Kirchenfreies Christentum (I) Alltägliche religiöse Praxis: Begrenzen und entgrenzen

AutorIn: Ulrich Meier

Die gegenwärtige Krise des Christentums scheint mir vornehmlich eine Krise der Kirche in ihrem ­Selbstverständnis als Organisatorin religiöser Praxis zu sein. Nicht nur das Vorgeben kirchlicher Lehren für Denken und Glauben, sondern auch eine gottesdienstliche Praxis, in der den Gläubigen über­wiegend eine Konsumentenrolle zukommt, geht an der zeitgemäßen Frage vorbei: Wie können ­Glaube und religiöse Initiative aus der priesterlichen Kraft jedes einzelnen Christenmenschen hervorgehen? Kirche wäre demnach nicht mehr der vorgegebene Ort, dem sich Christen mit ihrem Denken, Empfinden und Handeln ein- und unterordnen, sondern ein freier Platz, an dem sich die Potenziale der Glaubenden erst zu christlicher Gemeinschaft zusammenfügen. Die Beiträge dieser Artikelserie möchten dem Entdecken und Aktivieren religiöser Kompetenzen im Alltag dienen, die als Grundlage einer christlichen Gemeinschaftsbildung aus dem Individuum verstanden werden können.

 

Das Unendliche

Nimmt man zur gedanklichen Annäherung an die religiöse Dimension des Lebens nicht gleich die Existenz Gottes an, sondern zunächst nur die Abwesenheit der vertrauten Grenzen des Endlichen, so öffnet sich der Blick auf eine zwar nicht zwingend beweisbare, aber doch mögliche Welt, der das Phänomen Ende fremd ist. Für das Erleben der Seele sind die beiden Übergänge von Einschlafen und Aufwachen selbstverständlich: Zwar wird das abendliche Ende der Wachphase als Begrenzung der Tagesaktivität erlebt, schon der unscharfe Grenzübertritt des Einschlafens markiert jedoch den Anfang vom Verlust der Eigenwahrnehmung. Tritt diese beim Aufwachen am Morgen nach und nach wieder ein, bleibt die hinter der Grenze des nächtlichen Schlafs befindliche Welt des Unbewussten der klaren Reflexion verborgen. Aus diesem subjektiven Erleben zu schließen, dass mit jedem Tagesende eine Auslöschung unseres Selbst und mit jedem Aufwachen dessen Neubeginn stattfinde, widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung. Der bewusste Anteil des Menschseins findet sich in den Grenzen des Wachzustandes, der unbewusste Teil existiert jedoch weiter in der grenzenlosen Welt des Unendlichen. Wie wäre es, wenn ich mich statt auf die bewusste Seite des Endlichen auf den unbewussten Teil meiner selbst stellen würde, der der Unendlichkeit angehört? Das die Welt des Endlichen und des Unendlichen umgreifende Wesen Gottes wird theologisch als allmächtig benannt. Es muss vor diesem Hintergrund nicht mehr als ein von außen wirkender Herrscher in der Unerreichbarkeit himmlischer Welten erscheinen. Gott kann mir durch seine potenzielle Anwesenheit im Unendlichen wie im Endlichen als dem Menschen grundsätzlich zugängliches Wesen erscheinen, weil es wie ich mit beiden Sphären verbunden ist. Gott, so glauben Christen, ist durch seine Menschwerdung in Jesus Christus kein fremdes Gegenüber mehr, sondern ein dem Menschen geschwisterliches ­Wesen. Dazu kann auch die Überzeugung kommen, dass wir ihm nicht nur durch die Vermittlung von Kirchen, sondern auch ohne Kirchenzu­gehörigkeit kraft unserer inneren Potenziale begegnen und verbunden sein können. Das spricht nicht grundsätzlich gegen Kirche, aber gegen den Anspruch, dass Gott nur dort erreichbar wäre. Auch seine Anwesenheit, so kann man denken, ist nicht auf bestimmte Orte begrenzt, sondern ereignet sich aus und mit grenzenloser Unendlichkeit.


Zwischen Angst und Vertrauen

Beides trifft uns alltäglich: die Enge des zu sehr Begrenzten und die oft überfordernde Weite des Unendlichen. In der Psychologie wird von den zwei gegensätzlichen Ängsten der Klaustrophobie (Angst vor Abgeschlossenheit) und der Agoraphobie (Angst vor weiten Plätzen) gesprochen. Was mich in der drohenden Abgeschlossenheit fürchten macht, kommt aus einer anderen Richtung als die Platzangst – die Furcht vor der möglichen Auflösung und dem Verlorengehen, wenn mir keine Grenze mehr Halt gibt. Diese beiden Ängste kulminieren in der Furcht vor Sterben und Tod: Beim Sterben kann die Angst groß werden, in der sich steigernden Enge des Lebensendes von der Gewalt der eigenen Ohnmacht erdrückt zu werden. Die Aussicht auf die Leere im eintretenden Tod kann die andere Angst aufrufen, die aus dem Gefühl der drohenden Auslöschung gespeist wird. Die kleinen und großen Ängste des Alltags tragen den Charakter dieser Polarität von Enge und Weite. Aber auch das Leben ereignet sich aus dem Dialog solcher Gegensätze. Goethe ordnete sie einmal dem Strom des lebenspendenden Atems zu:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
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Für den Dichter hat dies übrigens eine unmittelbare Beziehung zur religiösen Praxis. So schließt er das Gedicht mit folgenden Zeilen:
Du danke Gott, wenn er dich presst,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.

Stehen die Ängste für die zwar weckende, aber letztlich hinderliche Gefährdung des Lebens, so kann zur Förderung und Stärkung des Lebens auf der anderen Seite des Empfindungsspektrums die Fähigkeit erscheinen, Vertrauen fassen zu können. Ist Kindern das unbedingte Vertrauen in das Leben noch ohne eigenes Zutun gegeben, so müssen Erwachsene selbst die passenden Wege finden, die Kraft des Vertrauens aktiv in der Seele zu kultivieren. Im traditionellen kirchlich-christlichen Verständnis ging es noch eher um ein kindliches Grundvertrauen, um eine tiefe Geborgenheit in Gott. Wer sich im Glauben mit dem Göttlichen verbunden hatte, durfte im Gegenzug auf seinen Beistand und Schutz vertrauen. Dieses Gefühl der Sicherheit hat, auch für die Gläubigen, in den vergangenen Jahrhunderten stetig abgenommen. Wer sich heu­te in Gottvertrauen üben möchte, braucht dafür den Mut, sich auf den unsicheren und unberechenbaren Weg eines Vertrauens im An­gesicht von Angst und Zweifel zu begeben. Ruth Ewertowski schreibt in ihrem Buch über dieses Lebensprinzip von einer Verbindung von Vertrauen und Wagnis, die sie gegen das Risiko abgrenzt: Im Vertrauen liegt die Überwindung, oder besser: die Verwandlung der Angst, ohne dabei die Gefahren kleinzureden. Während der Risikobe­reite von der Gefahr beflügelt ist und sie zu-
gleich verdrängt, um handeln zu können, wendet der Wagende sie um. Zum bewussten Vertrauen gehört das Wagnis.
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Grenzen schließen – Grenzen öffnen

Zu den grundlegenden religiösen Praktiken aller Zeiten gehört es, sich begrenzte Zeiten am Tag oder in der Woche herauszunehmen, in denen abseits alles Nützlichen und Notwendigen die freie und bewusste Zuwendung zum Unendlichen gepflegt wird. Schon diese durch den wiederholten Entschluss geschaffenen persönlichen Auszeiten ermöglichen Inseln im fremdbestimmten Alltag, die der inneren Kräftigung zugutekommen. Hilfreich ist, sich Beginn und Ende dieser Augenblicke durch wiederkehrende Zeichen zu markieren. Der Blick kann auf einer Kerzenflamme oder einem Bild zur Ruhe kommen, das Hören durch einen wiederkehrenden Klang eingestimmt, Herzschlag und Atem im Schweigen in ein ruhiges Gleichmaß gelangen. Auch der äußere Ort für eine solche Besinnung, für die Meditation oder das Gebet kann durch eine sinnvolle Gebärde der Begrenzung vorbereitet werden. Christus empfiehlt seinen Jüngern für das Gebet: … so geh in deine Kammer, und wenn du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem ­Vater, der im Verborgenen ist! Und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten (Mt 6,6).
Bemerkenswert scheint mir hier die produktive Spannung im Begrenzen für das Entgrenzen: Ich mache Raum und Zeit eng, um die Seele ins Weite zu führen. In dieser Doppelgebärde wird der Doppelheit der Ängste eine Vertrauen erweckende Balance entgegengehalten. Mein Äußeres ist in der Begrenzung gehalten, meinem Inneren öffnen sich weite Horizonte. Es schaut nicht mehr mit begrenztem Blick auf kurzschrittige Ursachen und Zwecke, sondern lernt Vertrauen auf die langen Bögen der Entwicklung, in der sich Unendliches ins Endliche einleben kann. Diese Überlegungen schließen an den Anfang des Beitrags an: Es geht in einem kirchenfreien Christentum nicht mehr nur um den Menschen in seiner Begrenztheit, der Gottes Un­endlichkeit gegenübersteht. In der Zuwendung zum Unendlichen suche ich gleichermaßen mein eigenes Unbegrenztes wie den über alle Grenzen hinweg wirksamen Gott. Kehre ich aus diesem selbst gestalteten Ausstieg aus den Grenzen des Irdischen zurück, gehen mein Vertrauen und mein Glaube auf dem Wege Gottes mit, der das Endliche fortwährend aus dem Unendlichen heraus trägt, belebt und heilt.
Am Schluss soll noch etwas konkreter und vielfältiger auf die religiösen Momente des Alltags im Zusammenhang mit unserem Thema geblickt werden: Aus der Übung der oben geschilderten regelmäßigen in der Zeit gestalteten Begrenzung und Entgrenzung kann sich eine Haltung ergeben, die für jeden auch nur kleinen Entschluss des Tages eine kurze Reise zwischen dem Endlichen und Unendlichen versucht. Wie in einem fortwährenden Atmen gehe ich dafür eine kleine Weile aus der Begrenztheit meiner selbst heraus und versuche, der Einseitigkeit einer nur irdischen Perspektive entgegenzuarbeiten. Meiner Entscheidungsschwäche setze ich das Vertrauen entgegen, dass ich mit meinem Wagnis zum Entschluss nicht ohne Hilfe anderer, auch ­Gottes, bleiben muss. Der Neigung zum alternativlosen Blick des Kurzentschlossenen halte ich entgegen, dass sowohl Ursache als auch Wirkung die Atemluft des Unendlichen nötig haben. Was sich als geglückter Einfall, als stimmige Empfindung, als durch Vertrauen getragener Mut aus solchen inneren Atemübungen ergeben kann, kann in größeren Zeitabständen durch den Versuch einer neuen Kursbestimmung ergänzt werden: Auf einer Wanderung im Wald, die ich an einer selbst errichteten Grenzschwelle beginne und ende, lasse ich mir im feinen Dialog mit dem umgebenden Leben zeigen, was ich aus meinem Leben entlassen und womit ich mich neu verbinden möchte.

 1  Aus J. W. v. Goethe: West-östlicher Divan.

2  Ruth Ewertowski: Vertrauen. Vom Verlust und Finden eines Lebensprinzips, Stuttgart 2013, S. 118.

 

Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg