Bangen kann schöpferisch werden

AutorIn: Ulrich Meier

Die Geschichte handelt von bangen Stunden und Tagen. Der 16-jährige Junge, seinem einsilbigen und in pädagogischen Dingen unerfahrenen Onkel Simon in Calgary zur vorübergehenden Betreuung über­lassen, verschwindet nach einem heftigen Streit ohne Nachricht in der Wildnis der kanadischen Rocky Mountains. War der freundliche Tischnachbar im Restaurant, der den Jungen am Vorabend zu einer großen und  ge­fährlichen Bergtour zusammen mit seinem eigenen Sohn eingeladen hatte, am Ende nicht so selbstlos, wie er vorgab? Wollte er mit seinem überfreundlichen Habitus den anhänglichen Knaben an sich binden oder ihn gar ausbeuten und töten? Hatte Simon in seinen unsicheren Versuchen, dem Neffen seine Begeisterung für die Wildnis auszureden und die mehrtägige Tour mit dem fremden Mann zu verhindern, das heimliche Verschwinden nicht erst befördert und herbeigeführt? In seinem Bangen um den Entlaufenen bleibt der nur auf sich gestellte Onkel jedoch nicht lange allein. Schnell schaltet sich die örtliche Polizei ein, der Simons Verhalten jedoch bald verdächtig vorkommt. Schwester und Schwager fliegen aus den Niederlanden ihrem in ferne Obhut gegebenen Sohn hinterher. Im Gepäck haben sie nicht nur haufenweise Vorwürfe, sondern auch ein schlechtes Gewissen, weil sie Simon verschwiegen hatten, aus welcher desolaten seelischen Lage heraus sie den Jungen in die kanadische Weite geschickt hatten. In das Bangen aller Beteiligten um das innere Wohlergehen, die Gesundheit und das Überleben des verschwundenen Halbwüchsigen gräbt sich noch ein anderes, ein stetig wachsendes Bangen jedes der unruhig und verzweifelt Suchenden: Wie lebe ich mit der Schuld an dem möglichen Verhängnis? Was ist aus meinem ­eigenen Leben geworden und wie soll es jemals wieder normal werden? Was geschieht, wenn man mich für meine Fehler gegenüber dem Jungen zur Verantwortung ziehen wird?

Die niederländische Autorin Lot Vekemans, aus deren komponierender Phantasie die zunächst düstere Geschichte hervorgegangen und in ihrem neuen Roman Der Verschwundene niedergelegt ist, entfaltet ihre erzählerische Meisterschaft auch in ihren früheren Arbeiten1 in besonderer Weise dadurch, dass sie das Verweben indivi­dueller Strebungen zu gemeinschaftlichen Schick­­salen erlebbar machen kann. So erscheinen Ohnmacht und Kraft, Entfremdung und Verbundenheit, nun auch Bangen und Hoffen als die sich scheinbar oder tatsächlich widerstrebenden Elemente, aus denen persönlich-biographische und gemeinschaftliche Veränderung und Wandlung hervorgehen können.
Und worum geht es dabei im Gefühl des Bangens? Ich verstehe das Wort so, dass es auf das innere Schwanken der Unsicherheit über den Ausgang einer aktuellen Erfahrung verweist – zwischen der Furcht vor dem unglücklichen und der Hoffnung auf das glückliche Ende. Dabei ist die Frage, ob es allein Gott oder der Zufall ist, der über Glück oder Unglück bestimmt, oder ob die Art, wie wir fürchten, bangen und hoffen, einen Anteil daran hat, wie etwas ausgeht. Was wir mit Bangen erwarten, ist gewiss immer unverfügbar, aber hat unsere innere und äußere aktive Beteiligung, selbst in der Schwäche und Ohnmacht vor der Ungewissheit, nicht auch eine Auswirkung auf das Geschehen?
Zurück zur Geschichte über den Verschwun­de­nen: Der Junge, dessen unvermutete Wiederkehr ebenso leise und unspektakulär vor sich gehen wird wie sein Verschwinden über Nacht, bleibt der abwesende Ruhepol der geschilderten Bewegungen. Er ist vom verzweifelten Bangen der ­besorgten Familienmitglieder von allen ­Seiten her umgeben – und zugleich verschont von der Unmittelbarkeit der mitschwingenden Ängste. Tatsächlich war er in den Tagen der ­Unauffindbarkeit sorglos und gut aufgehoben bei einer Freundin seines Onkels, die er vorher nur kurz kennengelernt hatte. So richtet sich die geballte Dynamik aus Furcht und Verzweiflung, Ban­gen und Hoffen auf die viel­fä­l­­ti­­gen ­Beziehungen der Sorgenträger – zu dem Jungen, zu sich selbst und zu den Wechselverhältnissen zwischen ­ihnen. Zuerst verändert sich bei den Beteiligten verständlicherweise das Verhältnis zu dem Verschwundenen selbst. In der potenziell gefahr­vollen Abwesenheit erscheinen den bangen Herzen der Wert und die Vorzüge des Jungen erst in ihrer vollen Wirklichkeit. Bilder von pubertären Anstößigkeiten und Antipathien erweckenden Verhaltensweisen weichen unversehens der war­men Zuneigung und Fürsorge für den womöglich Bedrohten. Wie großzügig möchte man werden, wenn er wieder da ist. Wie aufmerksam auf seine Bedürftigkeit und seine Verletzlichkeit …

Als nächste Frucht des Bangens klärt sich das Verhältnis der beiden Geschwister untereinan­der und zu deren Eltern. Plötzlich erinnert man nicht mehr das schon hundertmal beklagte unglückliche Geschick der Kindheit, sondern spürt auch die Not der eigenen Eltern, die sich in der aktuellen Not der erwachsen gewordenen Kinder spiegelt. Lange Verschwiegenes kann endlich gesagt, lange bewahrte schlechte Familiengeheimnisse können aus ihrem Tabu gelöst werden. Selbst die marode gewordene Beziehung zwischen Schwager und Schwester findet in der gemeinsamen Sorge um das schon ver­loren geglaubte Kind neues Leben. Wo und wie genau sich das schlimmste Angenommene in die Kehre zum Beginn der Heilung in den inneren Seelenlandschaften bewegt, ist beim Lesen oft kaum auszumachen. Mit großer Zärtlichkeit ­erzählt Lot Vekemans, was ihr aus eigenem Er­leben und Erfahren vertraut sein muss: Wenn uns das Bangen nicht verschließt, sondern für das nicht zu erwartende, aber mögliche Positive empfänglich macht, wird gerade dort Wandel möglich, wo er aus eigener Kraft nicht zu leisten wäre.

Erlebt man diese leise Umkehr von der Angst vor der Verschlimmerung zum beginnenden Wandel in das noch bang Erhoffte, so öffnet sich im weiteren Verfolgen der Geschichte ein Fenster für das anfangs noch Unglaubliche in Simons Leben: Stand er am Morgen, als ihm das Verschwinden des Jungen schreckhaft bewusst wurde, noch ganz im Zentrum der eigenen und später auch der fremden Anschuldigungen, so gerät er, oftmals scheinbar ohne sein eigenes Zutun, nach und nach in eine ihm zunächst gänzlich ferne und fremde Schicht der eigenen Lebendigkeit. Ausgerechnet die Polizistin, die an ihm einen Lügendetektortest auszuführen hat und ihm hinter dem technischen Apparat als fleischgewordenes Misstrauen an seiner Unschuld vorgekommen sein muss, erweist sich nach einem zufälligen Treffen in der Bar des Ortes als der Mensch, mit dem ihm eine neue Zukunft möglich werden könnte.

Ihm und auch den Lesern wird am Ende bewusst: Nicht der Junge war hier der Verschwun­dene, bevor er nach Tagen wiedergefunden wird. Es war eigentlich sein Onkel, der sich bereits mit seinem Auswandern ­vor 25 Jahren verloren gegangen war, über den in dem Roman Der Verschwundene erzählt wird. Durch Simons Bangen um den Heranwachsenden konnte er auch um seine eigene Zukunft wieder bangen und hoffen lernen. Seine Abkehr von den selbst auferlegten Zwängen des Überlebens in der Unwirtlichkeit der kanadischen Fremde lässt ihn am Ende sein schöpferisches Potenzial ahnen, mit dem er von einem aus der eigenen Bio­graphie Verschwundenen zu einem ins Leben Zurückgekehrten werden könnte.

Lot Vekemans: Der Verschwundene, Roman, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 226 Seiten, € 22,–

1  Zum Beispiel: Gift. Eine Ehegeschichte (2009), Schwester von … (2010), Ein Brautkleid aus Warschau (2016).

 

Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg