Stärkung des Wahrheitsempfindens

AutorIn: Claudine Nierth

In seinem Roman 1984 schrieb George Orwell: »Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.« Stimmt das? Ist das wirklich so? Bleibt die Unwahrheit nicht doch immer unwahr, nur der Glaube an sie versucht sie zur Wahrheit zu machen? Belügt mich mein Kind, betrügt mich mein Partner, spricht der Kollege ehrlich und sagt der Politiker die Wahrheit? Detektive und Faktenchecker haben heute Hochkonjunktur! Merken wir noch, wie oft wir im Alltag prüfen, ob unsere Umgebung wahrhaftig ist? Ständig! Es gehört gewissermaßen zu unserem Orientierungsgefühl dazu, dass unsere Wahrnehmungen »echt« sind.
Einen inneren Sensor für Wahrhaftigkeit zu entwickeln ist heute sicher eine der ­wesentlichen Kompetenzen, die wir brauchen. Wir brauchen eine Fähigkeit, die erkennt, ob Dinge um uns ­herum wahrhaftig sind. Wir brauchen ein Gefühl, das uns signalisiert, ob etwas stimmig und in Übereinstimmung ist. Das Gefühl, welches uns signalisiert, dass etwas wahrhaftig ist, stärkt uns und macht möglich, dass wir uns einbringen, weil wir uns »anvertrauen«, während wir uns bei der Empfindung von Unwahrhaftigem zurückziehen. Misstrauen ist emotional eine Irritation, die verunsichert und uns innerlich auf Abstand – und damit in die Trennung und Unverbundenheit – gehen lässt. Gerade in der Politik wird unser Wahrheitssinn ständig gefordert und auf die Probe gestellt: Glauben wir, was wir hören? Stimmt das, was gesagt wird? Kann ich vertrauen? Und wie sehr misstrauen wir und gehen auf Abstand – in unseren Beziehungen, in unserer Berufsumwelt oder politisch?

Pädagogen wissen, wie wichtig für die Entwick­lung eines gesunden Wahrheitssinns die sen­so­ri­sche Begegnung mit authentischen Dingen gerade in den frühen Lebensjahren des Kindes ist. Für die kindliche Entwicklung ist es förderlich, wenn sich Wahrnehmungen an originären Sinnesreizen bilden können. Es macht für die Entwicklung des Geschmackssinns einen Unterschied, ob es um eine natürliche Erdbeere oder nur ein künstliches Erdbeeraroma geht. Für den Tastsinn ist es förderlicher, auf echtem Holzfußboden zu spielen, statt auf einem Holz­imitat. Aus der Sprachentwicklungsforschung ist bekannt, dass Kinder das Sprechen nicht über die elektro­nische Wiedergabe von Stimme und ­Sprache lernen, sondern nur durch reale akustische Stimmen im Raum. Das lässt die Vermutung zu, dass Kinder bereits mit einem sehr feinen Wahrheitssinn auf die Welt kommen. Und es ist kaum auszumalen, was es für Kinder heute bedeutet, zunehmend in digitalen Erfahrungswelten heranzuwachsen.

Ob wir in unserer frühen Kindheit also ­reale, authentische Sinneserfahrungen machen, hat einen erheblichen Einfluss auf unser späteres Wahrheitsempfinden. In einer Zeit, in der wir es immer mehr mit einer optisch gefilterten, ­»gefaketen« Welt zu tun haben, ist das vermutlich noch von größerer Bedeutung. Denn das Wahrheitsempfinden gibt uns Menschen Sicherheit. Wir orientieren uns an dem, was für uns real ist! Dies gilt insbesondere auch für die sozialen Zusammenhänge. Wenn wir hier wahrnehmen, dass irgendetwas »nicht stimmt«, auch wenn wir vielleicht nicht sofort benennen können, was es ist, so können wir doch bemerken, wie sehr es uns verunsichern und unser Verhalten erheblich beeinflussen kann.

Und wie fördern wir bewusst unseren Wahrheitssinn im Alltag? Durch Konzentration und Verlangsamung in der Wahrnehmung! Wenn Sie zum Beispiel etwas riechen, was Ihnen bekannt vorkommt, was machen Sie dann? Genau, Sie konzentrieren sich verstärkt auf das Riechen, verlangsamen Ihre Bewegungen, blenden alles andere um Sie herum aus und suchen schnuppernd so lange, bis Sie erkannt haben, was Sie riechen oder woran es Sie erinnert. In dem ­Moment, in dem Sie die Antwort gefunden haben, haben Sie ein erleichterndes Evidenzgefühl von Stimmigkeit. Ganze Seminare können mit Tools zur Schärfung der Sinne gefüllt werden. Sie schärfen alle das Empfinden für Echtheit und differenzieren die eigene Wahrnehmungsfähigkeit aus. Der Sinn für Wahrheit wird geschärft. Welch wunderbare Wortverwandtschaft! Natürlich erübrigt sich damit nicht die Suche nach Quellen, Belegen und Beweisen, die wir rational immer fordern. Aber die sinnlich-emotionale Stärkung unseres Wahrheitsempfindens unterstützt eben unsere Urteilsfähigkeit.

In Momenten, in denen der Zweifel ­unseren Sinn für Wahrheit streift, setzen wir alles daran, unsere Wahrnehmung zu stärken, um entweder die Lüge aufzudecken oder den Zweifel auszuräumen. Wir streben ständig nach Wahrheit, und wird diese zu oft durch Lüge enttäuscht, entstehen Zweifel, Misstrauen, Distanzen und Spaltung. Ist das Evidenzgefühl gestört, bekommt unsere Beziehung zum Umfeld Risse und wir drohen in Trennung und Vereinzelung zu fallen. Am Ende »glauben« wir nichts und niemandem mehr. Gesellschaftlich führt das zum Rückzug.

Politisch geht mit dem Sinn für Wahrheit auch der Anspruch auf Wahrheit einher. Ein ausgeprägtes Wahrheitsempfinden unterstützt die Fähigkeit, Entscheidungen fällen zu können. In unserer Urteilsfindung folgen wir dem, was wir als wahr, als übereinstimmend erachten. Dazu führt auch das Bedürfnis nach einem transparenten Umgang mit Informationen ohne jegliche Zurückhaltung. Deshalb ist es für die Bürger oft ein Bedürfnis, in die öffentlichen Belange und damit in die vorhandenen Fakten einsehen zu können. Alle Informationen, Fakten und Vorgänge, die unser politisches, rechtliches Leben betreffen, müssen für die Menschen zugänglich sein, um sich im Zweifel selbst ein Bild machen zu können. Aus unterdrückter oder zurückgehaltener Wahrheit entstehen Misstrauen, Missverständnisse und viele Konflikte bis hin zu Kriegen.

Bekannt und durch zahlreiche Studien immer wieder belegt ist aber auch die Tatsache, dass wir meist nur jene Informationen und ­Fakten suchen und aufnehmen, die das bestätigen, was bereits unsere Meinung und Haltung ist. Man spricht vom »Bestätigungsfehler« oder auch confirmation bias. Da liegt das eigentliche Problem! Unsere Urteilskompetenz wird stärker, wenn wir auch das sehen zu können, was wir mitunter nicht sehen wollen: die andere ­Seite! Und der müssen wir uns bewusst und sorgfältig mit der größten Unvoreingenommenheit zuwenden. Diese innere Beweglichkeit hilft, festgefahrene Meinungsmuster aufzulösen.

Sich zur Kritik verleiten zu lassen, fällt uns dabei oft leichter, als etwas Positives zu erkennen. Wer vor allem Urteil auch etwas Positives findet, kann seine Urteilsfähigkeit weiten. Sind wir dann in der Lage, beides sehen zu können, werden wir beweglicher, offener, selbstkritischer, präziser und gründlicher in unserem Urteil. Je mehr wir in eine Sache verstrickt sind, desto weniger sind wir bereit, auch das Positive zu erkennen. Je mehr wir allerdings in der Lage sind, gerade an dem, was wir am meisten verurteilen, auch etwas Positives zu entdecken, desto leichter können wir uns eine Übersicht erringen, die für eine Entscheidungsfindung viel hilfreicher ist.

Diese Fähigkeit muss geübt werden, erst dann kann man sie anwenden. Was auch immer geschieht und auf Sie einwirkt, versuchen Sie zuallererst das Positive darin zu erkennen. Egal wer Ihnen gegenübersitzt, was immer der- oder diejenige sagt oder beiträgt, egal in welchem unan­genehmen oder angenehmen Raum Sie sich be­finden – was immer Ihre Aufmerksamkeit erregt, erinnern Sie sich zuerst daran, etwas Positives ausfindig zu machen. Man kann es auch mit den Worten des US-Philosophen Ralph Waldo Emerson sagen: »Das Glück deines Lebens hängt von der Beschaffenheit deiner Gedanken ab.«

 

Claudine Nierth, geboren 1967, Facilitatorin,  Künstlerin, Politaktivistin, Raa-Besenbek