Kreationismus und Evolution

AutorIn: Michael Bruhn

Wie alt ist die Welt? Knapp 6.000 Jahre, wie es sich aus den biblischen Alters- und Zeitangaben ausrechnen ließe? Oder Milliarden von Jahren, wie diverse naturwissenschaftliche Methoden ergeben? Sind alle Lebewesen, so wie sie heute sind, unveränderlich von Gott geschaffen oder haben sie sich entwickelt? Ist die Evo­lution einfach »Gottes Methode«, und die Schöpfungstage der Genesis stehen, wie andere biblische Zeitangaben, jeweils für lange Zeit­räume? Hat Gott die Fossilien von Wasserlebewesen mit Absicht im Gebirge versteckt, um ­unseren Glauben zu prüfen? Oder stammen sie alle von der biblischen Sintflut?
Willkommen in der Fragenwelt des Kreationismus! Hier lehnt man Evolutionstheorie und physikalische Kosmologie entweder ganz ab (»Kurzzeitkreationismus«) oder will sie mit den biblischen Erzählungen harmonisieren (»Langzeitkreationismus«). Und zwischen diesen Richtungen gibt es natürlich, wie könnte es anders sein, auch Streit! Im deutschen Sprachraum ­begegnet uns wenig davon. In angelsächsischen Ländern, in denen ein wissenschaftlich be­grün­deter Atheismus sehr viel aggressiver antireligiös auftritt, schon eher. Und am meisten natürlich in den USA, wo weite Teile der »reli­giösen Rechten« die Wissenschaft gänzlich ablehnen und entweder ihre Kinder vom öffentlichen Schulunterricht fernhalten oder sich politisch und ­gerichtlich bemühen, einen wissenschaftlich angehauchten Kreationismus bis in den Biologie­unterricht hinein zu lancieren.
Nach meinem Erleben gibt es inzwischen im Denken religiös engagierter Menschen in Mitteleuropa eine Art wenig hinterfragte Koexistenz zwischen Glauben und Wissenschaft. Die wissenschaftlichen Theorien werden akzeptiert, mit der Einschränkung, dass es »einen Sinn« oder »etwas Höheres« doch geben müsse. Der evangelische Theologe und von den Nazis ermordete deutsche Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer hatte davor gewarnt, Gott in den ­Lücken der Naturwissenschaft zu suchen:

In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein. Das gilt für das Verhältnis von Gott und wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber es gilt auch für die allgemein menschlichen Fragen von Tod, Leiden und Schuld. Es ist heute so, dass es auch für diese ­Fragen menschliche Antworten gibt, die von Gott ganz absehen können. Menschen werden faktisch – und so war es zu allen Zeiten – auch ohne Gott mit diesen Fragen fertig, und es ist einfach nicht wahr, dass nur das Christentum eine Lösung für sie ­hätte. Was den Begriff der »Lösung« angeht, so sind vielmehr die christlichen Antworten ebenso wenig – (oder ebenso gut) – zwingend wie andere mögliche Lösungen. Gott ist kein Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden; im ­Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden. Der Grund dafür liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens. Von der Mitte des Lebens aus fallen gewisse Fragen überhaupt aus und ebenso die Antworten auf solche Fragen.1

Wäre Gott nur ein Lückenbüßer, so müsste er immer kleiner werden, je mehr die wissenschaftlichen Lücken sich schließen. Und doch bleibt ein Unbehagen, wenn von Wissenschaftlern – oder meistens eher von Journalisten und anderen Autoren – so etwas wie die Freiheit des menschlichen ­Willens allzu sehr angezweifelt wird. Wenn jemand das menschliche Ich, die ­eigene Individualität für eine reine Illusion hält und statt »ich denke« schreibt: »mein Gehirn denkt« – wer schreibt das dann eigentlich? Ein denkendes Wesen oder nur ein »Etwas«, das ­eigentlich eine reine Illusion ist? Wir stoßen dann an die Denk-Grenzen des naturwissenschaftlichen Determinismus. Und tatsächlich gehört genau dies auch zu den Gründungsfragen unserer Christengemeinschaft: Wie kann denn in einer Welt von Ursache und Wirkung so etwas wie eine ethische Einstellung, so etwas wie Religion, so etwas wie ein Gebet eine Wirkung haben?
Nun hat ja zum Glück die Quantenphysik den strengen Determinismus von Ursache und Wirkung etwas aufgeweicht und durch statistische Wahrscheinlichkeiten ersetzt. Und die Entstehung des Universums, die Entstehung der Materie, die Entstehung des Lebens und die Entstehung des Bewusstseins sind wissenschaftlich weiterhin ungeklärt. Aber genügt uns das, um von der Wirksamkeit eines Gebetes überzeugt zu sein?
Ich persönlich bin sicher, dass es eine geistige Wesensebene und geistige Wesen gibt. Ich kann mir meine Individualität nicht wegdenken und halte jede Individualität für ewig, den Tod überdauernd. Und ich bin überzeugt, dass es auch Kommunikation auf geistiger Ebene gibt. Dass eine gute Idee, die mir kommt, nicht von mir stammen muss. Dass sie auch von einem Engelwesen oder einem Verstorbenen kommen kann. Aber wo genau die Schnittstelle zwischen Geist und Materie ist, mithilfe welcher physikalisch-biologischen Vorgänge ein Engel mir einen Gedanken eingeben kann, so dass ich ihn empfange und weiter entwickle, das weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass diese Schnittstelle nicht in meinem physischen Leib zu suchen ist, sondern im Übergang zum Lebendigen und im Bereich des Ahnens. Dabei bin ich überzeugt, dass ein Teil dieser Vorgänge sich gar nicht in meinem Gehirn abspielt und dass mein Gehirn zwar ein äußerst nützliches Werkzeug ist, aber keineswegs Gedanken und Ideen produziert, sondern nur bei deren Empfang und Verarbeitung behilflich ist.
Gebete und Meditationen halte ich für wichtig, um den nicht-physischen Anteil unseres Denkens zu erleben und zu erweitern. Und anthro­posophische Begriffe können helfen, die verschiedenen Ebenen von physischer, lebendiger, seelischer und geistiger Existenz zu verstehen und zu unterscheiden. Genauso hilfreich ist das Staunen über die Einheit und die Vielfalt der Natur und des Kosmos. Und dieses Staunen wiederum ist der Ursprung der Naturwissenschaft. Die gilt es zu erweitern, nicht abzulehnen. Krea­tionismus ist für mich keine Option. Aber das Evolutionsprinzip auf allen Ebenen zu finden, im Leben, im Fühlen und im Denken, das ist die einzige Option, die wirklich weiterführt.

Was den Ursprung der Welt, der Materie, des Lebens und des Bewusstseins angeht, und das Ziel der ganzen Entwicklung, so komme ich mit etwas Nachdenken darauf, dass ich mit drei Mythologien lebe, die ich immer wieder versuche, miteinander in Einklang zu bringen:
1. die biblische Mythologie aus dem Buch Genesis mit den beiden separaten Erzählungen von den Schöpfungstagen und vom Paradies, aber auch aus dem »Schöpfungspsalm« 1042 und anderen biblischen Quellen, mit dem Ziel eines Neuen Himmels und einer Neuen Erde.
2. die wissenschaftliche Mythologie, mit dem Ur­knall, einem sich ausdehnenden Universum und sich immer wieder ändernden Theorien darüber, wo das ganze am Ende hinführen könnte.
Und 3. die anthroposophische Mythologie, v.a. aus Rudolf Steiners Geheimwissenschaft im Um­­riss, die von sieben aufeinanderfolgenden Ver­körperungen unseres Universums ausgeht, in deren Mitte wir uns befinden und deren Ziel in einer stetigen Weiterentwicklung, Individuali­sie­rung und Vervollkommnung für uns Menschen und alle anderen Wesen dieser Welt liegt. Sie merken sicher, dass ich das Wort Mythologie hier ganz wertfrei zu benutzen versuche. Alle drei Mythologien haben gemeinsam, dass sie von ­einem Anfang ausgehen, vor den man nicht ­zurückfragen kann, weil es davor so etwas wie Zeit nicht gab. Gemeinsam haben sie auch, dass sie nicht von ewigen Kreisläufen sprechen, ­sondern zielgerichtet denken. Was aber das
Ziel ­betrifft, haben sie einen unterschiedlichen Fokus: Die biblische Mythologie reicht, anthroposophisch betrachtet »nur« bis zur nächsten Verkörperung unseres Universums, dem »neuen Jupiter« bzw. »neuen Jerusalem«. Die Zukunftstheorien der wissenschaftlichen Mythologie wandeln sich im Laufe der Zeit, greifen aber noch kürzer: Vor hundert Jahren wurde allgemein angenommen, alle Energie würde sich nach und nach gleichmäßig verteilen, so dass am Ende der »Wärmetod« eintreten würde; das sollte keineswegs etwas Warmes, sondern etwas ziemlich Kaltes sein, denn bei einer sehr nied­rigen und im ganzen Universum gleichen Temperatur würde dann alles erstarren und zum Stillstand kommen. Heute, so habe ich mir von einem Physiker erklären lassen, gibt es neben einer Vielzahl weiterer Theorien zwei unterschiedliche Hauptdenkrichtungen: Entweder das Universum dehnt sich unendlich weiter aus und verdünnt sich so, dass auch alles zum Stillstand kommt, oder es zieht sich nach maximaler Ausdehnung wieder in einen Punkt zu einem neuen Urknall zusammen. Womit dann doch wieder so etwas wie ein ewiger Kreislauf gedacht würde. Wenn aber Wissenschaftler ehrlich sind und ihr Metier ernst nehmen, dann betonen sie auch immer, dass das Allermeiste noch nicht erforscht ist und jede Theorie nur so lange bestehen kann, bis sie widerlegt oder weiterentwickelt wird.

Wenn wir nun wieder zu dem Teilbereich dieser Überlegungen zurückkehren, der von Evolu­tion und Schöpfung handelt, dann kann ich auch nur wieder betonen, dass mir niemand das ­eigene Denken abnimmt, weder die Bibel noch die Wissenschaft noch deren Erweiterung durch Anthroposophie. Wiederum lebe ich mit den genannten drei Bilderwelten und versuche, sie in Einklang zu bringen. Ich sehe überall ­Evolution, Verwandlung, Veränderung. Und das Hilfreichste ist hier für mich der anthroposophische Gedanke, dass wir Menschen die Lebewesen sind, die am wenigsten spezialisiert und am flexibelsten geblieben sind, wir sind wie die Zusammenfassung aller einseitig spe­ziali­sierten Wesen der Natur. So haben wir uns einen für uns geeigneten physischen Leib vorbereitet, indem wir länger als die Pflanzen und Tiere in der geistigen Welt »abgewartet« haben mit der Annahme eines physischen Leibes. Die ganze Evolution haben wir begleitet und sind dann als letzte in unsere Erdenleiber »eingezogen«. So ungefähr stelle ich mir das vor und sehe darin keinen Widerspruch zu den beiden biblischen Schöpfungserzählungen und zur Wissenschaft. Aber es bleiben natürlich auch bei dieser Sichtweise unzählige Einzelfragen offen, die zu erforschen wären.

Zum Schluss füge ich noch hinzu, dass es für mich noch eine vierte Bilderwelt gibt, sehr knapp zusammengefasst, die den ganzen Evolutionsvorgang auf allen Ebenen umspannt, und das ist das christliche Credo. In der Form, die wir in der Christengemeinschaft verwenden, wird das besonders deutlich. Es beginnt mit der Verdichtung des Geistes zur Materie durch ein ­geistig-physisches Gotteswesen als Daseinsgrund, beschreibt die Rolle des Christus als Begleiter der menschlichen Entwicklung und den heilenden Geist, der durch ihn wirken kann. Nach der Beschreibung des Mysteriums von Golgatha mit Tod und Auferstehung als Dreh- und Angelpunkt der ganzen Evolution wendet es sich der dadurch ermöglichten neuen Verbindung von Himmel und Erde zu und dann der Zukunft. Es spricht vom »Tod der Materie«, also dem Ende unseres jetzigen Universums, und von der Frage, wer diejenigen sein werden, die durch ihr Verhalten nicht mit der Materie mitsterben, sondern sich diesem Tode entreißen lassen und an der weiteren Weltevolution mitarbeiten. Der Sinn dieser weiteren Arbeit wird in Form einer dreifachen Hoffnung ans Ende gestellt: Überwindung der Trennung zwischen göttlicher und menschlicher Welt (»Sündenkrankheit«), Fortbestand und damit Weiterentwicklung unseres Wesens und unsere Lebensbestimmung zur Ewigkeit – und damit über die nächste Stufe unserer Erdenwelt hinaus.

 

1  Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, S. 454f.

2  Vgl. hierzu meinen Beitrag: Gottesteilchen oder Teil Gottes? Eine poetische Schöpfungsgeschichte: der Psalm 104, in Heft 12/2012.

Michael Bruhn, ­geboren 1959, Priester, Zürich