Ursprung Zukunft – 100 Jahre Weihnachtstagung Tagungs-Rückblick

AutorIn: Isabel Chotsourian-Becker

Wo beginnt Zukunft? Wie kommt man aus alt gewordenen, nicht mehr zu gebrauchenden Strukturen heraus und schafft ­einen Sprung in das Neue? — Diese Frage, unter anderen, bewegte Rudolf Steiner im Jahr 1923 nach dem Brand des ersten Goetheanums. Zehn Jahre lang wurde an dem ersten Bau gearbeitet, hauptsächlich durch ehrenamtliche handwerkliche Arbeit von Menschen aus vielen Nationen. Der Bau war aus Liebe für die Anthroposophie gemacht, aus Holz, und jede Ecke war mit künstlerischem und geistigem Sinn gestaltet. In der Silvesternacht 1922/1923 war durch Brandstiftung der große Bau zerstört, und dies war auch für Rudolf Steiner unerwartet und ein großes Leid. Kann es mit dem Leben der Anthro­posophie überhaupt weitergehen? Am nächsten Morgen ging es tatsächlich mit Vorträgen und Weihnachtsspielen weiter, aber diese Frage blieb trotzdem unbeantwortet. Es bedeutete für ihn ein geistiges Ringen bis zum Ende des Jahres, als er sich letztendlich entschloss, selber die Verantwortung für die gesamte anthroposophische Bewegung zu übernehmen und so die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft mit ihren Sektionen gegründet hat.

Im Hinblick auf diese Ereignisse vor 100 Jahren hat sich vor zwei Jahren eine Gruppe aus jungen und älteren Erwachsenen frei zusammengeschlossen, um das Thema des Brandes zu erforschen und daraus eine Tagung zu gestalten. Dass die Tagung eine Zusammenarbeit der Christengemeinschaft und der Anthroposophischen Gesellschaft sein würde, ergab sich auf natürliche Weise durch die freie Verbindung der Vorbereiter zu beiden Bewegungen. Der Impuls kam von Alexandra Handwerk und einer Gruppe junger Menschen bei der Impuls-Tagung für junge Erwachsene in der Christengemeinschaft. Christoph Handwerk war bei der Vorbereitung auch dabei, und Erzoberlenker i.R. Vicke von
Behr stieß als Mitgestalter der Tagung hinzu, also gab es zwei Priester im Vorbereitungskreis. Die Brand-Tagung stieß auf viel Resonanz und hatte positive Auswirkungen, sodass die Gruppe beschloss, 2023 mit dem Thema der Weihnachts­tagung fortzusetzen. Vorbereitet wurde die Weih­nachtstagung außerdem von Anna-Lucia Forck, Johann Schmiedehausen, Merit Brinks, Nina Wedemeyer und Isabel Chotsourian-Becker.

Was kommt nach der Asche? Wie war der Weg vom Brand bis zur Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924? Welches Ringen war damit verbunden? In der Vorbereitung haben wir versucht, diesem Weg nachzuspüren und die Schritte mitzudenken, die in diesem Ereignis mündeten. Ein Sprung, der zu einem Ursprung wurde vom Impuls der Anthroposophie, gesundend für Welt und Menschheit Früchte zu tragen. Keine Geheimgesellschaft mehr, sondern die »volle Öffentlichkeit«1. Es war ein Sprung von den alten Mysterien, in denen esoterisches Wissen nur ausgewählten vorbereiteten Schülern in schützender Abgeschiedenheit und durch einen eingeweihten Lehrer weiter­gegeben wurde (und in denen auf Mysterienverrat die Todesstrafe folgte) zu den neuen Mysterien des Michaelzeitalters. Jetzt geht es um Taten, um eine mutvolle Auseinandersetzung mit der Welt bis in den Alltag hinein. Anthroposophie kann Beruf werden! Und alles, was man im Leben tut, kann man aus dieser Gesinnung heraus verwandeln und verwirklichen. Der Arbeitstisch wird zum Altar, und so auch die eigene Seele.

Was die Weihnachtstagung selber war, wurde uns immer mehr ein Rätsel, je mehr wir uns damit beschäftigt haben. Zentral war für uns die Frage nach den alten und den neuen Mysterien, die Frage nach den Auferstehungskräften in unserer Zeit, in der wir so viel Dunkelheit erleben, und nach dem inneren Licht, dem inneren Wesenskern des Menschen. Was verleiht uns trotz aller Widrigkeiten die Kraft, weiterzugehen und in der Welt aufrecht zu stehen? »Das Ich ist der Reichtum inmitten der Armut; es ist das Interesse, wenn alles um uns herum sich langweilt. Es ist die Hoffnung, auch wenn alle objektiven Chancen zu hoffen verschwunden sind … das, was uns übrig bleibt, wenn uns alles andere entzogen ist, wenn uns gar nichts mehr von außen zukommt und unsere Kräfte doch genügend groß sind, um diese Leere zu überwinden.«2

Die Tagung Ursprung Zukunft fand nun vom 27. bis zum 31. Dezember 2023 in Stuttgart statt, mit ungefähr 80 Teilnehmern im Alter von 15 bis 90 Jahren. Ein Drittel der Teilnehmenden waren Menschen unter 30 Jahren, und es gab 5 kleine Kinder von 0 bis 4, die dank einer Kinderbetreuung den Eltern die Teilnahme an der Tagung ermöglichten.

Schon bei der Gestaltung der Brand-Tagung 2022 war klar: Wir wollen keine »normale« Tagungen gestalten, sondern etwas Neues versuchen. Wie gestalten wir eine Tagung, bei der der gemeinschaftsbildende Prozess im Zentrum steht? Es müsste ein gemeinsames Erleben sein, kein Frontalunterricht, nach dem man alles weiß, was man über das Thema wissen kann. Es gilt vielmehr, ein Erlebnisfeld anzubieten, auf dem Menschen Zeit haben, sich zu begegnen und miteinander in einen lebendigen Prozess zu kommen. Eine solche Tagung zu versuchen bedeutete für uns Vorbereiter, dass nichts am Plan sicher ist. Ja, am Nachmittag sollte ein Vortrag stattfinden, aber es kann auch sein, dass die Gemeinschaft gerade etwas anderes braucht als zuhören und sitzen. Was machen wir dann? Tanzen! Spazieren! Oder einen Rückblick auf das Erlebte halten? Der Vortrag kann auch eine Stunde später sein, oder?

Gemeinschaftsbildung war das erste Thema aus der Zeit nach dem Goetheanumbrand, von dem wir uns angesprochen fühlten. Ohne Gemeinschaft gibt es keine Zukunft. Selbst der Eingeweihte kann sie heute nicht alleine bewerkstelligen. Eine Gruppe von Menschen ist nötig, die gemeinsam wollen, dass Zukunft entsteht. Ohne Zusammenarbeit gibt es keine christlichen Gemeinden, und auch kein Goetheanum. Dieser gemeinsame Wille war auch eine Bedingung dafür, dass sich die Weihnachtstagung ereignen konnte: gewollte Zusammenarbeit, in Liebe zur Handlung, für ein gemeinsames Ideal. Aus dem Ich heraus müssen die neuen Gemeinschaften entstehen, und dies ist auch in jeder anthroposophischen Einrichtung die entscheidende Basis. »Der Mensch muss mehr werden, als er dem Menschen immer war. Er muss ihm zu ­einem weckenden Wesen werden. Die Menschen müssen sich näherkommen, als sie sich bisher gestanden haben: zu einem weckenden Wesen muss jeder Mensch, der einem andern entgegentritt, werden.«3  

Im Ich erwachen
Im Du erkennen
In der Welt verwirklichen

Dies war unser methodischer Dreischritt, den wir in der Tagung auf unterschiedliche Weise an den drei vollen Tagen geübt haben. Am ersten Tag gab es eine gemeinsame Übung in der Dunkelheit: Jeder durfte in dem stockfinsteren Raum seine Angst, seinen Hass, seine Zweifel aussprechen. Angst, Hass und Zweifel als drei Qualitäten, die immer auftreten, wenn wir etwas Neues in die Welt setzen wollen. Zu unserer Überraschung haben sich fast alle Teilnehmer geäußert, manche auch zweimal. Nach einiger Zeit wurde eine Kerze angezündet und der Grundsteinspruch4 gelesen: »Menschenseele! ...« tönte es erlösend durch den Raum. Anschließend gab es eine Gesprächsübung und einen kulti-schen Abschluss am Altar, bei dem die Worte des Johannesprologs erklungen sind. Wie ein Nachklang der alten Mysterien, die Johannes der Evangelist im antiken Ephesus wahrgenommen hat, klangen die Worte und deuteten auf das Mysterium von Golgatha hin. Am Nachmittag haben alle Teilnehmer eine Mal-Übung zu zweit gemacht, um der Frage nach dem Licht in der Finsternis in der eigenen Seele näher­zukommen. Am Abend erklangen drei Biographien von Menschen, die sich dieses Licht im 20. Jahrhundert auf persönliche Weise errungen haben: Etty Hillesum, Sophie Scholl und Jacques Lusseyran.

Der zweite Tag war der Frage nach den neuen Mysterien gewidmet. Die Frage nach dem Ich stand im Mittelpunkt, und dafür hat Vicke von Behr in seinem Vortrag ein wunderbares Beispiel gebracht, nämlich das der Konfirmation. In den alten Mysterien wurden die Iche geführt, von »lieben Menschen, Eltern und Lehrern«, die die Entwickelung dieses Ichs begleiten und sorgfältig fördern wollten. Nach der Konfirmation wird man in das Leben entlassen. Die Freiheit beginnt sich auszuleben bzw. die Freiheit wird gesucht: Was will ich eigentlich? Der Wille tritt an dieser Stelle notwendigerweise auf, um dieses Neue, dieses Eigentliche zu suchen – nicht mehr aus Tradition, sondern aus einem inneren Impuls heraus. Und jetzt, wo gehen wir hin? – »Immer nach Hause«, würde Novalis sagen.5 Also immer zu unserem Ursprung, der ein geistiger ist. Die Menschenweihehandlung fand erst nach dem Vortrag statt. Der Schwung der neuen Mysterien kann auch ins Erlebnis gebracht werden, indem es heißt: »Lasset uns ...« Lasst uns diese Handlung vollbringen, als ganze Gemeinschaft, als bewusste Menschen, als Suchende auf dem Weg zu unserem Ursprung, der auch in Christus gefunden werden kann.

Die weitere Arbeit erschloss sich an den 12 Tier­kreiszeichen durch Eurythmie und Wort, um die Urbilder einer geistigen Zusammenarbeit zu erforschen. Der Weg von der lodernden Begeisterung (Löwe) bis zu dem im ­Gleichgewicht befindlichen Menschen (Wassermann) kann durch den Willen oder durch das Denken gegangen werden.6 Es ist der Weg von einer Idee, die uns begeistert, zum Augenblick des Vollzugs einer Tat in der Wirklichkeit, bei der wir mit den Tatsachen zurechtkommen müssen und auch die Ver­antwortung dafür tragen. Diese 12 Urbilder lassen sich in einer arbeitenden Gemeinschaft immer wieder erkennen. Jemand hat eine Idee, und entweder kommt es direkt im Willen zur Tat (Stier) oder es fängt eine vernünftige Ernüchterung an (Jungfrau). Wir haben durch eurythmische Übungen dieser zwölf Gebärden die Vielfalt einer Gemeinschaft erleben können. Immer wenn es darum geht, Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen, muss man sich auch mit einer sozialen Wirklichkeit auseinandersetzen. Die Tierkreiszeichen mit ihren Seelenhaltungen waren dafür eine große Erkenntnishilfe.

Am letzten Tag stand eine Waage mit 12 Schalen im Raum, auf die jeder zwei Steine legen konnte. Es war ein kleines Michaelsfest, bei dem jedem das Gewicht seiner Erlebnisse und Schätze auf die Gemeinschaftswaage setzen konnte. Viel Mut hat es in Augenblicken des Ungleich­gewichtes gebraucht, und am Ende war alles mehr oder weniger so, wie unsere Gemeinschaft auch war.

Am Abend ging es mit einem Silvesterfest für einige weiter, um den Übergang ins neue Jahr auf besondere Weise zu feiern. Es gab eine Wortwerkstatt, in der jeder frei verbleiben konnte, um dort Texte oder Gedichte von Erlebnissen des Jahres und Wünsche für die Zukunft zu schreiben. Es gab Spiele und einen unterhaltsamen Teil sowie eine Frageübung: Jemand aus der Gruppe stellt eine Frage und alle anderen stellen Fragen zu dieser Frage. Es ging nicht darum, eine Antwort zu finden, sondern im Fragen Wege zu suchen.

Im Weiheraum der Gemeinde Stuttgart-­Mitte wurde vor Mitternacht eine doppelte ­Spirale (Krebszeichen) aus Kerzen gelegt, die erste Hälf­te bereits angezündet und die zweite Hälfte nicht. Jeder durfte bis zur Mitte laufen und sich einen Wunsch für die Zukunft aus einer Schale holen. Am Ende der Spirale gab es eine große Kerze, aus der man das Licht nehmen konnte, um nach und nach den Zukunftsweg zu ent­zünden. Ein kultischer Abschluss mit Orgelmusik hat um Mitternacht den Übergang ins neue Jahr geleitet.

Ich freue mich sehr, in diesem Vorbereitungskreis dabei sein zu dürfen, bedanke mich für die Zusammenarbeit und freue mich schon auf die nächsten Projekte.


Mehr Informationen gibt es unter: https://100-jahre-anthroposophie.de/

 

1  Rudolf Steiner: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, Dornach 1994.

2  Jacques Lusseyran: Gegen die Verschmutzung des Ich, Stuttgart 2020.

3  Rudolf Steiner: Anthroposophische Gemeinschafts­bildung, GA 257, Dornach 1989, S. 178.

4  Rudolf Steiner: Die Weihnachts­tagung zur Begrün­dung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, Dornach 1994, S. 60f.

 5  Novalis: Heinrich von Ofterdingen, Zweiter Teil: Die Erfüllung.
 6  Rudolf Steiner: Eurythmie als sichtbare Sprache, GA279, Dornach 1990, 10. Vortrag.

 

Isabel Chotsourian-Becker,
geboren 2000, ehem. Priester­seminaristin, Mutter, Stuttgart