Jungfrauengeburt und zwei Jesusknaben Das Wirken des Heiligen Geistes in der Menschwerdung
Weder Paulus noch Johannes oder Markus erwähnen die Geschichten von der Geburt Jesu; wir hören davon einzig durch Lukas und Matthäus. Die frühen Leser der Weihnachtsgeschichten vermuteten, dass die Mutter Jesu die Geschehnisse erinnert und später erzählt hat. Was uns bei Lukas und Matthäus vorliegt, ist aber keine Erzählung aus der Perspektive Marias und es ist auch kein Bericht, der auf ihre Erinnerung verweisen würde, sondern eine Darstellung wie aus der Vogelperspektive einer ruhigen Allwissenheit. Bei Lukas wird der Leser zum Zeugen einer intimen Szene zwischen der Verlobten des Joseph und dem Engel, bei der niemand sonst dabei gewesen sein kann. Hier fragt Maria den Engel, der ihr die Geburt eines Kindes ankündigt, wie das denn sein könne, da sie doch von keinem Mann wisse. Die Antwort des Engels lautet: Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden (Lk 1,35). Das wurde als Hinweis auf das Wunder einer jungfräulichen Geburt interpretiert, zum Bestandteil des Glaubensbekenntnisses erhoben und in der Katholischen Kirche sogar zum Dogma. Bei Matthäus wird es noch deutlicher ausgesprochen: Als Maria, seine Mutter, dem Joseph vertraut war, fand sich’s ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem heiligen Geist (Mt 1,18f). Bei allen Unterschieden scheinen Matthäus und Lukas somit in der Behauptung des Wunders der Jungfrauengeburt übereinzukommen.
Die Jungfrauengeburt ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Hauptproblem in der Interpretation der beiden Geburtsgeschichten. Im frühen Christentum war das noch nicht so; man hatte statt dessen über die Abweichungen zwischen den beiden von Lukas und Matthäus angeführten Ahnenreihen nachgedacht. Und da versuchte man die Unterschiede durch die Sitte zu erklären, dass in Israel ein Mann für seinen verstorbenen Bruder mit dessen Frau einen Nachkommen zeugen soll. Matthäus hätte dann beispielsweise Joseph als den Sohn seines natürlichen Vaters Jakob dargestellt, Lukas aber als den des »gesetzlichen« Vaters Heli, der für seinen Bruder Jakob nach dessen Tod einen Nachkommen stellvertretend gezeugt hat. Dazu kommt dann in den Erklärungen mancher früher Autoren noch eine Stiefvaterkonstellation beim stellvertretend zeugenden Bruder, durch die sich die Ahnenreihen gabeln.
Für heutige Theologen ist die Nichtübereinstimmung der Stammbäume kein Thema mehr. Dass sich die Darbringung im Tempel nach 40 Tagen und die sofortige Flucht nach Ägypten wegen des Kindermordes gegenseitig ausschließen, bestätigt dafür die schon wegen der Jungfrauengeburt aufgekommene Vermutung, dass es sich bei beiden Geburtserzählungen um Legenden handelt. Im Protestantismus interpretiert man die Geistwirkung bei der Geburt als literarische Darstellung der sich in Jesus erfüllenden Verheißung. Lukas meint mit den Worten des Engels und der Beteuerung Marias, von keinem Mann zu wissen, keineswegs, dass Gott an Josephs Stelle gezeugt hätte, sondern er will seinem Leser gleich im Eingang des Evangeliums zeigen, dass die Verheißung eines endzeitlichen messianischen Reiches jetzt in Jesus von Nazareth erfüllt werden wird.1 Die Jungfrauengeburt wird in der protestantische Theologie somit preisgegeben, und in der unausgesprochenen Folge wird Christus dann vom Sohn Gottes zu dessen menschlichem Repräsentanten. In der katholischen Theologie bleibt die Jungfrauengeburt demgegenüber größtenteils als Glaubensinhalt aufrechterhalten, und Christus bleibt Gottes Sohn.2 Dafür aber treten Glauben und Wissen in deutlichen Widerspruch zueinander.
Die Jordantaufe: Berufung, Adoption oder Fleischwerdung?
Wenn wir von der Lektüre des Johannesevangeliums herkommen, dann sollte eine Geburtsgeschichte eigentlich eine Geschichte von der Fleischwerdung des Logos sein. Statt dessen finden wir bei den Synoptikern Erzählungen von der Geburt des Messias. Vom Messias wird erwartet, dass er die Nachfolge des Königs David antritt, dass er also von diesem abstammt.
Wie jeder König im alten Orient wird er dann im kultischen Sinn zum »Sohn Gottes« gesalbt. Die Einsetzungsworte dieser Salbung »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt« (vgl. Psalm 2,7) werden als Erhebung des Königs in ein Repräsentanzverhältnis verstanden, als Inkraftsetzungsformel einer rituellen Adoption. Im Lukasevangelium ertönen diese Worte bei der Jordantaufe vom Himmel herab, und die Taufe wird deshalb als Berufung des Davidsohnes Jesus zum Messias interpretiert. Es sind dann die christlichen Gnostiker, die die Jordantaufe als Erzählung von der »Fleischwerdung« des Logos lesen. Freilich hatten sie sich vorgestellt, dass der Logos den Leib des Jesus vor dessen Tod wieder verlässt und dass die Begegnungen mit dem Auferstandenen eigentlich nur eine Reihe von geistigen Belehrungen waren. Sie haben die »Fleischwerdung« somit nur als Erscheinung im Sinn einer Inkorporation vorgestellt.
Im anthropologischen Horizont der Anthroposophie stellt sich demgegenüber eine jede menschliche Geburt als »echte« Fleischwerdung dar, nämlich als Übergang aus einem vorgeburtlichen Dasein in das irdische. Das Kind ist ja nicht bloß die Erscheinung eines vorgeburtlichen »Wesenskerns«, sondern der vorgeburtliche Mensch selbst, aber durch die Inkarnation verwandelt. So müsste eigentlich auch die Fleischwerdung des Logos vorgestellt werden. Aber nun ist ja der Logos noch kein Mensch. Mit der Inkarnation des Logos vollzieht sich zugleich auch seine Menschwerdung. Er kann sich deshalb weder im Leib der Maria noch am Jordan so wie ein Mensch inkarniert haben. Inkarniert hat sich freilich der Mensch Jesus und zwar, wie Steiner es zunächst wiederholt vorgetragen hatte, als Wiederverkörperung des alten persischen Eingeweihten Zarathustra. Der Logos trat dann auch für Steiner erst mit der Jordantaufe in den Leib Jesu ein. Wie können wir als Leser Steiners einerseits die Menschwerdung und andererseits die »echte« Inkarnation des präexistenten Gottessohnes begreifen?3 Für die Entscheidung dieser Frage sind die unerwarteten Entdeckungen Steiners über das Verständnis der Jesusgeburt im Lukasevangelium auschlaggebend, die er im September 1909 in Basel vortrug.
Die Entdeckung der Zweiheit der Jesusknaben
In dem Weihnachtslicht, das die Geburt Jesu umgibt, in der »Klarheit des Herrn« (Lk 2,9), erkennt Steiner 1909 das Leuchten des geläuterten Astralleibes des Buddha, in dem dieser zur physischen Geburt Jesu erscheint. Mit der Geschlechtsreife wird sich dann – wie bei jedem Kind, nur etwas früher – die Geburt des Astralleibes ereignen. Dabei wird eine »astralische Mutterhülle« frei, die hier nun eine ganz besondere Beschaffenheit besitzt und dem Buddhismus als eine verjüngende Kraft zufließt.4 Davon hatte Steiner noch nie zuvor gesprochen, und das wäre mit der astralischen Hülle des alten Zarathustra undenkbar gewesen. In dem Jesuskind musste sich vielmehr ein ganz junges und unschuldiges Wesen verkörpert haben. Steiner entdeckt in diesem Zusammenhang die vom Sündenfall unberührt gebliebene Schwesterseele des gefallenen Adam. – Gäbe es nicht die gravierenden Unterschiede zwischen den Geburts- und Kindheitserzählungen von Matthäus und Lukas, wäre es wohl schwer geworden, mit dem aufbrechenden Widerspruch zwischen Jesus als Inkarnation des »alten« Zarathustra und Jesus als der »jungen« Adamseele umzugehen. So aber eröffnet sich die Möglichkeit, dass bei Matthäus und Lukas nicht nur zwei verschiedene Geburts- und Kindheitserzählungen vorliegen, sondern zwei verschiedene real gelebte Geschichten.5
Das für uns damit jedoch aufkommende Problem, wie es denn von zwei Jesusknaben zu dem einen Jesus kommt, der später zum Jordan geht, könnte für Steiner dabei schon direkt mit der Entdeckung der Verjüngung des Buddhismus verbunden und gelöst gewesen sein. Denn der unerwartet weisheitsvolle Auftritt des zwölfjährigen Jesus im Tempel stellt sich ihm nicht alleine als die Geburt von dessen Astralleib dar, sondern zugleich auch als das Ereignis einer Wesensvereinigung: Das Ich des wiederverkörperten Zarathustra, dessen Geburt Matthäus erzählt, geht mit in den nathanischen Jesus bei Lukas über und vereinigt sich mit dem noch ganz unbeschriebenen Seelenwesen dieses Knaben. Der nun »ichlose« Matthäus-Jesusknabe stirbt kurz darauf. Zum Jordan wird später der unschuldige Teil des ursprünglich geschaffenen Adam gehen, der den geschichtsgesättigten Zarathustra als Repräsentanten der durch den Sündenfall hindurchgegangen Menschheit in sich trägt.
Die Wirkung des Heiligen Geistes
Der Übergang des Zarathustra-Ich in den lukanischen Jesusknaben lässt sich vor dem Horizont der anthroposophischen Wesensglieder-Anthropologie nach anfänglicher Irritation einigermaßen nachvollziehen. Dass beide Elternpaare und ihr Kind jeweils die gleichen Namen getragen haben sollen, will mir hingegen nur schwer einleuchten. Hier erscheint mir vielmehr die Vorstellung plausibler, dass sich die beiden Evangelisten dieser Namen bedient haben, weil sie Geburt und Kindheit des Christus von Kreuz und Auferstehung her erzählt haben. Die Verschmelzung beider Familien zu einer einzigen, macht aber jedenfalls verständlich, dass die Zweiheit der Familien frühzeitig in Vergessenheit geraten sein wird.
Uns Lesern dieser Geschichten vermittelt nun die Annahme einer Zweiheit der Jesusknaben eine ganz neue Ausgangssituation für das Verständnis von der Menschwerdung Gottes. Sie hätte nicht in dem wiederverkörperten Zarathustra geschehen können, denn dieser war lediglich ein herausragender einzelner Mensch, aber nicht »der« Mensch, wie der von Gott geschaffene Adam. Aber in der Seele des lukanischen Jesus ist dieser von seiner unschuldig gebliebenen Seite her anwesend. Adam ist der Urmensch, zu dem sich alle einzelnen Menschen wie Abbilder zum Urbild verhalten, während Zarathustra der Repräsentant für alle von Adam abstammenden Menschen ist. Nur durch eine ganz unerhörte Konstellation von Ereignissen konnte ein einziges Mal ein solcher Mensch hervorgebracht werden, in dem der Sohn Gottes »Mensch« werden konnte, nachdem das Ich des Zarathustra ihn wieder verlassen hatte. Der Mensch Jesus ist in dieser Einzigartigkeit jetzt mehr als eine bloße Hülle, in die der Logos vorübergehend schlüpft, um im Erdendasein wirken zu können, wie das bei vielen Eingeweihten zuvor schon partiell der Fall war. Für die Gnostiker hat weder die göttliche Schöpfung noch die irdische Geschichte einen Wert, der es erlauben würde, das Wirken des Heiligen Geistes in ihr zu denken. Aber es ist der Heilige Geist, der in der Ermöglichung und Gestaltung dieser unwiederholbaren Geschichte am Werk war. Und wenn wir dabei dann das Ereignis am Jordan im übertragenen Sinn als »Zeugung« ansehen und den dreijährigen Weg zum Kreuz einschließlich der Passion als Schwangerschaft, dann wird die Menschwerdung Gottes zu einer Inkarnation im eigentlichen Sinn.6 So betrachtet entspricht das Geschehen von Golgatha mit Tod und Auferstehung der Geburt. Während die katholische Theologie die Gottessohnschaft Jesu in der Jungfrauengeburt um den Preis des Widerspruchs von Glauben und Wissen bewahrt, mündet die protestantische Theologie in eine Auffassung von Christus als Repräsentanten Gottes. Als Leser Steiners bewegen wir uns in der offenen Mitte von Glauben und Wissen. Die Zweiheit der Jesusknaben, die die Menschheit repräsentiert, ermöglicht es uns, die Jordantaufe als Zentrum der Menschwerdung und Inkarnation des Gottessohnes anzusehen. Damit sind wir frei, an die Jungfrauengeburt zu glauben, ohne sie zur Bedingung der Inkarnation machen zu müssen.
1 Es ist das Schöpfungswort der Genesis, das in Jesus den endzeitlichen Menschen, den zweiten Adam hervorbringt. Vgl. Walter Grundmann: Das Evangelium nach Lukas, Berlin (1961) 9. Aufl. 1981, S. 60.
2 Vgl. Thomas Marschler: Die inkarnationstheologische Relevanz der jungfräulichen Geburt Jesu, in: Mein Herr und mein Gott, Freiburg/Basel/Wien 2013.
3 Vgl. zu all diesen Fragen die anregende Kontroverse zwischen Günter Röschert, Wolfgang Gädeke, Klaus J. Bracker und Michael Frensch über die Beziehung zwischen weihnachtlicher Christgeburt und Inkarnation des Logos im Korrespondenzblatt Nr. 3, Dezember 2021 bis Nr. 6, Januar 2023.
4 Vgl. Steiner, Rudolf: Das Lukas-Evangelium, Dornach 2001, GA 114, Vortrag vom 18. September 1909, S. 72f.
5 Vgl. hierzu die umfassende und sorgfältig recherchierte Studie von Hella Krause-Zimmer: Wann begann Rudolf Steiner über die zwei Jesusknaben zu sprechen und wie klangen seine Darstellungen des Themas vorher? in: Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Nr. 168, Ostern 1988, S. 28–41.
6 Vgl. Steiner, Rudolf: Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium, GA 148, Dornach 1992, Vortrag vom 3. Oktober 1913, S. 40ff.
Dr. Jörg Ewertowski, geboren 1957, Leiter der Rudolf Steiner Bibliothek Stuttgart