dasselbe bleiben nur etwa die Salze; aber (…) was im Tier- und Pflanzenreich ist, wird im menschlichen Organismus etwas ganz anderes. Der menschliche Organismus ändert es völlig.«3 Würde der Mensch die irdische Materie unverwandelt in seinen Leib einbauen, so Steiner weiter, würde er krank: »Man wusste [früher], dass der physische Menschenorganismus in seiner inneren Zusammensetzung ›nicht von dieser Welt ist‹, (…) dass im Grunde genommen Krankwerden nichts anderes ist als eine Fortsetzung dessen, was durch das menschliche Essen geschieht. (…) Er muss erst durch seinen inneren Organismus, durch die innere organische Funktion die Krankheit überwinden. (…) Man isst sich krank und verdaut sich gesund.«4 Noch drastischer formuliert es Rudolf Steiner für die werdenden Priester der Christengemeinschaft im September 1921, als er im Zusammenhang mit dem Sakramentalismus über Verdauungsprozesse spricht: »Der Prozess der Außenwelt wird in etwas ganz anderes verwandelt und dieses Verwandeln geschieht in uns. Das äußere Materielle wird in uns verwandelt. Und was wird daraus? Es wird in uns ein Geistiges.«5 Dieser dem Abwehrprozess der materiellen Nahrung entgegenwirkende Aufbauprozess der Verdauung, so fährt Steiner fort, würde im Abendmahlssakrament vor die Anschauung der Menschen gestellt: »Die Transsubstantiation ist nicht eine Erfindung innerhalb der äußeren Welt, die Transsubstantiation ist das Hinausstellen desjenigen in die Außenwelt, was im tiefsten menschlichen Innern wirklich sich vollzieht.«6
Sündiges und heiliges Essen
Mit dem Blick auf die zwei Paradiesbäume kann vor diesem Hintergrund gesagt werden: Das die Sonderung bewirkende erste Essen führte das Menschenwesen in das Feld der Auseinandersetzung zwischen der Abwehr des Materiellen und dem Aufbau des Geistigen, das jedoch zunächst im Menschen unbewusst bleibt. Welche anderen Umstände müssten eintreten, damit ein zweites menschliches Essen nicht mehr zu Sünde und Tod, sondern zur Wiederverbindung mit dem Göttlichen und zum Leben führt? Anders gefragt: Gibt es für uns aus dem Paradies Verwiesene ein »legitimes« Essen vom Baum des Lebens? In der Welt der Legenden findet sich dazu eine aufschlussreiche Erzählung, nämlich in der sogenannten Goldenen Legende (Kreuzesholzlegende). Dort wird ein weiter Bogen gespannt vom Baum des Lebens bis zu Christus am Kreuz. Danach soll Seth vom Erzengel Michael aus dem Paradies Öl vom Baum des Mitleidens erbeten haben, um seinen Vater Adam zu heilen: »In einer griechischen Geschichte, die aber apokryph ist, findet man, dass der Engel dem Seth von dem Holze gab, daran Adam gesündigt hatte, und sprach: ›Wann dieser Zweig Frucht bringt, so soll dein Vater gesund werden.‹«7 Der Zweig wird später als gefällter Baum mit dem Bau des Salomonischen Tempels, einer Brücke für die Königin von Saba und dem Teich Bethesda in Beziehung gebracht. Das tote Holz wird schließlich aus dem Teich genommen und zum Kreuz Christi gebraucht. Die Legende zitiert Augustinus: »Es ist das Kreuz Christi: die Breite ist das Querholz, daran seine Arme waren ausgebreitet; die Länge, die da reicht von der Erde bis zu dem Querholz, daran hing sein Leib; die Höhe ist ob dem Querholz, daran hing sein Haupt; die Tiefe aber ist unter der Erde, da das Kreuz war eingegraben.« Christus wird hier als die Frucht vom Baum des Lebens erkennbar, von der in der Offenbarung des Johannes verheißen wird: Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der in der Mitte des Paradieses Gottes ist (Offb 2,7).
Werden wie Gott?!
Die Ebenbildlichkeit Gottes, so wird aus dieser Sicht deutlich, sollte nicht als Anspruch oder als gegebene Tatsache missverstanden werden. Ganz im Sinne von Kleists Marionettentheater gilt es, dass die Menschen dem Göttlichen entgegenzugehen haben: »… wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es [das Paradies] vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.« Die Gegenwart Gottes gehört zu den »offenbaren Geheimnissen« (Goethe): Er ist auch da gegenwärtig, wo wir ihn nicht erkennen oder erleben. Die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir werden können wie Gott, liegt in der Tatsache seiner Menschwerdung in der Mitte der Zeiten. Die auf den Menschen zielende Hingabe Christi, die er in seinem Opfertod am Kreuz vollendete, verbindet er mit der Einsetzung des Heiligen Mahles. Prophetisch gibt er sich in seinem Leib und seinem Blut gleichermaßen als Speise und Heilmittel der Seele hin. Die Seinigen lädt er ein, fortan Gott selbst im Essen des Lebendigen in sich aufzunehmen, um ihn aus dem Inneren wieder in das Äußere der Welt hinein wirksam werden zu lassen.
Solange wir im Leibe leben, können wir dem Gesetz des ersten Essens nicht entgehen. Seine auf den Tod zielende Wirksamkeit bleibt bestehen. Und das zweite Essen, als ein Lebendiges, erfüllt sich nicht im einmaligen Vollzug. Als chronisch Sündenkranke bedürfen wir fortwährend der »heilenden Arzenei« für unsere Seele. Was sich täglich unbewusst in unserer Verdauung abspielt – das Drama von der Abwehr des Materiellen und der Wandlung ins Geistige – braucht unsere Aufmerksamkeit, mit der wir diese Wunde unseres Menschseins erkennen, tragen und zu heilen versuchen.
1 Rudolf Steiner: Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes, GA 134, Dornach 1990, S. 56.
2 Ebd., S. 74.
3 Rudolf Steiner: Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus, GA 218, S. 96.
4 Ebd., S. 97.
5 Rudolf Steiner: Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken II, GA 343_1, S. 43.
6 Ebd., S. 44.
7 Von des heiligen Kreuzes Findung, in: Richard Benz: Die Legenda aurea, Heidelberg 1979, S. 349ff.
Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg