Gerüchte – unwahre Trabanten der Wahrheit
Ungefärbte Haare
Gerüchte sind offene Briefe ohne Absender und ohne Adresse, bei denen jeder Empfänger zum Boten werden soll. Sie verbreiten sich indirekt und unversehens. Manchmal tun sie so, als enthielten sie streng verborgene Geheimnisse, und besonders dann stiften sie gerne zwischen denen, die ihnen willig Glauben schenken eine »verschworene« Gemeinschaft. Einige haben einen Urheber; bei vielen aber ist keiner nachweisbar. Und wenn es ihn gibt, dann trennt sich doch die Botschaft auf dem Weg der Verbreitung wie aus einer Eigendynamik heraus von ihm, so dass schließlich kaum noch jemand weiß, woher sie kommt. Selbst wenn der Urheber einsehen sollte, dass er sich geirrt hat, und seinen Fehler zugibt, verbreitet sich das Gerücht dennoch weiter. So äußerte jemand kurz nach der Jahrtausendwende in einem Interview über den damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vermutung, dass dieser glaubwürdiger wäre, wenn er seine angegrauten Haare nicht färben würde. Der Politiker gab kund, dass er seine Haare keineswegs färben würde, und die unbedachte Urheberin räumte ein, dass sie lediglich vermutet habe, dass seine Haare ergraut wären. Inzwischen aber meldete ein Oppositionspolitiker: »Ein Bundeskanzler, der sich die Haare färbt, der frisiert auch jede Statistik« und ein anderer: »Wenn ein Politiker hinsichtlich seiner Haarfarbe flunkert, worüber mag er dann noch flunkern?« Schließlich soll der Friseur des Politikers eine eidesstattliche Erklärung darüber abgeben haben, dass die Haare des Kanzlers nicht gefärbt seien.1
Lehrreich ist an diesem Vorfall, auf welch indirekte Weise die eigentliche Botschaft eines Gerüchtes wirksam gemacht wird. Hätte jemand behauptet, dass der Politiker unglaubwürdig sei, dann hätte sich diese Behauptung nicht verbreitet. Aber die Urheberin des Gerüchts setzt statt dessen eine vermeintliche Tatsache (das Färben der Haare) als bekannt voraus und sagt dann nur aus, dass der Politiker »glaubwürdiger« wäre, wenn er dies unterlassen würde. Dass der Mann unglaubwürdig sei, wird wie nebenbei unterstellt. Damit ist die Bezichtigung so inszeniert, dass ihr nicht leicht entgegnet werden kann. Die Urheberin hat ja nur gesagt, »dass er glaubwürdiger sein würde, wenn …«. – Schlussendlich sind damals dann zwar etliche Menschen über die Banalität informiert worden, dass dem Politiker immer noch keine grauen Haare gewachsen sind, aber hängen geblieben und weiter verbreitet hat sich der unterschwellig gestreute Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit.
Den Namen nicht vom Werk trennen?
Auch wahre Sachverhalte können zum Gerücht werden. Es gibt fließende Übergänge von böswillig gestreuten Unwahrheiten zu aufrichtig überlieferten Erinnerungen, die sich dann aber losgelöst vom ursprünglichen Zusammenhang verbreiten und verselbstständigen. So heißt es, dass Rudolf Steiner gesagt habe, man solle seinen Namen nicht von seinem Werk trennen. Insgeheim war ich schon lange über diese Aussage verwundert, die mir wiederholt begegnet ist. Es muss dabei doch um etwas anderes gehen als um die Verurteilung des Plagiierens. Aber was ist mit einer Trennung von Werk und Name dann eigentlich gemeint? Wäre es nicht peinlich, wenn Steiner verkündet hätte, man müsse beim Studium seines Werkes stets seinen »Namen« im Bewusstsein behalten? Nach der Frage eines Lesers in der Rudolf Steiner Bibliothek Stuttgart, wo denn diese Aussage in der Gesamtausgabe festgehalten sei, mussten wir feststellen, dass es trotz Volltextsuche im veröffentlichten Werk Steiners nicht gelang, etwas Derartiges zu finden. Glücklicherweise konnte mir der Leser, der die Frage gestellt hatte, aber drei Autoren und ihre Veröffentlichungen nennen, die sich auf diese Aussage beziehen und von denen zwei Quellen dazu genannt werden.
Ita Wegman setzte 1925 nach Rudolf Steiners Tod im Nachrichtenblatt die von ihm begonnenen Artikelreihe »An die Mitglieder« fort und musste sich dafür rechtfertigen. Sie erklärte, dass es ihr um den Versuch ging, mit dieser Artikelreihe den Bezug zu Steiner über die Schwelle des Todes hinweg aufrecht zu erhalten. Der Weg dazu sei die Beschäftigung mit seinem Werk und die Erinnerung an ihn. In diesem Zusammenhang erzählt Wegman ihren Lesern, dass Steiner ihr persönlich von seiner Sorge gesprochen habe, dass die Anthroposophie verflachen könnte und dadurch ihre Wirksamkeit einbüßen müsste, wenn sie »von ihm getrennt« würde.2 Für Wegman ging es also bei der Vermeidung der »Trennung« um das Aufrechterhalten eines Bezuges zu Steiner über die Schwelle des Todes hinweg. Auch scheint die von ihr erinnerte Formulierung Steiners auf das Problem der heute bemerkbaren Trennung der praktizierten Anthroposophie vom Werk Steiners und einer entsprechenden Verflachung vorzudeuten.
Auch Marie Steiner erinnert ein vergleichbares Gesprächswort Steiners. Diesem zufolge müsste das »Werk« seinen Intentionen entfremdet werden, wenn es vom »Namen« Steiners losgerissen würde. Die von Marie Steiner erst 1945 veröffentlichte Erinnerung soll in einem Aufsatz mit dem Titel »Welches sind die Aufgaben des Nachlassvereins?« erfolgt sein. Darauf verweist zumindest Rudolf Grosse, wenn er wörtlich zitiert: »›Er sprach zu mir von der Zeit, wo er nicht mehr da sein werde und wo ich für sein Werk einzustehen haben würde, dafür auch, dass dieses sein Menschheitswerk mit seinem Namen verbunden bliebe. Denn wenige würden ihm treu bleiben, und es bestünde die Gefahr, dass wenn sein Werk von seinem Namen losgerissen würde, es seinen ursprünglichen Intentionen entfremdet werde. Dann würden gegnerische Gewalten sich der darin enthaltenen Kräfte bemächtigen können und sie für ihre eigenen Absichten gebrauchen‹ (Juli 1945).«3 Eine zureichende Literaturangabe fehlt. Ich konnte den Artikel nicht finden. Grosse liest die Sätze als moralische Forderung, die »treu beachtet« werden müsste. Peter Selg spricht ebenfalls von den beiden Erinnerungen Wegmans und Marie Steiners, weist aber zunächst darauf hin, dass Steiner ja keineswegs wollte, dass die Menschen sein persönliches Leben studierten, sondern sein Werk, die Anthroposophie. Wenn er also dennoch im persönlichen Gespräch vor einer Trennung dieses Werks von seinem Schöpfer gewarnt hat, so sei damit die Gefahr einer intellektuellen Rezeption und »Modernisierung« angesprochen, die zu einer Entspiritualisierung und Entchristlichung der Anthroposophie führen würde.4 – Wirklich verstehen vermag ich das Wort Steiners gegenüber seiner Frau damit jedoch immer noch nicht. Wenn Steiner hingegen 1913 in einem Vortrag vor der Popularisierung und Vereinfachung seines Werkes warnt, ist mir das unmittelbar nachvollziehbar und gibt mir eine Verständnisperspektive auch für die Wegmansche Erinnerung.5 Wenn es mehr um das »Wie« als um ein abgelöstes »Was« geht, ist interpretieren und nicht informieren angesagt. Deutlich ist aber, dass die Eigendynamik der mündlichen Verbreitung der Erinnerungen an zwei Steiner-Worte ohne Hinweis auf die jeweiligen Zusammenhänge und somit ohne die Möglichkeit einer Interpretation die Wesenszüge eines Gerüchts angenommen hat. Die Botschaft des Gerüchts, das sich aus den beiden Erinnerungsveröffentlichung erhoben hat, ist letztlich durch die Isolierung vom Zusammenhang als unwahr anzusehen, auch wenn es sich dabei weder um Irrtum noch um Lüge handelt. Gerade hier vollzieht sich eine Trennung von »Name und Werk«, nämlich die Trennung der sich verbreitenden kürzelhaft verflachten Botschaft von den jeweils konkreten Erinnerungen der beiden Steiner so nahestehenden Frauen. Die Flügel des Gerüchtes suggerieren dann, dass es weniger um ein Verstehen als um ein Befolgen geht, dass derjenige, der die Botschaft weitergibt, somit »den Namen bewahrt«. Dass diese und andere Erinnerungen in quasi-religiöser Weise weitergegeben werden (Wegmans Artikel endet gar mir einer Art Gebet an Steiner) macht die Sache dabei nur schlimmer. Diese Art der Verehrung provoziert zum Ausgleich Gegenbilder.
Die Tabakmarke »snow«
Das Gegenstück zur Verehrung ist die Verdachtshermeneutik, die in die Leerstellen fehlender produktiver Interpretationen stößt. So lesen wir in einer 2011 erschienenen Biographie Steiners von Helmut Zander: »Kritiker und Wissenschaftler haben sich auch gefragt, welche psychische Disposition Steiner besaß, ob er, polemisch gefragt, ›geisteskrank‹ war oder, seriöser, an Schizophrenie litt. Aber neuere psycho-medizinische Überlegungen dazu fehlen. Oder nahm er vielleicht doch Drogen? Mit dem Schnupftabak, den er liebte, könnte er auch Kokain, den ›Schnee‹, wie es in seinen Briefen heißt, zu sich genommen haben, vielleicht bewusst, vielleicht auch ohne es zu wissen.«6 In der dazu gehörenden Endnote des Buches schrumpfen die »Wissenschaftler«, die hinter der Schizophrenie-Vermutung stehen auf einen einzigen zusammen, nämlich auf Wolfgang Treher, den Autor eines obskuren Buches über Hitler und Steiner aus dem Jahre 1966. Treher hat im Selbstverlag später noch über »Hegels Geisteskrankheit« veröffentlicht. – Für die Kokain-Möglichkeit nennt Zander in der Endnote Cornelia Giese, die unter dem Pseudonym Juliane Weibring 1997 ein Buch über die Frauen um Rudolf Steiner veröffentlicht hatte. Die Autorin stieß im Briefwechsel zwischen Rudolf Steiner und Edith Maryon auf eine Bestellung von »Schnee« und schlussfolgerte, dass es sich um Kokain handele. Ihr war entgangen, dass in den Endnoten (Hinweisen) des Briefbandes ein von der Engländerin Maryon für Steiner vorformulierter englischsprachiger Bestellbrief an den Tabakladen »Salmon and Gluckstein« abgedruckt ist, aus dem hervorgeht, dass es sich bei dem von den Briefpartnern so genannten »Schnee« um Steiners Lieblingsschnupftabak »Snuff« handelt. Durch die Rezensionen des Weibring-Buches war der offensichtliche Irrtum bereits 1998 aufgeklärt.7
Gerüchte haben mehr Anziehungskraft als die Wahrheit, denn sie schmiegen sich unseren Wünschen und geheimen Erwartungen verführerisch an und betäuben das Kritikvermögen. Was die ehemalige Waldorflehrerin Cornelia Giese alias Weibring aus den Briefen ohne jede Selbstkritik vorschnell herauslas, hat Zander in der ihm eigenen Weise als »Möglichkeit« aus allen Zusammenhängen herausgelöst und gekonnt weiter in Umlauf gebracht. Die pure Möglichkeit, dass etwas sein könnte, wirkt ja bekanntlich stark auf empfängliche Seelen.
Ein solcher Auftritt der Möglichkeit ist der Doppelgänger jener anderen kritischen Möglichkeit, die der ergebnisoffen und selbstkritisch Wahrheitssuchende neben andere Möglichkeiten hält, um sie gegeneinander abzuwägen. Die verführerisch angebotene Möglichkeit ist Pseudokritik, eine Frucht, die jeweils von einer der vielen Nachkömmlinge jener Schlange präsentiert wird, die sich an Eva mit der Frage wandte: »Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von den Früchten der Bäume im Garten?« – Sollte Gott das wirklich gesagt haben? – Das war die Geburt des ersten Gerüchts.
1 Scheele, Michael: Das jüngste Gerücht, Heidelberg 2006, S. 91f.
2 »Denn so waren einmal seine eigenen Worte: Ich habe nur den physischen Plan zu verlassen, und wenn es dann den Gegenmächten gelingen würde, die Anthroposophie von mir zu trennen, in dem Sinne, dass die Lehre an die breite Masse geht, ohne Kenntnis von mir, so dass sie verflacht, dann würde das geschehen, was von ahrimanischen Wesen gewollt und bezweckt war.« Ita Wegman: An die Mitglieder, in: Nachrichten für die Mitglieder, 28. Juni 1925, S. 102.
3 Rudolf Grosse: Die Weihnachtstagung als Zeitenwende, 2. erw. Aufl. 2013, S. 139f.
4 Vgl. Peter Selg: Rudolf Steiner. Zur Gestalt eines geistigen Lehrers, Dornach 2. Aufl. 2010, S. 17f.
5 »Das ist das Eigentümliche, das bei einer solchen Bewegung, die auf einer okkulten Grundlage beruht, notwendig macht, nicht nur zu achten auf das, was im abstrakten Sinn das Richtige ist, und das einfach zu verkündigen in jeder beliebigen Weise; sondern es ist notwendig, es in einer gesunden Weise zu verkündigen und in ehrlichster Weise darauf zu achten, dass nicht um der Popularität willen die Sache so verkündet wird, dass sie in ihrer Verkündigung zugleich zum Schaden gereichen könne. In der Anthroposophie kommt es nicht bloß darauf an, dass die entsprechenden Wahrheiten in Büchern und in Reden mitgeteilt werden, sondern es kommt darauf an, wie sie geschrieben und wie sie mitgeteilt werden.« Steiner, Rudolf: Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen?, Vortrag vom 20. März 1913, GA 145, Dornach 1986, S. 23f.
6 Helmut Zander: Rudolf Steiner. Die Biografie, München, Zürich 2011, S. 236f.
7 Juliane Weibring, Frauen um Rudolf Steiner. Im Zentrum seines Lebens – Im Schatten seines Wirkens, Oberhausen 1997, S. 129.
Vgl. auch Günter W. Steppuhn: Rudolf Steiner und die Frauen, in: Novalis 5/1998, S. 60 sowie den Bestellbrief in Rudolf Steiner, Edith Maryon: Briefwechsel, GA 263a, Dornach 1990, S. 280.
Dr. Jörg Ewertowski, geboren 1957, Leiter der Rudolf Steiner Bibliothek Stuttgart